News & Abstracts

Autor:Prof. Dr. Ansgar Staudinger
Erscheinungsdatum:30.01.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 651i BGB, § 651o BGB, § 651y BGB, § 651j BGB, § 313 BGB, § 651h BGB, § 651n BGB, § 651a BGB, § 138 BGB, § 535 BGB, § 651m BGB, § 305c BGB, EURL 2015/2302
Fundstelle:jurisPR-IWR 1/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Ansgar Staudinger, Universität Bielefeld
Zitiervorschlag:Staudinger, jurisPR-IWR 1/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Editorial: Auch Donnerstag, der 12. und nicht nur Freitag, der 13. kann für Reiseveranstalter ein Unglückstag sein - Erste Erläuterungen zum Entscheid des EuGH vom 12.01.2023 in der Rechtssache C-396/21

Auf Vorlage des LG München I gelangt der Gerichtshof in der Interpretation von Art. 14 Abs. 1 der zweiten Pauschalreise-Richtlinie zu dem Ergebnis, dass Reiseveranstalter selbst dann zu einer Herabsetzung des Reisepreises und mithin einer Minderung verpflichtet sind, wenn die Einschränkungen, die ein Kunde im Zielgebiet erleidet, Corona-bedingt beispielsweise auf behördliche Anordnungen zurückgehen.

Das Vorlageverfahren betraf Kunden, die im Zuge einer bei FTI Touristik gebuchten Pauschalreise in Gran Canaria (Spanien) durch Anordnung der dortigen Behörden unter anderem wegen einer Sperrung nicht mehr die Strände nutzen konnten. Zudem hatten die Behörden eine Ausgangssperre verhängt. In der Hotelanlage waren die Kunden somit angehalten, ihre Zimmer lediglich zur Nahrungsaufnahme zu verlassen, während der Zugang zu Pools und Liegen untersagt blieb und das Animationsprogramm eingestellt wurde. Diese behördlichen Maßnahmen erfolgten am 15.03.2020, am 18.03.2020 wurde seitens des Veranstalters den Kunden überdies mitgeteilt, dass sie sich bereithalten müssten, die Insel jederzeit zu verlassen. Am übernächsten Tag waren sie gezwungen, nach Deutschland zurückzukehren.

Nach ihrer Rückkehr verlangten die Kunden von FTI Touristik eine Reisepreisminderung i.H.v. 70%, insgesamt 1.018,50 Euro. Der gegnerische Reiseveranstalter verweigerte die Zahlung mit dem Argument, er habe nicht für ein derartiges „allgemeines Lebensrisiko“ einzustehen. Das AG München schloss sich dieser Auffassung insoweit an, als die Eingangsinstanz die von den spanischen Behörden veranlassten Maßnahmen zur Bekämpfung der Verbreitung der Pandemie zum Schutz der Gesundheit sowie darauf basierende Einschränkungen nicht als Reisemangel i.S.v. § 651i BGB qualifizierte. Die Kunden legten daraufhin gegen die Ausgangsentscheidung beim LG München I Berufung ein. Dieser Spruchkörper sah sich veranlasst, die Konstellation mit einigen Fragen dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung zu unterbreiten.

