juris PraxisReporte

Anmerkung zu:EuGH 1. Kammer, Urteil vom 07.09.2023 - C-601/21
Autoren:Pascal Friton, RA und FA für Vergaberecht,
Pascal Ebel, wissenschaftlicher Mitarbeiter
Erscheinungsdatum:12.03.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 107 GWB, § 97 GWB, EGRL 18/2004, 12016E258, EURL 24/2014, EGRL 81/2009, 12016E346
Fundstelle:jurisPR-VergR 3/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Lutz Horn, RA
Zitiervorschlag:Friton/Ebel, jurisPR-VergR 3/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Und Art. 346 AEUV findet doch Anwendung - EuGH erlaubt Polen (teilweise) Direktvergabe an Staatsdruckerei



Leitsatz

Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.02.2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG i.V.m. Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV verstoßen, dass sie in das polnische Recht Ausnahmen aufgenommen hat, die in der Richtlinie 2014/24 nicht vorgesehen sind, was Aufträge für die Herstellung zum einen der in Art. 4 Nr. 5c der Ustawa Prawo zamowie publicznych (Gesetz über öffentliche Aufträge) vom 29.01.2004 in der durch die Ustawa o dokumentach publicznych (Gesetz über öffentliche Dokumente) vom 22.11.2018 geänderten Fassung genannten öffentlichen Dokumente anbelangt, mit Ausnahme der persönlichen Dokumente und Identitätskarten von Militärangehörigen, der Dienstausweise von Polizisten, von Grenzschutzbediensteten, von Bediensteten des Staatsschutzes, von Bediensteten des Amtes für Innere Sicherheit, von Bediensteten des Nachrichtendienstes, von Bediensteten des Militärischen Abschirmdienstes und von zu diesem Dienst abgestellten Berufssoldaten, von Bediensteten des Militärischen Nachrichtendienstes und von zu diesem Dienst abgestellten Berufssoldaten sowie von Angehörigen der Militärpolizei, und zum anderen der ebenfalls in diesem Art. 4 Nr. 5c genannten Steuerzeichen, Legalisierungszeichen, Kontrollaufkleber, Stimmzettel, holografischen Zeichen auf Wahlscheinen sowie Mikroprozessorsysteme mit Software für die Verwaltung öffentlicher Dokumente, IT-Systeme und Datenbanken, die für die Nutzung öffentlicher Dokumente erforderlich sind.



A.
Problemstellung
Im vorliegenden Verfahren ging es einmal mehr um die Auslegung und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 346 AEUV, wonach Mitgliedstaaten unter Berufung auf wesentliche Sicherheitsinteressen weder an den AEUV noch an das EU/GWB-Vergaberecht gebunden sind. Konkret sehen die Vergaberichtlinien Ausnahmen von ihrem Anwendungsbereich vor, wenn den wesentlichen Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaates nicht durch weniger belastende Maßnahmen im Rahmen eines Vergabeverfahrens Rechnung getragen werden kann (vgl. beispielsweise Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 1 Richtlinie 2014/24/EU). Darüber hinaus wiederholt beispielsweise Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 2 Richtlinie 2014/24/EU den Inhalt von Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV. Demnach findet die Richtlinie keine Anwendung, soweit der Mitgliedstaat andernfalls verpflichtet würde, Informationen zu übermitteln, deren Offenlegung nach seiner Auffassung seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen zuwiderliefe.
