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Anmerkung zu:BVerfG 1. Senat 1. Kammer, Nichtannahmebeschluss vom 28.09.2023 - 1 BvR 1740/23
Autor:Dr. Mark Lerach, RiLG
Erscheinungsdatum:25.01.2024
Quelle:juris Logo
Normen:Art 20 GG, Art 3 GG, § 93c BVerfGG, Art 93 GG, § 13 BVerfGG, § 32 BVerfGG, § 40 BVerfGGO 2015, § 23 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 945 ZPO, Art 101 GG, § 944 ZPO, Art 103 GG, § 707 ZPO, § 936 ZPO, § 924 ZPO, Art 90 GG, § 90 BVerfGG, § 922 ZPO
Fundstelle:jurisPR-WettbR 1/2024 Anm. 1
Herausgeber:Jörn Feddersen, RiBGH
Zitiervorschlag:Lerach, jurisPR-WettbR 1/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Prozessuale Waffengleichheit im Lauterkeitsrecht - Matratzenwerbung



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Die vom BVerfG zur Handhabung der prozessualen Waffengleichheit und des rechtlichen Gehörs im Presse- und Äußerungsrecht entwickelten Maßstäbe lassen sich auf Verfahren der einstweiligen Verfügung im Lauterkeitsrecht angesichts unterschiedlicher Ausgangssituationen nicht pauschal übertragen.
2. Ein Interesse an der Feststellung eines Waffengleichheitsverstoßes fehlt jedenfalls dann, wenn sich die Abweichungen zwischen dem außergerichtlich geltend gemachten Unterlassungsverlangen und dem gestellten Verfügungsantrag in der Sache als geringfügig darstellen, weil das mit dem Verfügungsantrag beantragte und schließlich mit der angegriffenen Beschlussverfügung tenorierte Verbot als „Minus“ bereits in dem außergerichtlichen Unterlassungsverlangen enthalten war.



A.
Problemstellung
Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit verlangt, dass Gerichte beiden Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbstständig geltend zu machen. Das BVerfG leitet das grundrechtsgleiche Recht auf prozessuale Waffengleichheit sowohl aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG als auch aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ab. In zwei Beschlüssen vom 30.09.2018, die erstmals Verletzungen des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit durch den Erlass einstweiliger Verfügungen im Presse- und Äußerungsrecht ohne vorherige Anhörung des Antragsgegners feststellten (1 BvR 1783/17 und 1 BvR 2421/17), sah das BVerfG die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG i.V.m. § 93a Abs. 2 BVerfGG als erfüllt an. Denn die für die Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Rechtsfragen habe es bereits entschieden (BVerfG, Beschl. v. 30.09.2018 - 1 BvR 2421/17 Rn. 22, 26). Die Sachentscheidungsbefugnis der Kammer setzt zwingend voraus, dass die verfassungsrechtliche Frage bereits durch Senatsentscheidung(en) des BVerfG geklärt ist (Nettersheim in: Barczak, BVerfGG, 1. Aufl. 2018, § 93c Rn. 5). Mehr als fünf Jahre später sind bislang 37 (veröffentlichte) Entscheidungen des BVerfG in Verfassungsbeschwerde- und/oder einstweiligen Anordnungsverfahren ergangen, die sich unter dem Gesichtspunkt prozessualer Waffengleichheit unmittelbar gegen einstweilige Verfügungen richten, acht allein im Jahr 2023. Diese Fülle von Entscheidungen – mit teils divergierenden Anwendungsmaßstäben für die zwischenzeitlich etablierten Kriterien von Waffengleichheitsverstößen – wirft die Frage auf, ob die maßgeblichen Rechtsfragen tatsächlich als hinreichend geklärt betrachtet werden können.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Dem Nichtannahmebeschluss des BVerfG liegt ein Verfahren der einstweiligen Verfügung im Lauterkeitsrecht zugrunde. Der Antragsteller mahnte einen Wettbewerber unter Fristsetzung von einer Woche ab, weil dieser beim Vertrieb von Matratzen irreführend mit einem Testsieg, Testergebnis oder Testsiegel eines anderen Modells geworben habe. Das Unterlassungsbegehren war darauf gerichtet, es zu unterlassen, „geschäftlich handelnd für Matratzen mit einem Testsieg, Testergebnis oder Testsiegel von […] zu werben“. Der Antragsgegner meldete sich am Tag des Fristablaufs, räumte ein, dass ein durchgeführter Testkauf nicht das im Test prämierte, sondern ein anderes Modell betroffen habe, das getestete Modell aber weiterhin im Sortiment geführt werde und reichte eine Schutzschrift zum Zentralen Schutzschriftenregister ein. Drei Tage später stellte der Antragsteller Verfügungsantrag bei Gericht, mit dem Begehren, dem Antragsgegner zu untersagen, „geschäftlich handelnd für Matratzen mit einem Testsieg, Testergebnis oder Testsiegel von […] zu werben, wenn die als getestet beworbene Matratze nach dem Test verändert wurde“.