Im Zentrum steht die in der vollharmonisierenden Pauschalreise-Richtlinie II erstmals angelegte Minderung als verschuldensunabhängiges Gestaltungsrecht. Nach dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 1 des Sekundärrechtsaktes sind die Mitgliedstaaten nach dieser Vorschrift verpflichtet sicherzustellen, dass ein Reisender Anspruch auf eine angemessene Preisminderung für jeden Zeitraum hat, in dem eine Vertragswidrigkeit vorlag. Die einzige dem Wortlaut nach vom Europäischen Gesetzgeber vorgesehene Entlastung bzw. Ausnahme von diesem Grundsatz besteht darin, dass die Vertragswidrigkeit dem Reisenden zuzurechnen ist. Diese wiederum wird in Art. 3 Nr. 13 der aktuellen Pauschalreise-Richtlinie dahin definiert, dass unter den Oberbegriff sowohl die Nicht-Erbringung als auch mangelhafte Erbringung der in einer Pauschalreise zusammengefassten Reiseleistungen fällt. Bereits nach der grammatikalischen Interpretation liegt auf der Hand, dass tatbestandsmäßig ein Reisemangel in Form der Nicht- oder mangelhaften Erbringung der versprochenen Reiseleistung gleichermaßen darin zu sehen ist, wenn beispielsweise durch behördliche Maßnahmen veranlasst etwaige Angebote wie die Nutzung des Pools oder Animationsprogramme ausbleiben. So ist dem Wortlaut nach die Ursache der Vertragswidrigkeit, vor allem die Zurechenbarkeit zum Veranstalter, irrelevant. Einzig und allein sieht der Europäische Gesetzgeber eine Ausnahme dann vor, wenn die Vertragswidrigkeit dem Pauschalreisenden selbst zuzurechnen ist. Da Ausnahmen im Wege der systematischen Auslegung restriktiv zu interpretieren sind, lässt sich jedenfalls über den Wortlaut dieses Ausnahmetatbestandes kein weiterer Entlastungsgrund in die klar und transparent gefasste Regelung von Art. 14 Abs. 1 der zweiten Pauschalreise-Richtlinie hineinlesen. Es erscheint folglich unerheblich, ob beispielsweise die Vertragswidrigkeit durch behördliche Maßnahmen ausgelöst wird, die letztlich eine Reaktion auf „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“ i.S.v. Art. 3 Nr. 12 des Sekundärrechtsaktes wie eine Pandemie sind. Vor allem bleibt zu bedenken, dass Art. 14 Abs. 1 im Zusammenspiel mit Art. 4 der aktuellen Pauschalreise-Richtlinie einen Ausschnitt eines vollharmonisierenden Regimes bildet. Danach schreibt die Europäische Legislative nicht nur dem Grunde nach eine verschuldensunabhängige Einstandspflicht des jeweiligen Reiseveranstalters vor, sondern schränkt diese Verpflichtung abschließend durch einen einzigen Entlastungstatbestand ein.

Für das anhand der Interpretation durch den Wortlaut gewonnene Ergebnis lässt sich überdies die systematische Interpretation und ein Umkehrschluss anführen. So gilt laut Art. 14 Abs. 2 und 3 des Sekundärrechtsakts beim Schadensersatzanspruch ein abweichendes Modell. Dort geht es allerdings um eine andere Kategorie von Sanktion. Während die Reisepreisminderung eine verschuldensunabhängige Einstandspflicht des Veranstalters im Sinne eines Gestaltungsrechts regelt, handelt es sich beim Schadensersatzanspruch um eine Forderung, welche dadurch eine andere Rechtsqualität erlangt, dass in enumerativ aufgeführten Fällen der Veranstalter von einer solchen Schadensersatzpflicht befreit wird. Indem aber der supranationale Gesetzgeber die Zweispurigkeit von Minderung und Schadensersatzanspruch innerhalb ein und desselben Artikels in unterschiedlicher Weise vorsieht, wird eindeutig die Regelungsabsicht der Europäischen Legislative ersichtlich. Eine Rechtsfortbildung und somit eine Korrektur des Wortlauts von Art. 14 Abs. 1 des Sekundärrechtsakts scheidet dogmatisch also aus. Dies erweist sich als konsequent, da letztlich die verschuldensunabhängige Minderung nur auf den Ausgleich des Äquivalenzinteresses gerichtet ist. Die Reichweite dieses Rechtsbehelfs ist dementsprechend eine vollkommen andere als ein Schadensersatzanspruch, der sogar auf den Ersatz von Mangelfolgeschäden gerichtet sein kann, Sach- wie Personenschäden einschließt und dem Ausgleich nicht nur materieller, sondern auch immaterieller Schadenspositionen dient, wie etwa Schmerzensgeld oder entgangene Urlaubsfreude. Dies folgt aus Erwägungsgrund Nr. 34 Satz 7 der zweiten Pauschalreise-Richtlinie zu der betreffenden Schadensersatzforderung. Die grammatikalische Auslegung von Art. 14 Abs. 1 wird demzufolge durch die Binnensystematik von Art. 14 Abs. 1 auf der einen und Abs. 2 sowie 3 des Sekundärrechtsakts auf der anderen Seite untermauert.

