Durch eine Antwort auf Bieterfrage hervorgerufene Unklarheit muss ausdrücklich beseitigt werdenLeitsätze 1. Die Vergabestellen sind verpflichtet, die Vergabeunterlagen klar und eindeutig zu formulieren und Widersprüchlichkeiten zu vermeiden. Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens müssen klar, präzise und eindeutig formuliert werden, so dass zum einen alle mit der üblichen Sorgfalt handelnden Unternehmen die genaue Bedeutung dieser Bedingungen und Modalitäten verstehen und sie in gleicher Weise auslegen können und zum anderen der Auftraggeber tatsächlich überprüfen kann, ob die Teilnahmeanträge oder Angebote die für den betreffenden Auftrag geltenden Kriterien erfüllen. 2. Nicht mehr eindeutig sind Vergabeunterlagen, wenn fachkundigen Unternehmen auch nach Auslegungsbemühungen mehrere Auslegungsmöglichkeiten verbleiben: Hat der potentielle Bieter angesichts mehrerer Auslegungsmöglichkeiten keine eindeutige Grundlage für die Ausarbeitung seines Angebots, liegt ein Verstoß gegen das Transparenzgebot vor. 3. Kann durch eine Leistungsbeschreibung im Zusammenwirken mit der Antwort der Vergabestelle auf eine Bieterfrage die (im Ergebnis irrtümliche) Vorstellung erweckt werden, die Bieter hätten für Mitarbeiter den Tariflohn eines bestimmten Lohntarifvertrages anzubieten, liegt hierin ein Verstoß gegen das Transparenzgebot. Die Vergabestelle muss sich in einer solchen Situation hinreichend deutlich - im Wege eines actus contrarius - von der missverständlichen Antwort auf die Bieterfrage distanzieren. - A.
Problemstellung Hat ein öffentlicher Auftraggeber die Auftragsbekanntmachung sowie die Vergabeunterlagen veröffentlicht, besteht die Möglichkeit, nachträglich Änderungen und Klarstellungen bekannt zu geben. Dies geschieht in der Praxis insbesondere dann, wenn entsprechende Bieterfragen eingehen. Mitunter kommt es vor, dass während des Laufs der Angebotsfrist zunächst einige Antworten auf Bieterfragen veröffentlicht werden, die Klarstellungen oder Änderungen zu den zu diesem Zeitpunkt aktuellen Vergabeunterlagen enthalten. Sodann, ebenfalls noch vor Ablauf der Angebotsfrist, wird eine veränderte Fassung der Vergabeunterlagen veröffentlicht. Das kann dazu führen, dass die ursprünglich veröffentlichten Antworten nicht mehr zu den veränderten Vergabeunterlagen passen und somit neue Widersprüche oder Unklarheiten entstehen. Zudem können die veröffentlichten Antworten aus sich heraus zu neuen Unklarheiten führen. Mit diesen Fragen und den Auswirkungen befasst sich das OLG Schleswig in der hier besprochenen Entscheidung.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die Antragsgegnerin schrieb einen Dienstleistungsauftrag europaweit aus. Alleiniges Zuschlagskriterium sollte der Preis sein. Die zu erbringenden Leistung bezeichnete sie unter Abschnitt II.2.4 EU-Auftragsbekanntmachung als Dienstleistungen zur Durchführung von Objekt- und Personenschutz in Form von Bewachungs- und Sicherheitsdienstleistungen in einer Unterkunft für wohnungslose und geflüchtete Personen. Unter Abschnitt III.1.2 EU-Auftragsbekanntmachung wurde zum Nachweis der Eignung die Abgabe einer Verpflichtungserklärung zum Vergabemindestlohn gefordert. Außerdem wurde die Angabe gefordert, nach welchem Tarifvertrag die eingesetzten Kräfte monatlich, termingerecht und vollständig entlohnt werden. In der zunächst veröffentlichten Leistungsbeschreibung werden dieselben Angaben von den Bietern „mit Angebotsabgabe“ gefordert. Im Rahmen der Antwort auf eine Bieterfrage bestätigte die Antragsgegnerin am 04.08.2021, dass vom Auftragnehmer Personal mit