Der Antrag konkretisierte das Unterlassungsverlangen durch dieselben Bildschirmfotografien wie bereits in der Abmahnung. Allerdings war der Verfügungsantrag eingehender begründet, enthielt weitere Anlagen sowie die Erwiderung auf die Abmahnung. Die Kammer für Handelssachen erließ durch den Vorsitzenden anstelle der Kammer weitere fünf Tage später die beantragte einstweilige Verfügung mit identischem Beschlusstenor ohne vorangegangene mündliche Verhandlung oder Anhörung des Antragsgegners, aber in Kenntnis der Schutzschrift. Der Antragsgegner legte Widerspruch ein, erhob noch vor dessen Begründung Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG) und stellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG).
II. Das BVerfG nimmt die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, wodurch der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos wird (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG). Der Nichtannahmebeschluss ergeht nur 30 Tage nach Einlegung der Verfassungsbeschwerde.
1. Das tenorierte Unterlassungsgebot trage dem vorgerichtlichen Verteidigungsvorbringen des Antragsgegners Rechnung, indem es sich auf solche Matratzen beschränke, die tatsächlich verändert wurden, sich aber – anders als die Abmahnung – nicht mehr auf gegenüber dem Testsiegermodell unveränderte Matratzen erstrecke. Ob diese Abweichung zwischen Abmahnung und Verfügungsantrag/Beschlussverfügung eine Anhörung des Antragsgegners vor Erlass erforderlich gemacht habe und verfahrensfehlerhaft unterblieben sei, könne dahinstehen. Denn jedenfalls sei weder eine Erschöpfung des Rechtswegs noch ein auf Wiederholungsgefahr gestütztes Feststellungsinteresse für eine unmittelbar gegen eine lauterkeitsrechtliche einstweilige Verfügung gerichtete Verfassungsbeschwerde entsprechend den Anforderungen der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG dargetan.
2. Der Antragsgegner argumentiere undifferenziert und selektiv ausschließlich unter Bezugnahme auf in äußerungsrechtlichen Konstellationen ergangene Kammerentscheidungen. Die für äußerungsrechtliche Konstellationen entwickelten Maßstäbe könnten indes nicht pauschal auf Verfahren der einstweiligen Verfügung im Bereich des Lauterkeitsrechts Anwendung finden. Vielmehr bedürfte es im Einzelfall der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Ausgangssituationen und mit den vom BVerfG in mehreren Entscheidungen herausgearbeiteten Einschränkungen. An einem Feststellungsinteresse fehle es jedenfalls dann, wenn sich die Abweichungen zwischen dem außergerichtlich geltend gemachten Unterlassungsverlangen und dem gestellten Verfügungsantrag in der Sache als geringfügig darstellen, weil das mit dem Verfügungsantrag beantragte und schließlich mit der angegriffenen Beschlussverfügung tenorierte Verbot als „Minus“ bereits in dem außergerichtlichen Unterlassungsverlangen enthalten ist. So bezog sich im Streitfall das beantragte und tenorierte Verbot nur noch auf Werbung mit dem Testsiegel für gegenüber dem Test veränderte Matratzen, während das Unterlassungsbegehren aus der Abmahnung sich noch auf alle vom Antragsgegner vertriebene Matratzen erstreckt hatte.