Zwar haben die Mitgliedstaaten bei der Bestimmung ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen einen weiten Beurteilungsspielraum (Antweiler in: Ziekow/Völlink, 4. Aufl. 2020, GWB, § 107 Rn. 46; Otting in: Beck’scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, GWB, § 107 Rn. 8; Röwekamp in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, 5. Aufl. 2020, § 107 Rn. 40). Ob allerdings zur Wahrung dieser Sicherheitsinteressen auf die Durchführung eines Vergabeverfahrens verzichtet werden darf, die Maßnahme also erforderlich ist, kann sehr wohl von den Gerichten überprüft werden. Der Maßstab des EuGH war in der Vergangenheit häufig insoweit sehr streng und so versagte der EuGH den Mitgliedstaaten in der Vergangenheit regelmäßig eine Berufung auf Art. 346 AEUV. Vorliegend sah er das teilweise anders.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das polnische Vergabegesetz nahm Aufträge zur Herstellung bestimmter öffentlicher Dokumente von seinem Anwendungsbereich aus. Der Ausnahmenkatalog listete zwei Arten von Dokumenten auf. Erstens waren zivile öffentliche Dokumente aufgeführt, wie etwa Wahlscheine, Personalausweise, Seefahrtenbücher oder Ausfertigungen von rechtskräftigen Urteilen. Zweitens waren auch Dokumente aus dem Sicherheits- und Verteidigungssektor erfasst, etwa persönliche Militärdokumente oder Dienstausweise für Polizisten, Bedienstete des Grenz- oder Staatsschutzes. Diese vom Vergaberecht ausgenommenen Dienstleistungen wurden direkt an die Polska Wytwornia Papierow Wartosciowych S.A. (im Folgenden „PWPW“) vergeben, deren Anteile zu 100% in der Hand des Staates waren.
Die Kommission sah in dem Ausnahmenkatalog des polnischen Vergabegesetzes einen Verstoß gegen die Richtlinie 2014/24/EU. Polen könne sich nicht auf seine wesentlichen Sicherheitsinteressen nach Art. 15 Abs. 2 oder 3 Richtlinie 2014/24/EU i.V.m. Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV berufen, wenn es solche Aufträge aus dem Anwendungsbereich nehme. Die polnische Regierung rechtfertigte den Ausnahmenkatalog jedoch mit wesentlichen Sicherheitsinteressen. Die Sicherheit der Dokumente sei eng verbunden mit den grundlegenden Interessen des Staates nach Sicherheit, Gesundheit sowie Freiheit der Bürger nach innen. Nach außen solle die Ausnahme zudem Terrorismus, Menschenhandel und organisierte Kriminalität verhindern. Nur über die direkte Vergabe an staatliche Unternehmen wie PWPW könnten die Dokumente zuverlässig hergestellt, gelagert und geliefert werden. Dadurch sei eine durchgehende Überwachung zu gewährleisten und möglichen Bedrohungen könne schnell begegnet werden. Zudem verhindere die hundertprozentige Inhaberschaft des Staates, dass das beauftragte Unternehmen in fremde Hände gerate. Damit gewährleiste man den Fortbestand der Leistung und begegne der Gefahr einer Insolvenz, welche möglicherweise einem Unternehmen in privater Hand drohe. Ein plötzliches Ausbleiben der Leistung durch Insolvenz würde zu irreparablen Schäden führen. Zuletzt ermögliche die Leistungserbringung durch PWPW, dass die Informationen aus den Dokumenten nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind. Das erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass keine Informationen durchsickerten.
Der EuGH ließ diese Begründung nur teilweise gelten. Erwähnenswert sind zunächst seine Ausführungen zur Beweislastverteilung zwischen Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV und den Ausnahmen bei wesentlichen Sicherheitsinteressen nach Art. 346 AEUV. Grundsätzlich bestätigt der EuGH in Rn. 71 seinem Grundsatz, nach dem es der Kommission obliege, eine mitgliedsstaatliche Vertragsverletzung nachzuweisen (so auch in EuGH, Urt. v. 02.09.2021 - C-22/20 Rn. 143 „Kommission/Schweden“; EuGH, Urt. v. 14.01.2021 - C-63/19 Rn. 74 „Kommission/Italien“; EuGH, Urt. v. 05.09.2019 - C-443/18 Rn. 78 „Kommission/Italien“). Zugleich aber kann sich ein Mitgliedstaat nicht einfach auf seine Sicherheitsinteressen berufen. Vielmehr muss er nach Rn. 82 darlegen, dass ein Vergabeverfahren nach der Richtlinie 2014/24/EU dem Schutz der mitgliedsstaatlichen Sicherheitsinteressen nicht hätte gerecht werden können (so bereits in EuGH, Urt. v. 20.03.2018 - C-187/16 Rn. 78 f. „Kommission/Österreich“; EuGH, Urt. v. 04.11.2014 - C-474/12 Rn. 34 „Schiebel Aircraft“; EuGH, Urt. v. 07.06.2012 - C-615/10 Rn. 45 „InsTiimi“). Zwar muss die Kommission demnach grundsätzlich begründen, warum ein Mitgliedstaat seinen Sicherheitsinteressen doch über die Richtlinien 2014/24/EU Geltung verschaffen kann. Da die Kommission jedoch die wesentlichen Sicherheitsinteressen des Mitgliedstaates nicht kennt, ist sie auf die Rechtfertigung des Mitgliedstaates angewiesen. Dieser muss auf den individuellen Vorgang bezogene Argumente darlegen, warum eine Vergabe nach der Richtlinie 2014/24/EU nicht möglich ist (vgl. auch Jaeckel in: Nettesheim/Grabitz/Hilf, Recht der EU, 60. EL 2023, AEUV, Art. 346 Rn. 4).
