Keine „taggenaue“ Berechnung bei der Bestimmung der Höhe eines SchmerzensgeldesLeitsätze 1. Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes sind im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei geht es nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls. Diese hat der Tatrichter zunächst sämtlich in den Blick zu nehmen, dann die fallprägenden Umstände zu bestimmen und diese im Verhältnis zueinander zu gewichten. Dabei ist in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen; hier liegt das Schwergewicht. Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen, die sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lässt. 2. Diesen Grundsätzen wird die sog. „taggenaue Berechnung“ des Schmerzensgeldes nicht gerecht. - A.
Problemstellung Im Zuge einer revisionsrechtlichen Überprüfung hatte der BGH Gelegenheit, Stellung zu den Grundsätzen der Schmerzensgeldbezifferung zu nehmen und lehnte in diesem Zusammenhang die Methode der sog. „taggenauen Berechnung“ des Schmerzensgeldes ab.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Im Jahre 2012 wurde der Kläger bei einem Verkehrsunfall schwer an seiner Gesundheit verletzt. Er erlitt unter anderem eine erstgradige offene Unterschenkelfraktur rechts, einen knöchernen Kollateralbandausriss am Wadenbein links, eine minimale intracerebrale Gehirnblutung sowie eine Ruptur der Fibulota Iarbänder des oberen Sprunggelenks. Im Zeitraum zwischen dem Unfallereignis und dem Jahre 2015 wurde der Kläger 13-mal stationär behandelt und verbrachte über 500 Nächte in Krankenhäusern. Es wurden mehrere Revisionsoperationen und Materialentfernungen durchgeführt. Schließlich kam es aufgrund eines Infekts zu einer Amputation des rechten Unterschenkels, weshalb der Kläger mit einer Endoprothese versorgt werden musste. Der Kläger war in Folge des Unfalls zu mindestens 60% in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert. Die Haftung dem Grunde nach war zwischen den Parteien unstreitig. Auf seine Klage hin hatte das LG Darmstadt dem Kläger ein Schmerzensgeld von 100.000 Euro zugesprochen. Hiergegen legte der Kläger Berufung beim OLG Frankfurt ein, woraufhin ihm weitere 100.000 Euro und somit ein gesamtes Schmerzensgeld von 200.000 Euro zugesprochen wurde. Das OLG Frankfurt verwendete hierfür die Grundsätze der sog. „taggenauen Schmerzensgeldberechnung“, indem es beispielsweise für den Aufenthalt in der Intensivstation einen Betrag von 150 Euro pro Tag, für den Aufenthalt in der Normalstation einen Betrag von 100 Euro pro Tag, in der Rehaklinik von 65 Euro pro Tag und einen täglichen Betrag von 40 Euro bei 100-prozentigem Grad der Schädigungsfolgen zugrunde legte. Im Ergebnis kam das OLG auf einen Betrag i.H.v. 260.000 Euro. Allerdings wurde dieser Betrag auf 200.000 Euro reduziert, da das Gericht korrigierend berücksichtigte, dass der Kläger bereits zuvor unfallunabhängige körperliche Beeinträchtigungen hatte. Die Beklagtenseite wendete sich im Rahmen der Revision gegen diese Entscheidung und begehrte Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Der BGH hat das Urteil des OLG aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
- C.