3. Für die substantiierte Darlegung einer Wiederholungsgefahr reiche es nicht aus, bloß auf frühere Entscheidungen derselben Kammer des Landgerichts Bezug zu nehmen, ohne die Umstände, unter denen diese ergangen sind, näher darzutun. Für ein Einschreiten des BVerfG vor Erschöpfung des Rechtswegs fehle es auch an der Darlegung eines schweren Nachteils, der durch die Schadensersatzpflicht nach § 945 ZPO nicht aufgefangen werden könnte. Dem Schutz des Antragsgegners im Verfahren der einstweiligen Verfügung werde systemimmanent durch die verschuldensunabhängige Schadensersatzpflicht gemäß § 945 ZPO Rechnung getragen. Anders als etwa im Fall einer untersagten Presseveröffentlichung dürfte diese Kompensationsmöglichkeit in lauterkeitsrechtlichen Fällen regelmäßig in Betracht kommen. Dafür, dass der Antragsgegner einen durch die Schadensersatzpflicht gemäß § 945 ZPO nicht ausgleichbaren Nachteil erlitte, wenn er das auf die veränderten Matratzen beschränkte Werbeverbot bis zur Entscheidung über ihren Widerspruch befolgte, sei nichts vorgetragen oder ersichtlich, da nach eigenem Vortrag des Antragsgegners die einzige gegenüber dem Testsiegermodell veränderte Charge Matratzen bereits aus dem Vertrieb genommen sei.
4. Mit der Rüge eines Verstoßes gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) dringe die Verfassungsbeschwerde nicht durch, da sie nicht darlege, inwiefern unter den Gegebenheiten der Kammer für Handelssachen eine Beschlussfassung in voller Besetzung mit den Handelsrichtern am dritten Arbeitstag nach Antragstellung möglich gewesen sein sollte, so dass eine fehlerhafte Anwendung von § 944 ZPO nicht ersichtlich sei. Die Vorlage dreier weiterer, durch den Vorsitzenden allein erlassener einstweiliger Verfügungen belege weder eine Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters noch eine systematische, keinem fachgerichtlichen Rechtsbehelf zugängliche Praxis der zuständigen Kammer.


C.
Kontext der Entscheidung
Jüngere Entscheidungen des BVerfG zu Waffengleichheitsverstößen in presse- und äußerungsrechtlichen Verfahren vermittelten zuletzt den Eindruck, dass die Voraussetzungen, unter denen die vorprozessualen Äußerungsmöglichkeiten auf eine Abmahnung es rechtfertigen können, von einer Anhörung des Antragsgegners durch das Gericht nach Eingang des Verfügungsantrags abzusehen, erheblich verschärft würden (BVerfG, Beschl. v. 27.10.2022 - 1 BvR 1846/22, BVerfG, Beschl. v. 10.11.2022 - 1 BvR 1941/22). Demgegenüber legt die vorliegende Entscheidung im lauterkeitsrechtlichen Kontext weniger strenge Maßstäbe an.