Der EuGH bekräftigt dabei in Rn. 76, dass die polnischen Behörden ihre Sicherheitsmaßnahmen, die zum Schutz der nationalen Sicherheit Polens bei Herstellung der in Rede stehenden Dokumente erforderlich sind, selbst bestimmen müssten. Daher beanstandet er in Rn. 83 nicht die polnischen Sicherheitsinteressen bei der Herstellung staatlicher Dokumente an sich. Schwerpunkt der übrigen Entscheidung bleibt die Frage, ob Polen diese berechtigten Interessen nicht auch bei einem Vergabeverfahren nach der Richtlinie 2014/24/EU hätte wahren können.
Dafür prüft der EuGH bei den angeführten Interessen der polnischen Regierung, ob sie diese auch über die Richtlinie 2014/24/EU hätte berücksichtigen können. Für Aufträge über die Herstellung der zivilen Dokumente bejaht der EuGH das. Der EuGH trat der Behauptung der polnischen Regierung entgegen, nur ein staatliches Unternehmen könne die Kontinuität der Leistung sichern und das Insolvenzrisiko verringern. Denn zum einen könne ein öffentlicher Auftraggeber grundsätzlich Verträge mit mehreren Lieferanten abschließen (Rn. 87). Diese Streuung würde die Gefahr verringern, dass die Leistung ausbliebe, wenn ein Lieferant ausfiele. Zum anderen sei es öffentlichen Auftraggebern nach Art. 58 Abs. 3 Richtlinie 2014/24/EU möglich, Eignungskriterien vorzusehen, welche die erforderlichen wirtschaftlichen und finanziellen Kapazitäten für die Auftragsausführung sicherstellten. Sie können so finanziell ungeeignete Unternehmen ausschließen. Sie könnten zudem die Teilnahmebedingungen festsetzen, die sie unter anderem für Auftragsausführung in angemessener Qualität für geeignet erachten (Rn. 95; so auch EuGH, Urt. v. 26.01.2023 - C-403/21 Rn. 60 „Construct“; EuGH, Urt. v. 31.03.2022 - C-195/21 Rn. 50 „Smetna palatana Republika Bulgaria“).
Der EuGH widerspricht in Rn. 91 ebenfalls der Begründung, dass nur die Direktvergabe an ein staatliches Unternehmen den Anforderungen an die Informationssicherheit genügen könne. Er nennt fünf Möglichkeiten, wie Polen seine Sicherheitsinteressen auch unter dem Regime der Richtlinie 2014/24/EU hätte schützen können. Erstens hindere die Notwendigkeit einer Vertraulichkeitsprüfung der Bieter nicht an der Auftragsvergabe nach der Richtlinie 2014/24/EU (so bereits EuGH, Urt. v. 20.03.2018 - C-187/16 Rn. 89 „Kommission/Österreich“; EuGH, Urt. v. 08.04.2008 - C-337/05 Rn. 52 „Kommission/Italien“). Zweitens könne der öffentliche Auftraggeber nach Rn. 92 hohe Anforderungen an die Eignung und Vertrauenswürdigkeit stellen (so auch EuGH, Urt. v. 20.03.2018 - C-187/16 Rn. 91 f. „Kommission/Österreich“; EuGH, Urt. v. 05.12.1989 - C-3/88 Rn. 15 „Kommission/Italien“). Drittens seien etwa technische Spezifikationen nach Art. 42 Richtlinie 2014/24/EU möglich gewesen, um dort Anforderungen an die Informationssicherheit festzusetzen. Nach Art. 42 Abs. 1 Unterabs. 2 Richtlinie 2014/24/EU dürfen sich technische Spezifikationen auch auf die Erbringung der Leistung beziehen. Viertens könne ein öffentlicher Auftraggeber auch über die Verfahrenswahl den Kreis der eingeweihten Wirtschaftsteilnehmer verkleinern. So sei etwa ein nicht offenes Verfahren nach Art. 28 Richtlinie 2014/24/EU denkbar. Auch im Verhandlungsverfahren könne der öffentliche Auftraggeber nach Art. 29 Abs. 6 Richtlinie 2014/24/EU die Anzahl der Teilnehmer, im wettbewerblichen Dialog nach Art. 30 Abs. 4 Richtlinie 2014/24/EU die Anzahl der Lösungen verringern (Rn. 97). Zuletzt dürfe der öffentliche Auftraggeber auch Geheimhaltungsverpflichtungen in den Ausschreibungsbedingungen aufnehmen und vertragliche Sanktionen festlegen, wenn ein Wirtschaftsteilnehmer dagegen verstoße (Rn. 99).
