juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BGH 2. Zivilsenat, Versäumnisurteil vom 11.07.2023 - II ZR 98/21
Autor:Prof. Dr. Martin Heckelmann, LL.M.
Erscheinungsdatum:24.10.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 179 AktG, § 181 AktG, § 243 AktG, § 241 AktG, § 246 AktG, § 23 AktG
Fundstelle:jurisPR-HaGesR 10/2023 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Jörn-Christian Schulze, RA und FA für Handels- und Gesellschaftsrecht
Zitiervorschlag:Heckelmann, jurisPR-HaGesR 10/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Satzungsdurchbrechende Hauptversammlungsbeschlüsse



Leitsätze

1. Beschlüsse einer Aktiengesellschaft, die gegen körperschaftsrechtliche Satzungsbestimmungen verstoßen und bei denen die für eine Satzungsänderung geltenden Formvorschriften nicht eingehalten werden, sind jedenfalls anfechtbar.
2. Ist die Anfechtungsklage zulässig erhoben, bedarf es im Hinblick auf dasselbe mit Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage verfolgte materielle Ziel, nämlich die richterliche Klärung der Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses und somit seine Beseitigung mit Wirkung für und gegenüber jedermann, keiner Festlegung, ob der Satzungsverstoß zur Nichtigkeit oder nur zur Anfechtbarkeit führt.



A.
Problemstellung
Zu den grundlegenden Problemen des Beschlussmängelrechts gehört das Verhältnis zwischen Nichtigkeit und Anfechtbarkeit. Zwar übt sich die Rechtsprechung auf der prozessualen Seite noch in Milde, weil sie sowohl Anfechtungs- als auch Nichtigkeitsklagen stets in beide Richtungen prüft. Dafür fällt die materiell-rechtliche Abgrenzung umso schwerer. Diese entzündet sich vor allem an Verstößen von Hauptversammlungsbeschlüssen gegen die Satzung.
Betrachtet man den satzungswidrigen Beschluss als missglückten Versuch einer Satzungsänderung, der beispielsweise die qualifizierte Beschlussmehrheit gemäß § 179 Abs. 2 Satz 1 AktG oder das Eintragungserfordernis des § 181 Abs. 1 Satz 1 AktG verfehlt hat, so ist der Beschluss nichtig. § 181 Abs. 3 AktG zeigt, dass der Beschluss keine Wirkungen zeitigt, und zwar unabhängig vom Betrieb eines Beschlussmängelverfahrens. Versteht man den Beschluss hingegen als Maßnahme, bei der die Aktionäre den Widerspruch zur geltenden Satzung schlicht nicht erkannten, liegt eine bloße Anfechtbarkeit nahe. Denn der Satzungsverstoß wird in § 243 Abs. 1 Var. 2 AktG erwähnt, während der Katalog der Nichtigkeitsgründe in § 241 AktG scheinbar keine geeignete Kategorie vorhält.
Zwar ist der Beschluss in beiden Modellen rechtswidrig. Unterschiedlich sind aber die Rechtswirkungen. Ist der Beschluss nämlich lediglich anfechtbar, führt das Versäumnis der Erhebung einer Beschlussmängelklage zur Wirksamkeit des Beschlossenen, § 246 Abs. 1 AktG. Erst diese potenzielle Erstarkung des rechtswidrigen in einen wirksamen Beschluss macht es erforderlich, die beiden oben genannten Interpretationen voneinander abzugrenzen. Dieses Ziel verfolgt die seit mittlerweile 90 Jahren geführte Diskussion um den Begriff des „satzungsdurchbrechenden Beschlusses“ – bislang ohne klares Ergebnis.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Satzung der beklagten AG sah vor, dass unabhängig von gesetzlichen Pflichten der Jahresabschluss stets zu prüfen ist. Diese Pflicht wurde in einigen Jahren nicht beachtet. Als die Gesellschaft dessen gewahr wurde, wollte sie das Thema für die Zukunft und die Vergangenheit lösen. Die Hauptversammlung beschloss wirksam die Änderung der Satzung dahin gehend, dass künftig eine Abschlussprüfung jenseits der gesetzlichen Verpflichtungen im Ermessen des Vorstands liegt. Zudem fasste die Hauptversammlung den Beschluss, dass auf die unterlassenen Jahresabschlussprüfungen der vorangegangenen Jahre verzichtet wird. Gegen letzteren Beschluss klagten zwei Aktionäre.
Die Vorinstanz hatte noch darauf abgestellt, dass sich die Hauptversammlung nachträglich mit dem Umgang der jahrelang unterbliebenen Prüfung beschäftigte. Das impliziere nicht nur keine Satzungsänderung, sondern nicht einmal überhaupt einen Satzungsverstoß (OLG Celle, Beschl. v. 28.04.2021 - 9 U 110/20). Das OLG hielt den Beschluss daher weder für nichtig noch für anfechtbar.
Der BGH teilt diese Einschätzung nicht. Mit dem Verzicht auf die in der Satzung geregelte Pflicht zur Abschlussprüfung verstoße der Beschluss gegen das Gesellschaftsstatut. Ohne Einfluss hierauf bleibe der Umstand, dass der Vorstand tatsächlich über Jahre gegen die Satzungspflicht verstoßen habe. Denn satzungswidriges Verhalten bewirke keine Satzungsänderung.
Sodann wirft der BGH die Frage auf, ob der Verzichtsbeschluss als punktuelle Satzungsdurchbrechung Wirksamkeit erlangen könnte. Er weist darauf hin, dass das Rechtsinstitut der Satzungsdurchbrechung sowohl hinsichtlich seiner Fallgruppen als auch hinsichtlich des Bedürfnisses nach ihm umstritten sei. Anschließend lenkt der BGH ein und erläutert, dass es angesichts des Verstoßes gegen die Satzung keiner Entscheidung zwischen Nichtigkeit und Anfechtbarkeit bedürfe. Deshalb sei der Beschluss jedenfalls für nichtig zu erklären.