I. Weshalb das BVerfG zunächst auf den Aspekt der Rechtswegerschöpfung rekurriert, erschließt sich nicht. Zwar stellt das BVerfG fest, die Voraussetzungen für eine vor Erschöpfung des Rechtswegs unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung gerichtete Verfassungsbeschwerde seien nicht dargelegt. Die dann folgenden Ausführungen betreffen aber das Feststellungsinteresse bei der Geltendmachung prozessualer Rechte unter Berufung auf die prozessuale Waffengleichheit. Beinhaltet die unter dem Gesichtspunkt der prozessualen Waffengleichheit gerügte Rechtsverletzung ausschließlich einen fachgerichtlich angreifbaren Verfahrensfehler, verbleibt es im Hinblick auf § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bei der vorrangigen Zuständigkeit der Fachgerichte (BVerfG, Beschl. v. 25.08.2023 - 1 BvR 1612/23 Rn. 13). Richten sich die Rügen einer Verfassungsbeschwerde hingegen auf eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass der einstweiligen Verfügung selbst und bleiben diese Rechtsverletzungen angesichts im fachgerichtlichen Verfahren nachfolgend eröffneter Verteidigungsmöglichkeiten regelmäßig folgenlos, so ist die Verfassungsbeschwerde unmittelbar möglich. Nach Durchführung einer auf einen Widerspruch hin anberaumten mündlichen Verhandlung scheidet die Aufhebung einer einstweiligen Verfügung wegen der Übergehung prozessualer Rechte nämlich regelmäßig aus, weil ein Gehörsverstoß in der mündlichen Verhandlung geheilt wird (BVerfG, Beschl. v. 06.06.2017 - 1 BvQ 16, 1 BvQ 17/17, 1 BvR 764/17, 1 BvR 770/17).
II. Der Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG stellt seinerseits eine Ausprägung der prozessualen Waffengleichheit dar. Besteht für einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG noch fachgerichtlicher Rechtsschutz, hat der Verfassungsbeschwerdeführer für die Zulässigkeit einer auf die Verletzung der prozessualen Waffengleichheit gestützten Verfassungsbeschwerde vorzutragen, welche über den Gehörsverstoß hinausgehende Rechtsverletzung er rügt, für die es an fachgerichtlichem Rechtsschutz fehlt. Stützt er seine Rüge auf eine bewusste und systematische Übergehung seiner prozessualen Rechte, bedarf es entsprechenden Vortrags, mit dem die Gehörsverletzung nicht als bloßer Verfahrensfehler, sondern nachvollziehbar als bewusste und systematische Übergehung prozessualer Rechte dargetan ist. Ein einzelner Verfahrensfehler ist regelmäßig nicht geeignet, ein bewusstes und systematisches Übergehen prozessualer Rechte von Verfahrensbeteiligten darzutun. Denn es kann sich dabei ebenso um ein bloßes Versäumnis handeln, das mit weiter gehenden Gründen der Verfahrenshandhabung nicht einhergeht. So kann die unterbliebene Berücksichtigung einer hinterlegten Schutzschrift eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit beinhalten. Dies bedeutet indes nicht, dass für den hiermit gerügten Verfahrensfehler ein fachgerichtlicher Rechtsbehelf von vornherein ausgeschlossen ist. Als erschöpft betrachtet hat das BVerfG den Rechtsweg jedenfalls dann, wenn eine ständige verfahrensfehlerhafte Entscheidungspraxis des jeweiligen Gerichts besteht (BVerfG, Beschl. v. 25.08.2023 - 1 BvR 1612/23 Rn. 18 ff.). Gerade der Umstand, dass Gehörsverletzungen beim einseitigen Erlass von Beschlussverfügungen regelmäßig im Rahmen des Widerspruchsverfahrens geheilt werden und damit einer Überprüfung entzogen sind, hat das BVerfG veranlasst, über das Konstrukt der prozessualen Waffengleichheit eben doch eine verfassungsrechtliche Überprüfung solcher Verstöße zu eröffnen. Mit Blick darauf, dass die Kammern des BVerfG in Stattgabeentscheidungen an sich keine neuen verfassungsrechtlichen Maßstäbe aufstellen dürfen, erscheint fraglich, ob diese Rechtsprechung tatsächlich lediglich bereits vorhandene Maßstäbe anwendet und konkretisiert oder nicht bereits in Bereiche vordringt, die durch die einschlägige Senatsrechtsprechung noch nicht vorgezeichnet sind (vgl. dazu allgemein Nettersheim in: Barczak, BVerfGG, 1. Aufl. 2018, § 93c Rn. 6).
