juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BSG 1. Senat, Urteil vom 29.08.2023 - B 1 KR 26/22 R
Autor:Dr. Matthias Schömann, RA
Erscheinungsdatum:30.01.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 92 SGB 5, § 31 SGB 5
Fundstelle:jurisPR-MedizinR 1/2024 Anm. 1
Herausgeber:Möller und Partner - Kanzlei für Medizinrecht
Zitiervorschlag:Schömann, jurisPR-MedizinR 1/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Anforderungen an die Verordnung von Cannabis-Produkten



Orientierungssätze

1. Zu den Anforderungen an eine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes für die Versorgung mit getrockneten Cannabisblüten nach § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst b SGB V.
2. Krankenkassen und Gerichte dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist.



A.
Problemstellung
Im Wesentlichen ging es in dem Urteil um zwei Punkte, die der 1. Senat des BSG zu entscheiden hatte: 1. Welche Anforderungen müssen erfüllt sein, damit eine ärztliche Einschätzung als begründete Einschätzung i.S.d. § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V anzusehen ist und 2. in welchem Umfang dürfen die Krankenkassen und letztlich auch die Gerichte diese Entscheidung überprüfen?


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die 1968 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse versichert. Ihr Hausarzt beantragte bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für eine Cannabisversorgung. Als Diagnose gab er ein chronisches Schmerzsyndrom bei Fibromyalgie und Lupus erythematodes (eine Autoimmunerkrankung) bei bestehender Epilepsie an. Als Behandlungsziel nannte er Schmerzlinderung, die medikamentöse Therapie sowie die Physiotherapie seien nach Auffassung des Hausarztes nicht ausreichend erfolgreich gewesen, die Klägerin sei austherapiert. Nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes lehnte die Beklagte den Antrag ab, ebenso wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Im Widerspruchsverfahren wies die Klägerin auf eine Heroinabhängigkeit hin, so dass eine Opiattherapie für sie nicht in Betracht komme.
Klage und Berufung gegen hatten keinen Erfolg. Nach Ansicht des Berufungsgerichts sei bereits zweifelhaft, ob es sich bei der Erkrankung der Klägerin um eine schwerwiegende Erkrankung i.S.d. § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V handle. Jedenfalls stehen zur Behandlung der Erkrankung der Klägerin allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung (Schmerztherapie). Weiterhin liege keine begründete Einschätzung eines Vertragsarztes vor, die geeignet sei, die gesetzlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Es fehle die Antwort des Arztes auf die Frage, welche Therapien wann und mit welchem Erfolg durchgeführt worden seien. Dies sei im vorliegenden Fall von besonderer Bedeutung, da bei der bestehenden Erkrankung eine Therapie mit Cannabinoiden kontraindiziert sei. Das Berufungsgericht vertrat auch die Auffassung, dass die „begründete Einschätzung“ des Vertragsarztes im gerichtlichen Verfahren nicht mehr nachgeholt werden könne, da diese nach dem Wortlaut der Norm (§ 31 Abs. 6 SGB V) bis zur Entscheidung durch die Kasse vorliegen müsse. Das Gericht sehe sich deshalb an einer entsprechenden Beweisaufnahme gehindert (LSG Hamburg, Urt. v. 31.08.2022 - L 1 KR 18/22).
Der 1. Senat des BSG hat die gegen diese Entscheidung erhobene Revision zurückgewiesen.
Im Wesentlichen begründete er seine Entscheidung mit den fehlenden Anspruchsvoraussetzungen der leistungsrechtlichen Vorschrift. Es könne vorliegend offenbleiben, ob es sich bei der Erkrankung der Klägerin um eine schwerwiegende i.S.d. § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V handle. Der Leistungsanspruch scheitere vorliegend bereits am Fehlen der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes nach § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V. Ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis setze voraus, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung stehe.
Vorliegend komme nach den bindenden Feststellungen der Vorinstanz eine Schmerztherapie in Betracht. Die Durchführung einer solchen wurde aber weder von der Klägerin noch ihrem behandelnden Vertragsarzt behauptet oder sei sonst ersichtlich. In diesem Falle hätte der behandelnde Vertragsarzt oder die behandelnde Vertragsärztin unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten eine begründete Einschätzung gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V abgeben müssen, warum diese Therapie nicht zur Anwendung gekommen sei. Dabei stehe dem Arzt oder der Ärztin zwar eine Einschätzungsprärogative zu, an die begründete Einschätzung seien aber in Anschluss an die Rechtsprechung des Senats (BSG, Urt. v. 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R) hohe Anforderungen zu stellen.
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz hat der 1. Senat des BSG klargestellt, dass die Versicherten diese begründete Einschätzung auch noch bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz vorlegen oder ergänzen können. Sowohl die den Antrag prüfenden Krankenkassen als auch später die Gerichte dürfen die begründete Einschätzung nur daraufhin prüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar seien und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel sei. Eine weiter gehende Prüfung des Abwägungsergebnisses auf Richtigkeit sei aufgrund der Einschätzungsprärogative ausgeschlossen.
Vorliegend fehle es aber nach den Feststellungen der Vorinstanz an einer solch begründeten Einschätzung und somit an einer Tatbestandsvoraussetzung des Leistungsanspruchs. Der behandelnde Vertragsarzt habe nicht begründet, warum eine Schmerztherapie nicht zur Anwendung kommen könne.