Kontext der Entscheidung Die Entscheidung befasst sich mit der äußerst praxisrelevanten Frage, nach welchen Kriterien die Höhe des Schmerzensgeldes zu bestimmen ist. In jüngster Vergangenheit versuchte insbesondere das OLG Frankfurt bei der Schmerzensgeldberechnung einen neuen Weg zu gehen und dieses „taggenau“ zu berechnen. Diese Berechnung erfolgte unter Zugrundelegung eines abstrakt berechneten „Tagesbetrags“ und eines Vervielfältigungsfaktors sowie unter Hinweis auf das Werk „Handbuch Schmerzensgeld“ von Schwintowski/Schah Sedi/Schah Sedi. Die Bemessung nach der taggenauen Methode geht davon aus, dass – ausgehend von dem Monatsdurchschnittsbruttoverdienst – die Beeinträchtigung je nach Behandlungsstufen prozentual und pro Tag berechnet werden kann. Nach dieser Berechnung ergibt sich die Höhe des Schmerzensgeldes in einem ersten Rechenschritt (Stufe I) unabhängig von der konkreten Verletzung und den damit individuell einhergehenden Schmerzen aus der bloßen Addition von Tagessätzen, die nach der Behandlungsphase (Intensivstation, Normalstation, stationäre Reha-Maßnahme, ambulante Behandlung zuhause, Dauerschaden) und der damit einhergehenden Lebensbeeinträchtigung gestaffelt sind. In einem zweiten Rechenschritt (Stufe II) wird der errechnete Betrag einer Einzelfallkorrektur unterzogen, etwa, wenn eine Erhöhung wegen der Tatumstände oder einer Reduzierung wegen Mitverschuldens geboten erscheint. Auf der dritten Stufe (Stufe III) kann eine Erhöhung aus Präventionsgründen erfolgen, also beispielsweise bei schweren Dauerschäden oder besonders schwerwiegenden Verfehlungen des Schädigers. Hinter der taggenauen Berechnung steht der Versuch einer möglichst gerechten und standardisierten Lösung. Der BGH hat jedoch unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass eine taggenaue Berechnung des Schmerzensgeldes der Gesetzeslage widerspricht und ließ an den Ausführungen des Berufungsurteils dementsprechend kaum ein gutes Haar. Nach der Rechtsprechung des BGH sind für die Höhe des Schmerzensgeldes im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers maßgebend (BGH, Urt. v. 10.02.2015 - VI ZR 8/14; BGH, Urt. v. 12.07.2005 - VI ZR 83/04; ferner BGH, Urt. v. 08.02.2022 - VI ZR 409/19). Dabei geht es nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls. Diese hat der Tatrichter zunächst sämtlich in den Blick zu nehmen, dann die fallprägenden Umstände zu bestimmen und diese im Verhältnis zueinander zu gewichten. Dabei ist in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen; hier liegt das Schwergewicht (vgl. BGH, Beschl. v. 16.09.2016 - VGS 1/16; BGH, Beschl. v. 06.07.1955 - GSZ 1/55). Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen (vgl. BGH, Urt. v. 12.05.1998 - VI ZR 182/97), die sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lässt (BGH, Beschl. v. 06.07.1955 - GSZ 1/55). Mit beeindruckend unmissverständlichen Worten stellt der BGH klar, dass die vom Berufungsgericht vorgenommene taggenaue Berechnung des Schmerzensgeldes diesen Grundsätzen nicht gerecht wird. Die isolierte Konzentration auf die Anzahl der Tage, die der Kläger auf der Normalstation eines Krankenhauses verbracht hat und die er nach seiner Lebenserwartung mit der dauerhaften Einschränkung voraussichtlich noch wird leben müssen, lasse wesentliche Umstände des konkreten Falles außer Acht. So bleibe unbeachtet, welche Verletzungen der Kläger erlitten habe, wie die Verletzungen behandelt worden und welches individuelle Leid bei ihm ausgelöst worden sei. Gleiches gelte für die Einschränkung in seiner zukünftigen individuellen Lebensführung. Auch die Anknüpfung an die statistische Größe des durchschnittlichen Einkommens trage der notwendigen Orientierung an der gerade individuell zu ermittelnden Lebensbeeinträchtigung des Geschädigten nicht hinreichend Rechnung.