III. In der Literatur wurde angeregt, de lege ferenda einen einfachrechtlichen Rechtsbehelf zu schaffen, um Waffengleichheitsverstöße feststellen und ggf. die Zwangsvollstreckung aus einer verfahrensfehlerhaft erlassenen Beschlussverfügung einstweilen einstellen zu lassen (Mantz, MMR 2023, 61 ff.; Vollkommer, WRP 2022, 1199). Allerdings eröffnen sowohl das Widerspruchsverfahren als auch ein Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung durchaus die Möglichkeit einer fachgerichtlichen (Selbst-)Korrektur der aufgrund einer Verletzung der prozessualen Waffengleichheit ergangenen Entscheidung für die Zukunft.
1. Durch die erstmalige Berücksichtigung des Vorbringens des Antragsgegners im Widerspruchsverfahren kann der Makel dessen fehlender Beteiligung im Verfahren vor Erlass der einstweiligen Verfügung zwar nicht mehr beseitigt werden. Räumt das Fachgericht den error in procedendo auf den Widerspruch hin jedoch ein und hebt die einstweilige Verfügung aufgrund des Vorbringens des Antragsgegners auf, so wird die fehlerhafte Handhabung des Prozessrechts damit festgestellt. Auf diese Weise kann die Intensität der erlittenen Grundrechtsverletzung gemindert werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn über den Widerspruch zeitnah nach Erlass der einstweiligen Verfügung verhandelt und entschieden wird. Selbst wenn die einstweilige Verfügung auch nach der − im Widerspruchsverfahren nachgeholten − Beteiligung des Antragsgegners im fachgerichtlichen Verfahren Bestand hat, eröffnet die Entscheidung über den Widerspruch dem Fachgericht jedenfalls die Möglichkeit – zwar nicht formell, jedoch in den Gründen der Entscheidung – den error in procedendo einzuräumen (BVerfG, Beschl. v. 24.03.2022 - 1 BvR 2000/21 Rn. 14 ff.). Legt der Antragsgegner gegen die unter Verletzung der prozessualen Waffengleichheit erlassene einstweilige Verfügung hingegen keinen Widerspruch ein, hat er damit regelmäßig nicht alle Möglichkeiten genutzt, eine solche Feststellung durch die Fachgerichte zu erwirken. In diesem Fall wahrt die erhobene Verfassungsbeschwerde nicht den in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität. Vorliegend war bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde der Widerspruch zwar eingelegt, aber noch nicht begründet. Dies könnte im Hinblick auf den Subsidiaritätsgrundsatz ebenfalls kritisch sein. Denn ob bei fehlender Begründung mit Blick auf die §§ 936, 924 Abs. 2 Satz 1 ZPO überhaupt ein wirksamer Widerspruch vorliegt, ist umstritten (vgl. Retzer in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, UWG, 5. Aufl. 2021, § 12 Rn. 260 einerseits; Schlingloff in: MünchKomm Lauterkeitsrecht, 3. Aufl. 2022, § 12 UWG Rn. 167 andererseits).