Hinzu kommt ebenso noch die Entstehungsgeschichte und damit der historische Entstehungsprozess von Art. 14 Abs. 1 der Pauschalreise-Richtlinie II. So gab es ursprünglich einen Vorschlag, der einen Gleichlauf von Minderung und Schadensersatzanspruch vorsah. Von diesem Konzept ist allerdings der Europäische Gesetzgeber zu Recht abgewichen, da sich die dogmatischen Strukturen von verschuldensunabhängigem Gestaltungsrecht und Schadensersatzansprüchen unterscheiden.

Für das vom Wortlaut her abgeleitete Ergebnis lässt sich über die systematische und historische Auslegung ferner der Verbraucherschutzgedanke ins Feld führen. So ist die vollharmonisierende Richtlinie allein schon nach ihrem Art. 1 beispielsweise dem Zweck verpflichtet, einen hohen Kundenschutz zu bewirken.

Der Gerichtshof kommt dementsprechend konsequenterweise zu dem Ergebnis, dass aus Art. 14 Abs. 1 des Sekundärrechtsakts nur ein einziges Ergebnis abzuleiten ist, dass nämlich lediglich solche Konstellationen nicht zu einem Reisemangel und in der Folge zu einer Preisminderung führen, wenn die Vertragswidrigkeit dem Kunden selbst zuzurechnen ist. Daher ist es dogmatisch unzulässig, in den Tatbestand einen ungeschriebenen Filter wie das „allgemeine Lebensrisiko“ hinzulesen. Dies gilt gleichermaßen für die sog. „unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände“.

Die Entscheidung des EuGH wirkt intertemporal auf das Inkrafttreten der Novellierung nach Ablauf der Umsetzungsfrist zurück. Seit dem 01.07.2018 ist dementsprechend der Veranstalter nach § 651m BGB in richtlinienkonformer Auslegung selbst dann zur Minderung verpflichtet, wenn sich ein „allgemeines Lebensrisiko“ realisiert bzw. einer der zuvor genannten Umstände den Reisemangel begründet. Der frühere abweichende Ansatz in der Judikatur auf der Grundlage des alten Pauschalreiserechts ist mithin Makulatur. Wenn demnach ein Reisemangel mit dem Argument abgelehnt wurde, es habe sich ein „allgemeines Lebensrisiko“ verwirklicht, kann eine solche Entscheidung nicht auf das novellierte Modell der Minderung in § 651m BGB übertragen werden. Teils gelten Entscheidungen mit vereinfachter Begründung fort, wie etwa das Urteil des BGH vom 06.12.2016 (X ZR 117/15). Dort gelangt der erkennende Zivilsenat zu dem Ergebnis, bei einem Unfall im Shuttlebus verwirkliche sich selbst dann nicht ein „allgemeines Lebensrisiko“, wenn der Unfall auf einen Geisterfahrer zurückzuführen sei. Der Kunde habe sich vielmehr in der Obhut des Veranstalters befunden. Nunmehr ist nach § 651m BGB allein entscheidend, dass der Unfall nicht dem Kunden zuzurechnen ist.

