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Anmerkung zu:BVerfG 1. Senat 2. Kammer, Nichtannahmebeschluss vom 28.08.2023 - 1 BvR 1088/23
Autor:Peter Hoffmann, RA und FA für Familienrecht
Erscheinungsdatum:14.11.2023
Quelle:juris Logo
Normen:Art 20 GG, Art 6 GG, Art 2 GG, Art 1 GG
Fundstelle:jurisPR-FamR 23/2023 Anm. 1
Herausgeber:Andrea Volpp, RA'in und FA'in für Familienrecht
Franz Linnartz, RA und FA für Erbrecht und Steuerrecht
Zitiervorschlag:Hoffmann, jurisPR-FamR 23/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Voraussetzungen für Wechsel eines Pflegekindes mit besonderem Förderbedarf von langjährigen Dauerpflegestelle in andere Pflegestelle?



Orientierungssatz zur Anmerkung

Geht es um den Wechsel eines Pflegekindes von einer Pflegestelle in eine andere Pflegestelle, müssen keine Feststellungen zu einer konkreten Kindeswohlgefährdung getroffen werden.



A.
Problemstellung
Die Entscheidung befasst sich mit den Voraussetzungen für einen Wechsel eines Pflegekindes von seiner bisherigen langjährigen Dauerpflegestelle in eine andere Pflegestelle. Die Entscheidung bestätigt die Zurückweisung der Verbleibensanordnungsanträge der Pflegeeltern durch die Vorinstanzen als verfassungsgemäß. Die Entscheidung weicht von den Grundsätzen zum Schutz des Kindeswohls vor Bindungsabbrüchen, wie sie in der bisherigen Senats- und Kammer-Rechtsprechung des BVerfG entwickelt wurden, sehr deutlich ab.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Betroffen ist ein 2018 geborenes Kind, das aufgrund von schwerwiegenden Schädigungen in der Herkunftsfamilie kurze Zeit nach der Geburt in Obhut genommen wurde, zunächst in einer Bereitschaftspflegefamilie und wenig später in eine Dauerpflegefamilie als Pflegekind untergebracht wurde. Es bestanden vor dem Hintergrund der in der Herkunftsfamilie erlittenen Schädigungen Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten, denen durch geeignete Maßnahmen begegnet wurde. Im Februar 2023 hatten die Amtsvormundin und das Jugendamt die Sorge geäußert, dass die Dauerpflegeeltern des Kindes den hohen Anforderungen an die Erziehung des Kindes zukünftig nicht mehr gerecht werden könnten. Durch diese Fachkräfte wurde das Kind 2023 aus der Dauerpflegefamilie herausgenommen und in einer neuen „professionellen“ Pflegefamilie platziert.
Die Beschwerdeführenden haben im Ausgangsverfahren im Wege der einstweiligen Anordnung einen Verbleib bzw. eine Rückführung des Kindes in ihren Haushalt beantragt. Damit sind sie im fachgerichtlichen Verfahren sowohl vor dem Familiengericht als auch vor dem Oberlandesgericht erfolglos geblieben. Die Beschwerdeführenden rügten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 GG sowie von Art. 20 Abs. 3 GG. Sie beanstandeten vor allem, dass das Oberlandesgericht keine konkrete Gefährdung für das Kind in ihrem Haushalt festgestellt habe.
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Oberlandesgericht habe zutreffend angenommen (unter Berufung auf die bisherige Rechtsprechung des BVerfG), dass bei einem Wechsel der Pflegestelle mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden müsse, dass das Wohl des Kindes durch seine Herausnahme aus der bisherigen Pflegefamilie und dessen Zuführung zu einer anderen Pflegefamilie gefährdet sei. Es sei zugleich nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht angenommen habe, dass eine solche Gefährdung jedoch nicht gegeben sei. Es sei nicht erforderlich, dass in der bisherigen Pflegefamilie eine konkrete Kindeswohlgefährdung festgestellt werde. Vielmehr sei der Verbleib des Kindes im Haushalt der Beschwerdeführenden mit einem Gefährdungspotenzial verbunden, das über die durch den Bindungsabbruch entstandene Belastung hinausgehe und dem durch den Wechsel in die neue Pflegefamilie wirksam begegnet werden könne. Wenn die Fachgerichte eine Gefährdung des Kindeswohls auch bei Verbleib in der bisherigen Pflegefamilie festgestellt haben, bleibe es dann bei einer am Kindeswohl ausgerichteten Abwägung des jeweiligen Gefährdungspotenzials.
Gleichzeitig führt die Entscheidung aus, dass das Oberlandesgericht keine Feststellungen zu einer konkreten Kindeswohlgefährdung in der Pflegefamilie habe treffen müssen (keines der Gerichte hat eine Kindeswohlgefährdung in der Pflegefamilie festgestellt). Es sei mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar, das Ergehen einer Verbleibensanordnung bei möglicher Kindeswohlgefährdung sowohl im Falle des Wechsels der Pflegefamilie als auch bei einem Verbleib in der bisherigen Pflegefamilie von einer am Kindeswohl orientierten Abwägung abhängig zu machen. Das Oberlandesgericht habe angenommen, dass die latenten Gefährdungsmomente für das Kind bei Verbleib bei den Beschwerdeführenden größer seien als die Gefahr durch den Bindungsabbruch wegen des Wechsels zu den neuen Pflegeeltern. Für diese Wertung habe es sich auf die Empfehlungen der fachlich Beteiligten gestützt, womit eine hinreichend zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung bestehe. Das Oberlandesgericht sei verfassungsrechtlich unbedenklich zu dem Ergebnis gekommen, dass der Wechsel des Kindes in eine neue Pflegefamilie trotz des Bindungsabbruchs des Kindes zu seiner bisherigen Pflegefamilie kindeswohldienlicher sei als ein Verbleib bei den Beschwerdeführenden.
Feststellungen zu einer konkreten Kindeswohlgefährdung in der Pflegefamilie habe das Oberlandesgericht gerade nicht treffen müssen. Weder durch die Instanzgerichte noch durch das BVerfG wurde eine konkrete Kindeswohlgefährdung in der Pflegefamilie geprüft oder festgestellt. Es wurden lediglich die „Gefährdungspotenziale“ und „latente Gefährdungsmomente“ im Vergleich bei Verbleib gegenüber Herausnahme abgewogen.