2. Für das Instanzgericht ist angezeigt, sich mit dem Vorhalt, es habe mit seiner Verfahrensführung die Rechte des Antragsgegners verletzt, auseinanderzusetzen. Eine solche Auseinandersetzung kann auch im Rahmen der Bescheidung eines Antrags auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung gemäß § 707 Abs. 1 Sätze 1, 2 ZPO i.V.m. den §§ 936, 924 Abs. 2 Satz 2 ZPO erfolgen (exemplarisch LG Düsseldorf, Beschl. v. 23.09.2023 - 38 O 176/23). Stellt der Antragsgegner sonach keinen Antrag auf einstweilige Einstellung der Vollziehung, dürfte der Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ebenfalls nicht gewahrt sein. Erstmals hat mit dem Thüringischen Verfassungsgerichtshof (Beschl. v. 17.11.2023 - VerfGH 34/23) auch ein Landesverfassungsgericht eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf prozessuale Waffengleichheit i.V.m. der Landesverfassung festgestellt und die Wirksamkeit der Beschlussverfügung bis zur Entscheidung über den Widerspruch ausgesetzt. Aus Art. 90 Abs. 3 GG ergibt sich indes die Selbstständigkeit von Bundes- und Landesverfassungsbeschwerde, zwischen denen kein Subsidiaritätsverhältnis besteht. Deshalb gehört die Landesverfassungsbeschwerde weder zu dem nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu erschöpfenden Rechtsweg (BVerfG, Beschl. v. 11.08.2022 - 1 BvR 1462/21 Rn. 1) noch gehört sie zu den Rechtsbehelfen, die zur Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde einzulegen sind (BVerfG, Beschl. v. 25.11.2008 - 1 BvR 848/07 Rn. 35).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die praktische Bedeutung des aktuellen Nichtannahmebeschlusses des BVerfG für zukünftige Verfahren liegt in der Klarstellung, dass für lauterkeitsrechtliche Konstellationen gegenüber solchen aus dem Presse- und Äußerungsrecht in der Tendenz weniger strenge Maßstäbe gelten. Dies betrifft insbesondere die Voraussetzungen, unter denen die Erwiderungsmöglichkeiten des Antragsgegners auf eine vorgerichtliche Abmahnung dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit bereits genügen können, so dass in der Folge vor Erlass einer einstweiligen Verfügung keine Anhörung der Antragsgegnerseite mehr erforderlich ist.
I. Die ursprünglich in äußerungsrechtlichen Fallkonstellationen entwickelten Maßstäbe zur Handhabung der prozessualen Waffengleichheit im Verfahren der einstweiligen Verfügung sind dem Grundsatz nach zwar auch im Bereich des Lauterkeitsrechts gültig. Die vorgerichtliche und gerichtliche Rechtsverfolgung muss indes den Besonderheiten des Äußerungsrechts Rechnung tragen. Dies wirkt auf die Frage zurück, inwieweit sich Abmahnung und Verfügungsantrag entsprechen müssen (LG Düsseldorf, Beschl. v. 23.09.2023 - 38 O 176/23).
1. Das BVerfG benennt die maßgeblichen Differenzierungen und unterschiedlichen Ausgangssituationen zwischen den Fallkonstellationen in beiden Rechtsgebieten nicht näher. Trotz vieler Gemeinsamkeiten dürften indes beim Streitgegenstand und bei der Antragsfassung im Presse- und Äußerungsrecht maßgebliche Unterschiede gegenüber dem Lauterkeitsrecht bestehen, die vor allem auf die Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit zurückzuführen sind (Gräbig, GRUR 2020, 1044). Grundsätzlich ist im Presse- und Äußerungsrecht stärker auf die konkret getätigten Äußerungen abzustellen und von erläuternden/klarstellenden Zusätzen abzusehen, weshalb der für das Äußerungsrecht zuständige VI. Zivilsenat des BGH einer Übertragung der im Lauterkeitsrecht geltenden Kerntheorie auf die Wortberichterstattung zurückhaltend gegenübersteht (BGH, Urt. v. 04.12.2018 - VI ZR 128/18 - GRUR 2019, 431 Rn. 19; BGH, Beschl. v. 26.09.2023 - VI ZB 79/21 - GRUR 2023, 1788 Rn. 19 m. Anm. El Sarise, jurisPR-WettbR 12/2023 Anm. 3) und sie bei der Bildberichterstattung ablehnt (BGH, Urt. v. 13.11.2007 - VI ZR 265/06 Rn. 11 ff. - WRP 2008, 673). Nach der Kerntheorie sind von einem Verbotstenor auch sonstige leicht abgewandelte Verletzungshandlungen erfasst, die im Kern und Wesen der konkret genannten Verletzungshandlung entsprechen. Auch nach der Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des BGH beschränkt sich die Reichweite des Verbots einer Wortäußerung jedoch nicht auf identische Wiederholungen, sondern umfasst auch solche gleichwertigen Äußerungen, die ungeachtet etwaiger Abweichungen im Einzelnen den Äußerungskern unberührt lassen (BGH, Urt. v. 24.07.2018 - VI ZR 330/17 Rn. 44 - WRP 2019, 219).