In der Vergangenheit das „allgemeine Lebensrisiko“ als Korrektiv bei der Minderung zu prüfen, war insoweit nicht europarechtswidrig. Denn die frühere Pauschalreise-Richtlinie sah lediglich einen Mindeststandard vor, der die Minderung nicht einschloss. Bis zum 01.07.2018 stellte die Minderung demnach ein rein nationales Gestaltungsinstrument dar, und die Judikatur war dahingehend frei, sie richterrechtlich auszugestalten. Demgegenüber schreibt nunmehr der Nachfolgerechtsakt binnenmarktweit und vollharmonisierend vor, dass sämtliche Kunden eben auch verschuldensunabhängig bei einer mangelhaften Erbringung oder Nicht-Erbringung von versprochenen Reiseleistungen einen Abzug vom Gesamtreisepreis verlangen können. Gerade vor dem Hintergrund der bezweckten Rechtseinheit und Rechtssicherheit wäre der EuGH schlecht beraten gewesen, in den klaren Wortlaut etwas Ungeschriebenes wie das „allgemeine Lebensrisiko“ als Korrektiv hineinzulesen. Letztendlich hätte dies bedeutet, das Konzept eines „europäischen Lebensrisikos“ als bloße Fiktion zu entwickeln, sind doch die Lebensverhältnisse in den Mitgliedstaaten allzu unterschiedlich. Ein derart ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal hätte es der Justiz in jedem Mitgliedstaat erlaubt, bei seinen Umsetzungsvorschriften die Vorfrage aufzuwerfen, ob bestimmte Fallkonstellationen noch als Vertragswidrigkeit und damit als Reisemangel einzustufen wären. Man hätte dementsprechend im Nachgang zu einer vollharmonisierenden Richtlinie zwar in den einzelnen Kodifikationen gleichlautende Umsetzungsvorschriften gehabt, die Auslegung und Handhabung dieser Normen hätte allerdings dann wieder zu einem Flickenteppich geführt.

Aus dem EuGH-Entscheid folgt überdies, dass ebenso weitere Filter nicht in Art. 14 Abs. 1 der Pauschalreise-Richtlinie II hineingelesen werden können. Dies betrifft etwa die von der Judikatur befürworteten Bagatellgrenzen. Ein solches Korrektiv sieht Art. 14 Abs. 1 des Sekundärrechtsakts auf der Tatbestandsebene ebenso wenig als Ausschluss vor. Es erscheint letztlich auch verzichtbar. Denn sollte es sich um eine lediglich kleinere Vertragswidrigkeit handeln, so lässt sich dem Umstand des fehlenden Gewichtes auf der Rechtsfolgenseite bei der Bezifferung der Höhe der Erstattung ausreichend Rechnung tragen. Demgegenüber ist nicht einzusehen, weshalb a priori dem Ausbleiben bestimmter versprochener Reiseleistungen bzw. der nicht einwandfreien Erbringung keinerlei Relevanz zukommen soll, indem Vertragswidrigkeiten „wegdefiniert“ werden. Gleichermaßen ist im Kaufrecht, welches ebenso teils durch europäische Vorgaben wie etwa aktuell die Warenkauf-Richtlinie geprägt wird, eine solche Bagatellgrenze nicht vorgesehen.

Der EuGH weist auf einen weiteren Aspekt hin, was die Rechtsfolgenseite und mithin die Höhe der Minderung betrifft. Abweichend von den Schlussanträgen der Generalanwältin bleibt der Gerichtshof gleichermaßen bei der höhenmäßigen Taxierung konsequent und stellt lediglich objektiv darauf ab, inwieweit das Äquivalenzverhältnis gestört ist, ohne dem mangelnden Verschulden auf Seiten des Veranstalters zu seinen Gunsten Rechnung zu tragen. Zusammengefasst spielt das fehlende Vertretenmüssen bei der Minderung weder auf der Tatbestandsebene eine Rolle. Allein der Ausschlussgrund, dass der Kunde die Vertragswidrigkeit selbst verursacht hat, befreit den Veranstalter von der Sanktion der Minderung. Ebenso wenig kann der Aspekt, dass es sich bei der Pandemie um einen „unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstand“ handelt, einen Einfluss nehmen auf die Höhe der Minderung. Allerdings soll nach Ansicht des EuGH die konkrete Höhe der Rückerstattung nach Art. 13 Abs. 2 und dem 34. Erwägungsgrund Sätze 7 und 8 des Sekundärrechtsakts dadurch beeinflusst werden, dass der Reisende die bemerkte Vertragswidrigkeit entgegen der Vorgabe des Europäischen Privatrechtes nicht unverzüglich dem Veranstalter mitteilt (§ 651o Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB). Nach dem Erwägungsgrund 34 Satz 8 der aktuellen Pauschalreise-Richtlinie kann eine solche Verhaltensweise dazu führen, dass die fehlende oder nicht rechtzeitige Mitteilung zur einer geringeren Minderungsquote führt. Auch diese Vorgabe bezogen auf die Rechtsfolgenseite ist in § 651m BGB richtlinienkonform hineinzulesen.