C.
Kontext der Entscheidung
Der Umgang mit satzungsdurchbrechenden Beschlüssen ist auf mehreren Ebenen umstritten. Zur Unterscheidung zwischen Nichtigkeit und Anfechtbarkeit braucht es ein Kriterium. Dafür kursieren mehrere Vorschläge.
Der BGH stellt in früheren Entscheidungen auf die Dauer der Wirkung ab. Er entschied, dass die einen Einzelfall regelnde Satzungsdurchbrechung im Grundsatz auch ohne Einhaltung der formellen Voraussetzungen einer Satzungsänderung nicht zur Nichtigkeit, sondern allenfalls zur Anfechtbarkeit führt (BGH, Urt. v. 07.06.1993 - II ZR 81/92 Rn. 13; BGH, Urt. v. 25.11.2002 - II ZR 69/01 Rn. 16; BGH, Urt. v. 20.08.2019 - II ZR 121/16 Rn. 24). Dem stimmen Teile des Schrifttums zu und sehen nur die zustandsbegründende, also auf Dauer angelegte Satzungsdurchbrechung als ohne Weiteres nichtig an (Schäfer in: MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2021, § 243 Rn. 21; Tieves, ZIP 1994, 1341, 1344). Andere wiederum erkennen im Satzungsverstoß stets eine missglückte Satzungsänderung mit der Folge der Nichtigkeit, und zwar unabhängig davon, ob die Maßnahme dauerhaft oder nur im Einzelfall wirken soll (Grigoleit/Ehmann, AktG, 2. Aufl. 2020, § 179 Rn. 31; Koch/Koch, AktG, 17. Aufl. 2023, § 243 Rn. 7; Stein in: MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2021, § 179 Rn. 40; Spindler/Stilz/Holzborn, BeckGroßkommAktG, Juli 2022, § 179 Rn. 51, 52; bereits Habersack, ZGR 1994, 354, 373). Zu Recht wird argumentiert, punktuelle und zustandsbegründende Wirkung ließen sich nicht treffsicher abgrenzen (Stein in: MünchKomm AktG, § 179 Rn. 40).
Als Unterscheidungsmerkmal kommt daneben die Intention in Betracht. Geschah der Verstoß gegen die Satzung ohne entsprechendes Bewusstsein, so soll der Beschluss nach Ansicht einiger eine „schlichte Satzungsverletzung“ darstellen, damit lediglich anfechtbar sein und bei versäumter Beschlussmängelklage wirksam werden können (Koch/Koch, AktG, § 243 Rn. 7; Schäfer in: MünchKomm AktG, § 243 Rn. 21; Spindler/Stilz/Holzborn, BeckGroßkommAktG, Juli 2022, § 179 Rn. 54). Das überzeugt weder dogmatisch noch pragmatisch. Es leuchtet kaum ein, warum ein so gefasster Beschluss gegenüber dem bewussten Satzungsverstoß privilegiert sein soll (Stein in: MünchKomm AktG, § 179 Rn. 42). Weiter fragt sich, in welcher Person dieses subjektive Element zu welchem Zeitpunkt vorhanden sein muss. Seine tatsächliche Feststellung stellt zudem eine Herausforderung dar (Koch/Koch, AktG, § 179 Rn. 8a).
Selbst bei festgestellter oder erklärter Nichtigkeit ist die Diskussion noch nicht beendet. Denn der misslungene Hauptversammlungsbeschluss lässt sich möglicherweise in eine schuldrechtliche Nebenabrede umdeuten, die nur inter partes gilt, dort aber Wirkung entfaltet (dazu vertieft Leitzen, RNotZ 2010, 566, 567 ff.). Dieser Pfad führt freilich aus dem Beschlussmängelrecht heraus in das Verhältnis der Gesellschafter untereinander. Hier stellen sich anspruchsvolle Fragen, unter anderem zum Umfang der Treuepflicht und zur Konstruktion kausaler Schäden infolge treuwidrigen Abstimmungsverhaltens.