2. Während aber im Bereich des Lauterkeitsrecht (ebenso wie im Marken-, Design- und Urheberrecht) der Anspruchsteller etwa eine gesamte Werbeanzeige als konkrete Verletzungsform verbieten lassen kann, unabhängig davon, aus welchen Gründen sich der Lauterkeitsverstoß ergibt, gilt für das Äußerungsrecht, dass dort regelmäßig keine gesamten Artikel, sondern stets nur konkret zu benennende Äußerungen untersagt werden können, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt. Die Verurteilung zur Unterlassung einer Äußerung muss sich im Interesse des Schutzes der Meinungsfreiheit auf das zum Rechtsgüterschutz unbedingt Erforderliche beschränken. Um überschießende Wirkungen, insbesondere eine rechtlich nicht gebotene Zurückhaltung oder gar eine Einschüchterung bei weiteren Äußerungen auszuschließen, muss die Verurteilung klar erkennen lassen, welche Aussage der Angegriffene unterlassen soll (BVerfG, Beschl. v. 19.02.2004 - 1 BvR 417/98 Rn. 18; BGH, Urt. v. 28.07.2015 - VI ZR 340/14 Rn. 17 ff.).
3. Die Beschränkung des Verbotsbereichs auf einzelne Aussagen bedingt, dass auch bezüglich jeder einzelnen konkreten Äußerung deren Unzulässigkeit aufzuzeigen ist. In äußerungsrechtlichen Auseinandersetzungen können die Erwiderungsmöglichkeiten auf eine vorgerichtliche Abmahnung nur dann eine ausreichende Gehörsgewährung an den Antragsgegner darstellen, wenn er den (wortlaut-)genauen Inhalt des Unterlassungsbegehrens und dessen genaue Begründung kennt (LG Düsseldorf, Beschl. v. 23.09.2023 - 38 O 176/23 [unter III 1 a ee]). Eine ergänzende Anhörung im gerichtlichen Verfahren ist daher nur entbehrlich, wenn der Verfügungsantrag mit dem Unterlassungsbegehren aus der Abmahnung identisch ist. Außerhalb des Presse- und Äußerungsrechts ist demgegenüber keine Identität, sondern lediglich Kerngleichheit zwischen Abmahnung und Verfügungsantrag erforderlich. Eine Grenze ist dort zu ziehen, wo der gerichtliche Verfügungsantrag den im Rahmen der außergerichtlichen Abmahnung geltend gemachten Streitgegenstand verlässt oder weitere Streitgegenstände und Sachverhaltsumstände neu einführt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.07.2020 - 1 BvR 1422/20 Rn. 21). Wenn der Verfügungsantrag zwar über die Abmahnung hinausgeht, das Gericht dieses weitere Vorbringen für seine Entscheidung inhaltlich aber nicht verwertet, erscheint dies ebenso unschädlich wie der Fall, dass zu einer weiteren, vom Gericht nicht verwerteten Stellungnahme des Antragstellers keine Anhörung der Antragsgegnerseite erfolgt ist (BVerfG, Beschl. v. 31.08.2023 - 1 BvR 1602/23 Rn. 23).
II. Trotz der Vielzahl verfassungsgerichtlicher Entscheidungen bleiben diverse Einzelfragen ungeklärt, und es drängt sich der Eindruck auf, dass es an einem kohärenten Gesamtkonzept fehlt, welches die grundrechtlichen Vorgaben mit der Struktur des zivilrechtlichen Eilrechtsschutzes in Einklang bringt. So ist beispielsweise auch weiterhin keine Auseinandersetzung mit § 922 Abs. 3 ZPO erfolgt (vgl. Lerach, jurisPR-WettbR 11/2018 Anm. 1 V.). Eine Senatsentscheidung des BVerfG, welche die bisherigen Ergebnisse der Kammerentscheidungen bündelt und dort, wo Friktionen sichtbar geworden sind, vertieft, könnte sich hier als fruchtbar erweisen.



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