Dem Reiseveranstalter sind insofern die Hände gebunden, als § 651y Satz 1 BGB abweichende Individual- wie Formularabreden zum Nachteil des Kunden verbietet. Dies betrifft gleichermaßen die Tatbestandsseite der Minderung in § 651m BGB wie deren Bezifferung der Höhe.

Der Entscheid aus Luxemburg hat für die Reiseveranstalter dramatische Konsequenzen: Aus dem Urteil folgt mit Bindungswirkung für 27 Mitgliedstaaten, dass sich Kunden – Verbraucher wie Geschäftsreisende – seit dem 18.07.2018 stets tatbestandsmäßig auf einen Reisemangel und als Sanktion auf die Minderung hätten berufen können, selbst wenn die ausgebliebene oder mangelhaft erbrachte Leistung auf Umständen basierte, die unvermeidbar sowie außergewöhnlich und daher eigentlich dem Reiseveranstalter nicht zuzurechnen waren. Ebenso war seit diesem Stichtag irrelevant, ob sich ein „allgemeines Lebensrisiko“ realisierte. Ausgeschlossen blieb die Minderung nur, sofern sich der Kunde die Vertragswidrigkeit zurechnen lassen musste. Damit dürften Reisenden nunmehr gerade aus der Pandemiezeit noch etliche Forderungen gegen Veranstalter zustehen, deren Durchsetzung sicherlich „Opferanwälte“ bzw. Legal-Tech-Unternehmen betreiben werden. Als einziges Bollwerk bleibt den Reiseveranstaltern das Verjährungsregime. Hier sieht Art. 14 Abs. 6 der aktuellen Pauschalreise-Richtlinie eine Zwei-Jahres-Frist vor, welche der hiesige Gesetzgeber in der Weise umgesetzt hat, dass dem Kunden gemäß § 651j BGB zwei Jahre für die Geltendmachung von Ansprüchen verbleiben, und zwar gerechnet vom letzten Tag des vertraglichen Reiseendes an. Wenn man allerdings allein den Zeitraum der Pandemie sieht, sind durch diese Befristung von etwaigen Gestaltungsrechten vermutlich Forderungen in einer sehr großen Höhe noch gegen die Veranstalter zu richten, sofern sich nicht Kunden zu früh vor der EuGH-Entscheidung an die innerstaatliche Justiz gewandt haben und möglicherweise eine Klageabweisung erfolgte, die mittlerweile in Rechtskraft erwachsen ist. Hier wird der EuGH-Entscheid zu keiner Korrektur führen können, da die Rechtskraft ebenso nach europarechtlichen Grundsätzen ein hohes Gut ist. Auch eine Staatshaftung lässt sich wohl kaum darauf stützen, dass diejenigen Amts- oder Landgerichte, die eine Minderung abgelehnt haben, in qualifizierter Weise gegen Europarecht verstoßen haben.

Die Pauschalreiserichtlinie II sieht bei „unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umständen“ in der Gesamtschau ein abweichendes Burden-Sharing vor, als es sich in Deutschland abseits der §§ 651a ff. BGB aus der Störung der Geschäftsgrundlage nach Maßgabe von § 313 BGB ergeben würde. So steht den Kunden nunmehr eine kostenfreie Abstandnahme nach § 651h Abs. 3 BGB zu. Der Reisende kann ebenso im Zielgebiet in einer derartigen Krisensituation laut § 651k Abs. 4 und 5 BGB verlangen, dass der Veranstalter ihn auf seine Kosten bettet, und dies ggf. nicht einmal auf drei Tage gedeckelt. Hinzu kommt, dass nunmehr die Minderung nach § 651m BGB als verschuldensunabhängiges Gestaltungsrecht selbst bei derartigen von außen kommenden Umständen den Reiseveranstalter nicht privilegiert. Letztlich bleibt als einziger Trost, dass die Minderung maximal bis zum gezahlten Reisepreis reichen kann.