Einigkeit besteht lediglich darin, dass faktische Änderungen der Satzung nicht möglich sind. Auch wiederholte Verstöße gegen die Satzung führen nicht dazu, dass die Satzung nachgibt (Koch/Koch, AktG, § 179 Rn. 9; Spindler/Stilz/Holzborn, BeckGroßkommAktG, Juli 2022, § 179 Rn. 57).
Nahe liegt daher der Wunsch, Ordnung in dieses kreative Chaos mit seinen verschiedenen Schichten und Meinungen zu bringen. In der Vergangenheit strich der BGH an dem Thema eher vorbei als sich mit ihm zu beschäftigen. Eher verwirrend ist, dass er am Rande einer zu einem anderen Themenkomplex gehörenden Entscheidung die Satzungsdurchbrechung ansprach, jedoch keine Unterscheidung nach Art oder Intention der Satzungsdurchbrechung traf (BGH, Urt. v. 16.02.2009 - II ZR 185/07 Rn. 30).
Mit der hier besprochenen Entscheidung hatte der BGH folglich eine glänzende Gelegenheit, Licht ins Dunkel zu bringen. Doch er entschied sich ein weiteres Mal dagegen.
Er liegt zwar richtig in der Annahme, dass selbst ein über längere Zeit gepflegtes, satzungswidriges Verhalten noch keine Änderung der Satzung darstellt. Spannender wäre die Überlegung gewesen, ob das Fehlverhalten selbst eine Satzungsdurchbrechung darstellen könnte, die mangels Anfechtung bestandkräftig und damit wirksam wird. Die Untätigkeit des Vorstands mag dabei der Hauptversammlung kaum zurechenbar sein, doch hätte man frühere Versammlungsbeschlüsse betreffend die Feststellung des Jahresabschlusses oder die Entlastung des Vorstands vielleicht in diese Richtung verstehen können. Mangels entsprechender Informationen im Tatbestand der Entscheidung lässt sich dies jedoch nicht beurteilen.
Zumindest aber hätte der BGH klären müssen, ob der Beschluss nichtig oder anfechtbar ist. Richtigerweise hätte er nicht den Beschluss „jedenfalls … für nichtig“ erklären dürfen (vgl. Rn. 11). Prozessual ist daran zu bemängeln, dass ein bereits nichtiger Beschluss nicht mehr für nichtig erklärt werden kann, die Feststellungsklage also logischen Vorrang gegenüber der Gestaltungsklage genießt. Inhaltlich enttäuscht das Verhalten, weil der BGH eine weitere Gelegenheit auslässt, mehr Klarheit in das Phänomen der Satzungsdurchbrechung zu bringen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Bei Verstößen gegen die Satzung ist weiterhin unklar, ob die Rechtsfolge in der Nichtigkeit oder in der Anfechtbarkeit besteht. Um den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern, sollten opponierende Aktionäre sicherheitshalber Beschlussmängelklage gegen den entsprechenden Beschluss erheben.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Satzungsdurchbrechungen sind freilich auch ein Thema der GmbH. Im Gegensatz zum Aktienrecht kennt das GmbH-Recht jedoch nicht die formelle Satzungsstrenge, § 23 Abs. 5 Satz 1 AktG. Daher ist das Schrifttum hier teils großzügiger und ordnet gegen die Satzung verstoßende Beschlüsse als lediglich anfechtbar ein, wenn sie nur punktuell wirken (BGH, Urt. v. 07.06.1993 - II ZR 81/92 Rn. 13; Hölters/Weber/Haberstock/Greitemann, AktG, 4. Aufl. 2022, § 179 Rn. 35; Stein in: MünchKomm AktG, § 179 Rn. 40; für das GmbH-Recht offenlassend Spindler/Stilz/Holzborn, BeckGroßkommAktG, Juli 2022, § 179 Rn. 51). Auch hier fehlt noch eine klare Linie und damit auch eine Abgrenzung zum Recht der Aktiengesellschaft.



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