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Die Entscheidung des BGH und die klare Absage an die taggenaue Berechnung der Schmerzensgeldhöhe ist – wahrscheinlich unter Ausnahme des 22. Zivilsenats des OLG Frankfurt – auf große Zustimmung gestoßen. Der Wunsch der Judikative nach einer Standardisierung der Schmerzensgeldberechnung ist ob der Vielzahl zu entscheidender Fälle und deren Umfang mehr als verständlich. Eine standardisierte Berechnungsmethodik ist einfach durchführbar und ermöglicht einen schnelleren Ablauf des Gerichtsverfahrens. Jedoch darf es hierauf allein nicht ankommen. So ist es zutreffend, wenn der BGH ausdrücklich klarstellt, dass die taggenaue Berechnungsmethode dem Anspruch des Geschädigten nicht gerecht wird und die Folgen eines Unfalls stets individuell zu betrachten sind. Insofern bestätigt der BGH lediglich seine ständige Rechtsprechung im Hinblick auf die Grundsätze der Schmerzensgeldbemessung (BGH, Beschl. v. 06.07.1955 - GSZ 1/55), wonach der Tatrichter alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, zu gewichten und unter besonderer Würdigung von Höhe und Maß der erlittenen Lebensbeeinträchtigung eine einheitliche Entschädigung festzusetzen hat. Diesen Grundsätzen kann und will die taggenaue Berechnung auch nicht gerecht werden. Diese Berechnungsmethode lässt maßgebliche Umstände des Einzelfalles außer Acht und interessiert sich nicht dafür, welche Verletzungen der Geschädigte überhaupt erlitten hat, wie diese behandelt wurden und welches individuelle Leid durch die Verletzungen und ggf. auch durch die Behandlungsmaßnahmen ausgelöst wurde. Die durch Konzentration auf den vermeintlichen „allgemeingültigen Parameter“ der Behandlungsform (Intensivstation, Normalstation, stationäre Reha-Maßnahme etc.) liegende Loslösung von der konkreten Verletzung widerspricht jeder Lebenserfahrung. So führt der BGH zutreffend aus, dass beispielsweise eine stationäre Behandlung aus einer Vielzahl von Gründen veranlasst sein kann, die von der Aufnahme zur Beobachtung bei einem bloßen Krankheitsverdacht ohne spürbare Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens bis zur Notwendigkeit der Behandlung multipler, schwerster Verletzungen reichen kann. Auch stellt sich beispielsweise die Frage, weshalb ein Aufenthalt auf der Intensivstation zwangsläufig am höchsten bewertet ist. Zwar mag es sein, dass dort oftmals die Geschädigten mit den vermeintlich schlimmsten Unfallfolgen liegen – anderseits könnte man auch argumentieren, dass diese Geschädigten aufgrund von Koma und Ähnlichem am wenigsten von ihrem Zustand mitbekommen und somit weniger leiden. Auch die Fixierung auf die zeitliche Dauer ist bei genauerem Hinschauen nicht durchdacht, da völlig außer Acht gelassen wird, dass Krankenhäuser Wirtschaftsunternehmen sind und somit auch eine frühzeitige Entlassung des Geschädigten denkbar ist, obgleich ein längerer Aufenthalt zu Genesungszwecken vorteilhaft wäre. In derlei Fällen würde der Geschädigte doppelt „bestraft“, da er zudem aufgrund der verkürzten Dauer weniger Schmerzensgeld bekäme. Auch ist das Empfinden von Leid von Person zu Person individuell verschieden und kann somit selbst bei gleichartigen Verletzungen nicht standardmäßig abgehandelt werden. Es ist also richtig, dass der Tatrichter die fallprägenden Umstände des Einzelfalles zu bestimmen und diese entsprechend zu gewichten hat. Hierbei hat er in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung für den im konkreten Fall Geschädigten zu berücksichtigen. In seiner Entscheidung zeigt der BGH anschaulich am Beispiel einer Unterschenkelamputation, dass sich eine solche durchaus unterschiedlich auf die Lebensführung auswirkt, abhängig davon, ob der Geschädigte eine Bürotätigkeit ausübt oder aber Leistungssportler ist. Nach den eindeutigen Worten des BGH herrscht nunmehr Klarheit und die taggenaue Schmerzensgeldberechnung wird fortan der Vergangenheit angehören. Die Entscheidung des BGH dürfte von der Versicherungswirtschaft begrüßt werden, da die taggenaue Berechnung insbesondere bei Dauerschäden zu – vergleichsweise – hohen Schmerzensgeldbeträgen geführt hat. Auf Seiten der Gerichte hingegen dürfte das Echo gemischt ausfallen. Obgleich die Argumentation des BGH inhaltlich sicher überzeugend ist, ist davon auszugehen, dass die Richterschaft aus rein pragmatischen Gründen sicher nichts dagegen gehabt hätte, bei der Bemessung des Schmerzensgeldes weniger Zeit investieren zu müssen. Nachdem sich aber bereits schon vor der Entscheidung des BGH einige Oberlandesgerichte gegen die taggenaue Berechnung ausgesprochen hatten (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.03.2019 - I-1 U 66/18; OLG Celle, Urt. v. 26.06.2019 - 14 U 154/18), bleibt dies selbstverständlich eine augenzwinkernde Vermutung. Im Ergebnis ist jedenfalls festzuhalten, dass sich der Lebenswirklichkeit mit all ihren individuellen Besonderheiten keine Schablone überstülpen lässt, weshalb die Klarstellung und das Bekenntnis des BGH zu den bisherigen Grundsätzen der Schmerzensgeldbemessung zu begrüßen ist.
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