Anders bewertete der EuGH indes Dokumente im Sicherheits- und Verteidigungssektor. Diese Dokumente hätten einen unmittelbaren und engen Zusammenhang mit dem Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit (Rn. 107). Die Dokumente beträfen Bedienstete, deren Tätigkeiten unmittelbar und eng mit Aufgaben verbunden sind, die zur Wahrung der nationalen Sicherheit beitragen. Die Informationen dieser Dokumente – insbesondere die Identität dieser Bediensteten – seien besonders sensibel. Sickerten solche Informationen durch, hätte dies irreparable Schäden für die nationale Sicherheit eines Mitgliedstaates, da Drittstaaten oder terroristischen Vereinigungen diese Informationen würden nutzen können (Rn. 109). Etwaige vertragliche Sanktionen bei Verstoß gegen Geheimhaltungspflichten böten in solchen Fällen keinen ausreichenden Schutz. Denn eine finanzielle Entschädigung werde zwangsläufig erst nach Schadenseintritt gezahlt (Rn. 110 f.).


C.
Kontext der Entscheidung
Die Bereichsausnahme des Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV (bzw. die nationale Umsetzung in § 107 Abs. 2 GWB) hat in der bisherigen Praxis in Deutschland eher selten Bedeutung erlangt (Otting in: Beck’scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, GWB, § 107 Rn. 5; vgl. aber jüngst OLG Düsseldorf, Beschl. v. 01.12.2023 - Verg 22/23), weil Auftraggeber von dieser Möglichkeit häufig keinen Gerbrauch machen. Die Entscheidung liest sich jedoch wie eine Fortsetzung und Präzisierung der Entscheidung im Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich in Sachen „Staatsdruckerei“. Unter Berufung auf nationale Sicherheitsinteressen wurde dort die Herstellung von amtlichen Dokumenten wie Reisepässen, Personalausweisen, Führerscheinen oder Schiffsführerpatenten direkt an die Österreichische Staatsdruckerei vergeben (zum Sachverhalt EuGH, Urt. v. 20.03.2018 - C-187/16 Rn. 35 ff. „Kommission/Österreich“). Dies wertete die Kommission als Verstoß gegen die damaligen Vergaberichtlinien (zur Begründung im Einzelnen EuGH, Urt. v. 20.03.2018 - C-187/16 Rn. 45–68 „Kommission/Österreich“) und der EuGH gab der Kommission im Wesentlichen recht. Die Direktvergaben in Österreich umfassten allerdings nur zivile Dokumente. Aus der Gesamtschau beider Entscheidungen kann der Schluss gezogen werden, dass es somit auf den Inhalt der Information ankommt, die ein Mitgliedstaat offenbaren müsste. Ist diese eng und unmittelbar mit den Sicherheitsinteressen etwa im Sicherheits- und Verteidigungssektor verbunden, kann sich ein Mitgliedstaat auf Art. 15 Abs. 2 und 3 Richtlinie 2014/24/EU i.V.m. Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV berufen.