der Qualifikation der Sachkundeprüfung nach § 34a GewO einzusetzen ist und dass der Lohntarifvertrag für Sicherheitsdienstleistungen in S. Anwendung für Anbieter aus S. findet. Ergänzend führt die Antragsgegnerin in der veröffentlichten Antwort aus „Jeder Anbieter wird sich nach den bei ihm geltenden Tarifverträgen richten müssen“. Nachfolgend veröffentlichte die Antragsgegnerin eine Änderungsbekanntmachung sowie eine neue Fassung der Leistungsbeschreibung. Mit der Änderungsbekanntmachung wurde die Forderung zur Abgabe einer Verpflichtungserklärung zum Vergabemindestlohn gestrichen. Zudem fehlte in der Neufassung der Leistungsbeschreibung die Forderung, mit Angebotsabgabe anzugeben, nach welchem Tarifvertrag die eingesetzten Kräfte monatlich, termingerecht und vollständig entlohnt werden. Die gleichlautend geforderten Angaben unter Abschnitt III.2 EU-Auftragsbekanntmachung wurden mit der Änderungsbekanntmachung ebenfalls gestrichen. Die Antragstellerin lag mit ihrem Angebot preislich auf Rang 3. Das erhaltene Absageschreiben rügte sie insbesondere mit der Behauptung, dass sie ihr Angebot unter Berücksichtigung aller gesetzlichen und tariflichen Vorgaben sowie der Kalkulationsvorgaben der Antragsgegnerin gerade so auskömmlich kalkuliert habe. Als Kalkulationsvorgabe der Antragsgegnerin sei zwingend zu beachten gewesen, dass Anbieter aus S. den Lohntarifvertrag für Sicherheitsdienstleistungen in S. anwenden müssten und dass das Bewachungsobjekt von der Antragsgegnerin als Flüchtlingsunterkunft eingeordnet wurde. Letzteres führte zur Beachtung besonderer Lohnvorgaben nach dem vorgenannten Lohntarifvertrag. Für die beiden preislich vor ihr liegenden Bieter sei eine günstigere Kalkulation unter Berücksichtigung dieser Kalkulationsvorgaben sowie der geltenden gesetzlichen und tariflichen Vorgaben nicht möglich gewesen. Nach Rügezurückweisung und Einreichung eines Nachprüfungsantrags beanstandete die VK Kiel die Ausschreibung zwar in zwei Punkten als intransparent. Jedoch habe diese Intransparent nicht kausal dazu geführt, dass die Antragstellerin nicht das günstigste wertbare Angebot abgegeben habe. Die Intransparenz betraf nach Auffassung der VK Kiel zum einen die Unklarheit, ob aus der Beantwortung der Bieterfrage vom 04.08.2021 folge, dass die Beachtung des Lohntarifvertrags für Sicherheitsdienstleistungen in S. unabhängig von einer anderweitigen Tarifbindung eines Anbieters zwingende Kalkulationsvorgabe sei. Insbesondere, ob diese Kalkulationsvorgabe auch dann noch fortgelten sollte, nachdem gemäß geänderter Bekanntmachung und Leistungsbeschreibung nicht mehr gefordert war, anzugeben, nach welchem Tarifvertrag die eingesetzten Kräfte monatlich, termingerecht und vollständig entlohnt werden. Zum anderen war nach Auffassung der VK Kiel unklar, ob es sich bei dem zu bewachenden Objekt um eine Flüchtlingsunterkunft handle – so das Verständnis der Antragstellerin –, was ebenfalls Auswirkungen auf anzuwendende tarifliche Vorgaben haben könnte. Die Beschreibung unter Abschnitt II.2.4 EU-Auftragsbekanntmachung sei insoweit mehrdeutig. Da die Beigeladene jedoch nach Auffassung der VK Kiel nicht tarifgebunden sei und die VK Kiel darüber hinaus von einer Tarifbindung der Antragstellerin ausging, könnten sich diese Unklarheiten nicht nachteilig auf die Platzierung der Antragstellerin auswirken. Dies ergebe eine durchgeführte hypothetische Preiskorrektur der Preise im Angebot der Antragstellerin auf das unter Berücksichtigung vorstehender Annahmen geringstmögliche Niveau. Mit ihrer sofortigen Beschwerde wendet die Antragstellerin