C.
Kontext der Entscheidung
Interessant ist die Entscheidung vor dem Hintergrund einer Neuregelung in § 31 Abs. 7 SGB V, die durch Art. 2 des Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) – Gesetz v. 19.07.2023 - BGBl 2023 I Nr. 197 – eingefügt worden ist. Danach hat der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Nr. 6 SGB V das Nähere zu einzelnen Facharztgruppen und den erforderlichen Qualifikationen, bei denen der Genehmigungsvorbehalt entfällt, festzulegen. FachärztInnen, die diese Anforderungen erfüllen und ein Produkt nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V verordnen, müssen ihre Verordnung nicht mehr genehmigen lassen. Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass ein dennoch von ihnen eingereichter Antrag von den Kassen auch nicht genehmigt werden kann, da der Antrag bereits unzulässig sein dürfte.
Ob die Neuregelung tatsächlich die Versorgung vereinfacht oder aber nicht vielmehr auch zu Unsicherheiten bei den Verordnenden sorgt, bleibt abzuwarten.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Regelung des § 31 Abs. 6 SGB V ist noch recht neu und war von Anfang an umstritten. Der Gesetzgeber hat für den Leistungsanspruch sehr hohe Hürden festgeschrieben, gleichzeitig aber auch den Krankenkassen die Möglichkeit auf das Verordnungsverhalten Einfluss zu nehmen, stark eingeschränkt. Zwar besteht für die erstmalige Verordnung ein formaler Genehmigungsvorbehalt, allerdings dürfen die Krankenkassen die Genehmigung nur in begründeten Ausnahmefällen ablehnen. Ein solcher Ausnahmefall ist jedenfalls anzunehmen, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des Leistungsanspruchs im Übrigen nicht vorliegen.
Der 1. Senat des BSG hat mit dem vorliegenden Urteil seine bisherige Rechtsprechung bestätigt und den Krankassen den Spielraum aufgezeigt, den sie im Rahmen des Genehmigungsverfahrens haben. Praktisch als Korrektiv zu der eben erwähnten vom Gesetzgeber statuierten faktischen Genehmigungspflicht stellt der Senat hohe Anforderungen an die begründete Einschätzung des verordnenden Arztes bzw. der verordnenden Ärztin nach § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V. Damit können die Kassen die Genehmigung verweigern, wenn diese Einschätzung nicht den vom 1. Senat herausgearbeiteten Mindestanforderungen entspricht, sie muss mindestens die folgenden Punkte beinhalten:
• die Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf. Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte;
• die Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen, ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels;
• bereits angewendete Standardtherapien, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen;
• die noch verfügbaren Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei auftretende Nebenwirkungen;
• die Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis; in die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen.
Sofern die Einschätzung zu diesen Punkten Stellung nimmt, dürfen die Kassen dann aber keine weitere Prüfung vornehmen. Insbesondere ist es ihnen aufgrund der Einschätzungsprärogative des Arztes oder der Ärztin verwehrt, die Anwendbarkeit einer verfügbaren Standardtherapie selbst zu beurteilen und diese Beurteilung an die Stelle der Abwägung des Arztes oder der Ärztin zu setzen. Sie dürfen nur noch überprüfen, ob die Angaben in der Einschätzung als Grundlage der Abwägung unvollständig oder inhaltlich nicht nachvollziehbar sind und das Abwägungsergebnis unplausibel ist. Die gleichen Maßstäbe gelten auch für die Überprüfung durch ein Gericht.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Ebenfalls klarstellend führt das Gericht aus, dass die Frage, ob eine Erkrankung schwerwiegend i.S.d. § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V sei, nicht von der Diagnose abhänge, sondern dass es auf die konkreten Auswirkungen der Erkrankung auf die Lebensqualität ankomme.
Revisionsrechtlich sind die Ausführungen zum Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz von Interesse. Klägerseitig wurde ein solcher Verstoß gerügt, das Landessozialgericht habe es unterlassen, eine konkrete Befragung des behandelnden Arztes vorzunehmen. Allerdings habe die Klägerin diesen Verfahrensfehler nicht ausreichend begründet. Bei einer behaupteten Verletzung der Amtsermittlungspflicht sei darzulegen, dass und inwiefern sich das Landessozialgericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen.



Immer auf dem aktuellen Rechtsstand sein!

IHRE VORTEILE:

  • Unverzichtbare Literatur, Rechtsprechung und Vorschriften
  • Alle Rechtsinformationen sind untereinander intelligent vernetzt
  • Deutliche Zeitersparnis dank der juris Wissensmanagement-Technologie
  • Online-First-Konzept

Testen Sie das juris Portal 30 Tage kostenfrei!

Produkt auswählen

Sie benötigen Unterstützung?
Mit unserem kostenfreien Online-Beratungstool finden Sie das passende Produkt!