Eine abschließende Definition der wesentlichen Sicherheitsinteressen bleibt indes weiterhin schwierig (vgl. dazu schon Friton/Wolf in: BeckOK VergabeR, 30. Ed., GWB, § 107 Rn. 52a; Friton/Wolters/Andree, EPPPL 2020, 1, 7). Der EuGH umschreibt in Rn. 79 die Wahrung der wesentlichen Sicherheitsinteressen als Schutz der „wesentlichen Funktionen des Staates und [der] grundlegenden Interessen der Gesellschaft [vor Tätigkeiten], die geeignet sind, die tragenden Strukturen eines Landes im Bereich der Verfassung, Politik, oder Wirtschaft oder im sozialen Bereich in schwerwiegender Weise zu destabilisieren und insbesondere die Gesellschaft, die Bevölkerung oder den Staat als solchen unmittelbar zu bedrohen, wie insbesondere terroristische Aktivitäten“ (vgl. EuGH, Urt. v. 05.04.2022 - C-140/20 Rn. 61 „Commissioner of An Garda Siichana u.a.“; EuGH, Urt. v. 06.10.2020 - C-511/18, C-512/18 u. C-520/18 Rn. 135 „La Quadrature du Net u.a.“). Dabei betont der EuGH gleichzeitig, dass es Sache der Mitgliedstaaten bleibe, die eigenen wesentlichen Sicherheitsinteressen zu bestimmen (dazu bereits zuvor). Zwar liefert auch die deutsche Rechtsprechung keine genauere Definition der wesentlichen Sicherheitsinteressen. Der deutsche Gesetzgeber hat seinen Spielraum aber im GWB-Vergaberecht genutzt. Denn in § 107 Abs. 2 Sätze 2 und 3 GWB sind Regelbeispiele genannt, bei denen wesentliche Sicherheitsinteressen betroffen sein können. Darunter sind verteidigungs- und sicherheitsindustrielle Schlüsseltechnologien, Leistungen betreffend den Grenzschutz oder Terrorismus, sofern ein besonders hohes Maß an Vertraulichkeit erforderlich ist (dazu auch BT-Drs. 19/15603, S. 58; Friton/Wolf in: BeckOK VergabeR, 30. Ed., GWB, § 107 Rn. 53; Otting in: Beck’scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, GWB, § 107 Rn. 7). Entsprechend nahm auch das OLG Düsseldorf jüngst an, dass bei der Beschaffung bestimmter militärischer Systemfunkgeräte die wesentlichen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik betroffen seien (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 01.12.2023 - Verg 22/23 Rn. 101 f.).
Erneut unterstreicht der EuGH auch in diesem Urteil den Ausnahmecharakter der Bereichsausnahme durch das strenge Erfordernis des engen, unmittelbaren Zusammenhangs zwischen den Informationen, die ein Auftraggeber in einem Auftrag offenbaren müsse, und den wesentlichen Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaates (zum Ausnahmecharakter Friton/Wolters/Andree, EPPPL 2020, 1, 7 f.). Nach dem EuGH sind die Ausnahmen nach Art. 346 AEUV nämlich nur in ganz bestimmten außergewöhnlichen Fällen anwendbar (EuGH, Urt. v. 08.04.2008 - C-337/05 Rn. 43 „Kommission/Italien in Sachen ‚Agusta‘“). Der Mitgliedstaat müsse dabei nachweisen, dass die beabsichtigten Befreiungen nicht die Grenzen der genannten außergewöhnlichen Fälle überschreite (EuGH, Urt. v. 08.04.2008 - C-337/05 Rn. 44 „Kommission/Italien“). Die Bereichsausnahmen in Art. 346 AEUV seien daher eng auszulegen, wie auch dieses Urteil in Rn. 81 nochmals klarstellt (ebenso in EuGH, Urt. v. 20.03.2018 - C-187/16 Rn. 77 „Kommission/Österreich“; EuGH, Urt. v. 07.06.2012 - C-615/10 Rn. 35 „InsTiimi“; EuGH, Urt. v. 15.12.2009 - C-284/05 Rn. 46 „Kommission/Finnland“; vgl.a. zuletzt in OLG Düsseldorf, Beschl. v. 01.12.2023 - Verg 22/23 Rn. 88).