unter anderem ein, dass die Beigeladene sehr wohl tarifgebunden sei. Darüber hinaus habe sie selbst die Vorgaben des Lohntarifvertrags für Sicherheitsdienstleistungen in S. nur deshalb beachtet, weil sie dies für eine Kalkulationsvorgabe der Antragsgegnerin hielt. Eine von dieser Kalkulationsvorgabe unabhängige Tarifbindung der Antragstellerin bestehe dagegen nicht. Das OLG Schleswig bewertet den Antrag der Antragstellerin auf Verlängerung der aufschiebenden Wirkung der sofortigen Beschwerde als zulässig und begründet. Eine Zurückversetzung des Verfahrens in das Stadium vor der Angebotsabgabe, verbunden mit erforderlichen Klarstellungen zu den Vergabeunterlagen, komme ernsthaft in Betracht. Ein Verstoß gegen das in § 97 Abs. 1 GWB normierte Transparenzgebot liege dann vor, wenn potentielle Bieter angesichts mehrerer Auslegungsmöglichkeiten keine eindeutige Grundlage für die Ausarbeitung ihrer Angebote hätten. Dies vorausgeschickt stellt das OLG Schleswig zunächst fest, dass vorliegend durch die Antragsgegnerin eine Intransparenz begründet wurde, die auch nachträglich nicht mit der erforderlichen Klarheit beseitigt wurde. Begründet wurde die Intransparenz nach Auffassung des OLG Schleswig durch die Forderung zur Angabe, nach welchem Tarifvertrag die eingesetzten Kräfte monatlich, termingerecht und vollständig entlohnt werden, in Verbindung mit der am 04.08.2021 veröffentlichten Bieterfrage. Die Intransparenz bestehe darin, dass Bieter die vorgenannten Vorgaben auch so verstehen durften, dass für den Auftrag eine Ausführungsbedingung i.S.d. § 128 Abs. 2 GWB insoweit bestehe, dass der Lohntarifvertrag für Sicherheitsdienstleistungen in S. zu beachten ist, selbst wenn ein Anbieter nicht anderweitig an diesen Tarifvertrag gebunden sei. Aufbauend auf dieser Unklarheit bzw. diesem vertretbaren Verständnis der Ausschreibungsunterlagen folge sodann die weitere Intransparenz, dass Bieter in Verbindung mit der Beschreibung des Auftrags in Abschnitt II.2.4 EU-Auftragsbekanntmachung davon ausgehen durften, sie hätten den Tariflohn für Sicherheitsmitarbeiter zum Schutz von Flüchtlingsunterkünften gemäß des Lohntarifvertrags anzuwenden. Denn, ob es sich um eine Flüchtlingsunterkunft – im Sinne des Lohntarifvertrags – handle oder nicht, sei ebenfalls unklar. Diese Intransparenz habe die Antragsgegnerin auch nicht hinreichend deutlich beseitigt. Die Änderungsbekanntmachung sowie die Neufassung der Leistungsbeschreibung, wonach durch Bieter nun nicht mehr anzugeben war, nach welchem Tarifvertrag die eingesetzten Kräfte monatlich, termingerecht und vollständig entlohnt wurden, reiche zur Beseitigung der Unklarheiten, die maßgeblich durch die Antwort auf die Bieterfrage vom 04.08.2021 hervorgerufen wurde, nicht aus. Erforderlich ist nach Auffassung des OLG Schleswig, dass sich die Antragsgegnerin ausdrücklich im Wege eines actus contrarius von dieser irreführenden Antwort distanziere. Die im Übrigen vom Vergabesenat als rechtlich unzutreffend bewertete Aussage, dass auf Anbieter aus S. der Lohntarifvertrag für Sicherheitsdienstleistungen in S. Anwendung finde, hätte von der Antragsgegnerin ausdrücklich als gegenstandlos bezeichnet werden müssen. Da die Antragstellerin in ihrem Angebot den vorgenannten Lohntarifvertrag berücksichtigt hat und nach ihrem unbestrittenen Vortrag nicht schon anderweitig an diesen Tarifvertrag gebunden war, wirkte sich der Verstoß gegen den Transparenzgrundsatz auch kausal auf die Zuschlagschancen der Antragstellerin aus. Denn diese hätte ohne Beachtung dieses Lohntarifvertrags erheblich günstiger anbieten können.