Durch das Urteil des EuGH wird implizit gleichermaßen klargestellt, dass streng zwischen Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 sowie der Pauschalreise-Richtlinie II zu unterscheiden ist. Mithin kann sich ein Reiseveranstalter natürlich einem Kunden gegenüber auf den Entlastungstatbestand der „unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände“ nach § 651n Abs. 1 Nr. 3 BGB insofern berufen, als er beispielsweise Schadensersatz in Form der entgangenen Urlaubsfreude gemäß § 651n Abs. 1 und 2 BGB geltend machen will.

Vor allem erweist es sich im Lichte der EuGH-Entscheidung als Bumerang, wenn man als Veranstalter den Weg gewählt hat, bei Einzelleistungen wie dem Angebot einer Ferienunterkunft freiwillig das Pauschalreiserecht in entsprechender Anwendung dem Kunden zu offerieren und mithin von dem an sich gesetzlich vorgesehenen Regeln des Mietrechts abzuweichen. Die Umsetzung der zweiten Pauschalreise-Richtlinie hat unzweifelhaft den Ausgangspunkt, dass der Veranstalter aus einer Hand mindestens zwei verschiedene Arten von Reiseleistungen anbietet. Dem entspricht § 651a Abs. 2 BGB. In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/12600, S. 13) ist nunmehr klargestellt, dass diese Entscheidung der Legislative eine bewusste war, so dass mangels planwidriger Unvollständigkeit die Justiz jedenfalls an die Kette gelegt ist und keine Rechtsfortbildung betreiben darf. Dessen ungeachtet bleibt es allerdings einem Veranstalter im Ausgangspunkt bis an die Grenzen des AGB-Rechts bzw. anderer Schranken wie § 138 Abs. 1 BGB unbenommen, das Pauschalreiserecht, wenn auch womöglich in abgespeckter bzw. modifizierter Form, anstelle der §§ 535 ff. BGB der entgeltlichen Überlassung einer Ferienunterkunft zugrunde zu legen. Wer dies nun in der Vergangenheit etwa aus Gründen der Vereinfachung der Buchungsstrecken und motiviert von dem Ansatz, dem Kunden eine Einzelleistung „de luxe“ nach Maßgabe des Pauschalreiserechts analog werthaltiger als die Konkurrenz anzubieten, insbesondere wegen des immateriellen Schadensersatzanspruchs wegen entgangener Urlaubsfreude, den das Mietrecht nicht kennt, muss Folgendes gewärtigen: Für diejenigen Veranstalter, die sich freiwillig dem Modell der Minderung aus dem Pauschalreiserecht unterstellt haben, gilt der Entscheid des EuGH mittelbar gleichermaßen. Zwar betrifft die Aussage des Gerichtshofs unmittelbar allein die aktuelle Pauschalreise-Richtlinie und im nächsten Schritt die Transformation der Richtlinie und damit § 651m BGB. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass derjenige, der sich etwa auf das Modell der pauschalreiserechtlichen Minderung in seinem Klauselwerk beruft, dem Kunden als Laien jedenfalls nach § 305c Abs. 2 BGB zum Ausdruck bringt, dass er sich freiwillig den europäischen Wurzeln dieser Minderung und ebenfalls dem Richterrecht aus Luxemburg zur Interpretation supranationalen Vorgaben unterwirft.

Bei der anstehenden Reform der Pauschalreise-Richtlinie wird sicherlich zu diskutieren sein, ob neben einer etwaigen Korrektur einer kostenfreien Abstandnahme vor Reiseantritt nicht ebenso eine Korrektur bei der Minderung in Krisensituationen wie der Pandemie angezeigt ist. Im Zweifel dürfte das Europäische Parlament einen Abbau des Verbraucherschutzstandards und eine Abkehr von EuGH-Judikatur nicht betreiben.


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