Will ein Mitgliedstaat die Bereichsausnahme in Anspruch nehmen, muss er zuletzt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten, § 97 Abs. 1 Satz 2 GWB bzw. Art. 18 Abs. 1 Richtlinie 2014/24/EU (Friton/Wolf in: BeckOK VergabeR, 30. Ed., GWB, § 107 Rn. 54; Otting in: Beck’scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, GWB, § 107 Rn. 8; Röwekamp in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, 5. Aufl. 2020, § 107 Rn. 40). Dies zeigt der EuGH beispielhaft auch in dieser Entscheidung (Rn. 106). Daraus erklärt sich, warum er bei zivilen Dokumenten vertragliche Sanktionen als ausreichend bewertet, um Sicherheitsinteressen zu wahren (Rn. 99), bei verteidigungs- und sicherheitsbezogenen Dokumenten indes nicht (Rn. 110). Je sensibler die bedrohten Informationen sind, desto höher können auch die Anforderungen sein, die der Mitgliedstaat an deren Sicherheit stellt.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Im deutschen Vergaberecht hat die Bereichsausnahme des Art. 15 Abs. 2 oder 3 Richtlinie 2014/24/EU i.V.m. Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV insbesondere Niederschlag gefunden in § 107 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GWB. Will sich ein öffentlicher Auftraggeber auf diese Ausnahmen berufen, muss er die größte Sorgfalt bei der Rechtfertigung aufwenden. Nur weil ein Auftrag wesentliche Sicherheitsinteressen Deutschlands betrifft, kann nicht automatisch auf ein Vergabeverfahren verzichtet werden (so in Rn. 80; auch EuGH, Urt. v. 20.03.2018 - C-187/16 Rn. 76 „Kommission/Österreich“). Der öffentliche Auftraggeber muss in einem ersten Schritt sein wesentliches Sicherheitsinteresse genau bestimmen. Die Regelbeispiele in § 107 Abs. 2 Sätze 2 und 3 GWB können dabei als Anhaltspunkte dienen (Friton/Wolf in: BeckOK VergabeR, 30 Ed., GWB, § 107 Rn. 53). In einem zweiten Schritt muss er präzise aufschlüsseln, warum die vergaberechtlichen Vorschriften, die die mitgliedsstaatlichen Sicherheitsinteressen schützen können, nicht ausreichen, um staatliche Interessen zu wahren (vgl. zu den Schritten Otting in: Beck’scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, GWB, § 107 Rn. 6; Röwekamp in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, 5. Aufl. 2020, § 107 Rn. 39).
Diese Erwägungen muss der öffentliche Auftraggeber dann im Vergabevermerk ausführlich dokumentieren (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.12.2009 - VII-Verg 32/09 Rn. 79; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.04.2003 - Verg 61/02 Rn. 20; so auch Friton/Wolf in: BeckOK VergabeR, 30. Ed., GWB, § 107 Rn. 50; Röwekamp in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, 5. Aufl. 2020, § 107 Rn. 40).
Die vorliegende EuGH-Entscheidung zeigt also einerseits – zum wiederholten Male – die Grenzen für Mitgliedstaaten auf, sich auf Art. 346 AEUV zu berufen. Andererseits eröffnet sie im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich den Mitgliedstaaten doch erhebliche Spielräume. Denn die Entscheidung ist in dieser Hinsicht vergleichsweise knapp und diskutiert nur kurz, welche Möglichkeiten die Vergaberichtlinie vorsieht, den betreffenden Auftrag auszuschreiben. Damit fallen aber insbesondere die Instrumente unter den Tisch, die die Verteidigungs- und Sicherheitsrichtlinie 2009/81/EG für einen vertraulichen Umgang mit sensiblen Informationen, vorsieht. Eine solche Tendenz zu einer großzügigeren Auslegung der Ausnahmevorschrift Art. 346 AEUV lässt sich auch in der jüngsten Entscheidung des OLG Düsseldorf (Beschl. v. 01.12.2023 - Verg 22/23) beobachten. Es bleibt abzuwarten, ob diese Entscheidungen angesichts der derzeitigen geopolitischen Situation einen Wandel in der Rechtsprechung einleiten oder ob sie Einzelfälle bleiben.



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