- C.
Kontext der Entscheidung Im Kern betrifft die besprochene Entscheidung die nach der vergaberechtlichen Rechtsprechung erforderliche Transparenz der Vergabeunterlagen, die alle Facetten der Vorgaben des Auftraggebers betrifft, nicht nur jene in der Leistungsbeschreibung (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.12.2017 - VII-Verg 19/17 Rn. 54): etwa die Verfahrensbedingungen, die Eignungs- und Zuschlagskriterien, die rechtlichen und technischen Vorgaben für die Leistungsausführung sowie etwaige Kalkulationsvorgaben. Führt die Intransparenz dazu, dass Bieter aufgrund mehrdeutiger Vorgaben unterschiedliche Kalkulationsgrundlagen annehmen und wirkt sich dies kausal auf die Wertungsreihenfolge der Angebote aus, muss dies regelmäßig zur Zurückversetzung des Vergabeverfahrens führen. Die besprochene Entscheidung des OLG Schleswig stellt in diesem Kontext mit begrüßenswerter Klarheit dar, welche Anforderungen an die Beseitigung einer Unklarheit zu stellen sind, die sich „erst“ aus der Antwort auf eine Bieterfrage zu den Vergabeunterlagen ergibt. Es genügt nicht, dass der Auftraggeber die Vorgaben in den Vergabeunterlagen entsprechend anpasst und dadurch ggf. die Passagen, die Anlass für die Bieterfrage waren, entfernt. Er muss auch die missverständliche Antwort auf die Bieterfrage selbst in einer ergänzenden Mitteilung klarstellen bzw. für gegenstandslos erklären.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Für Auftraggeber folgt aus der Entscheidung, dass sie sich bei Änderungen an den Vergabeunterlagen und/oder Änderungsbekanntmachungen stets intensiv mit den bereits zuvor veröffentlichten Antworten auf Bieterfragen befassen müssen. Im Einzelfall kann es ratsam sein, die veröffentlichten Klarstellungen und Ergänzungen in eine Neufassung der Vergabeunterlagen einzuarbeiten und darüber hinaus alle bereits veröffentlichten Antworten auf die Bieterfragen für gegenstandslos zu erklären. Die in der besprochenen Entscheidung des OLG Schleswig thematisierte Problematik dürfte sich nochmals verschärfen, wenn ein Verhandlungsverfahren mit mehreren Angebotsrunden durchgeführt wird und sich die Frage stellt, ob und inwieweit Antworten auf Bieterfragen aus einer vorausgehenden Angebotsrunde etwa für die finalen Angebote noch zu beachten sind. Dies sollte durch Auftraggeber stets klargestellt werden, um das Risiko einer drohenden Anordnung der Zurückversetzung des Vergabeverfahrens durch Nachprüfungsinstanzen zu vermeiden.
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