C.
Kontext der Entscheidung
Zum Thema des Wechsels eines Pflegekindes von einer Pflegefamilie in eine andere Pflegefamilie ist die Senatsentscheidung des BVerfG vom 14.04.1987 (1 BvR 332/86) bisher in aller Eindeutigkeit vom BVerfG in den Kammerentscheidungen umgesetzt worden: Ein Wechsel von einer Pflegestelle in eine andere ist danach nur zulässig, wenn mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern mit psychischen und physischen Schädigungen verbunden sein kann. In dieser Konstellation setzt das BVerfG in der Senatsentscheidung einen sehr viel höheren Maßstab an als bei dem Wechsel eines Pflegekindes in die Herkunftsfamilie. Ein Kind kann regelmäßig nur dann zu einem Pflegekind werden, wenn aufgrund einer schwerwiegenden, akuten und anders nicht zu beseitigenden Gefährdung (oder bereits eingetretener Schädigung) eine Herausnahme unausweichlich war. Dies bedeutet, dass Pflegekinder vorangehend bereits Gefährdungen und/oder Schädigungen erlitten haben. Dies führt dazu, dass nach wissenschaftlichen Untersuchungen etwa 90% der Pflegekinder traumatisierenden Bedingungen ausgesetzt waren und insoweit eine höchst vulnerable Gruppe von Kindern darstellen. Pflegekinder weisen regelmäßig erhöhte Trennungsempfindlichkeiten und Bindungsstörungen auf. Dies hat das BVerfG in seiner Senatsentscheidung grundlegend berücksichtigt.
Die Kammerentscheidungen des BVerfG sind dem bisher einhellig gefolgt. Die Bindungen von Pflegekindern an ihre Pflegeeltern, bei denen sie bereits jahrelang gelebt haben, finden dabei besondere Berücksichtigung, wie auch in der Entscheidung des BVerfG vom 03.02.2017 (1 BvR 2569/16) betont wird, wobei es dort nicht um einen Wechsel in eine andere Pflegestelle, sondern um einen Rückwechsel in die Herkunftsfamilie ging.
Der jetzt ergangenen Entscheidung ist nicht zu entnehmen, dass eine Kindeswohlprüfung mit der Folge der Feststellung einer Gefährdung des Kindes in der Pflegefamilie stattgefunden hat, die die Herausnahme des Kindes zu seinem Schutz erfordert hätte. Es ist der Entscheidung auch nicht zu entnehmen, dass eine Kindeswohlprüfung bezüglich der Folgen der Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie, in der es bereits jahrelang gelebt hat, durchgeführt wurde. Zu den Voraussetzungen, die die Entscheidung des BVerfG vom 14.04.1987 (1 BvR 332/86) in aller Eindeutigkeit benennt, wurden keine Feststellungen getroffen. Soweit sich die Entscheidung auf die schwächere grundrechtliche Position von Pflegeeltern gegenüber Herkunftseltern (auf die es im vorliegenden Fall gar nicht ankommt) auf den Beschluss des BGH vom 16.11.2016 (XII ZB 328/15) bezieht, ist jener Beschluss in der Entscheidung unvollständig zitiert. Denn der BGH verweist in dem Beschluss (Rn. 26) darauf, dass das BVerfG in seinem Beschluss vom 12.10.1988 (1 BvR 818/88 - FamRZ 1989, 31, 33) „bei dem Pflegekind eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG bejaht“ hat. Es waren dort konkrete Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung geprüft und festgestellt worden.
Dem Sachverhalt ist zu entnehmen, dass die Fachkräfte (Jugendamt und Amtsvormund), deren Einschätzung zugrunde gelegt worden ist, zum Zeitpunkt der Herausnahme die Pflegefamilie seit einem Jahr und neun Monaten nicht zu Hause besucht hatte. Der Vormund hatte das Kind einmal im Sommer 2021 und einmal im Januar 2023 gesehen. Die Entscheidung lässt auch die Berücksichtigung des Kindeswillens vermissen (siehe auch die kritische Anmerkung zu der Entscheidung des BVerfG von Heilmann, NJW 2023, 3267 „Die ‚mögliche‘ Gefährdung des Kindes bei Verbleib in seiner Pflegefamilie“).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die ohnehin vulnerablen Pflegekinder sind besonders schutzbedürftig und haben daher nach Art. 20 der UN-Kinderrechtskonvention einen besonderen Schutzanspruch gegenüber dem Staat. Sie haben in diesem Rahmen auch einen Anspruch auf Kontinuität und Berücksichtigung von gewonnenen Bindungen. Die jetzige Entscheidung des BVerfG berücksichtigt dies nicht. Ebenso berücksichtigt sie die vorangegangene Senatsrechtsprechung, die einen Wechsel von einer Pflegefamilie in eine andere Pflegefamilie nur unter ganz engen Voraussetzungen zulässt, nicht. In jedem solcher Fälle muss die Möglichkeit einer Kindeswohlgefährdung durch die Herausnahme geprüft werden. Die Annahmen von „Gefährdungspotenzial“ und „latenten Gefährdungsmomenten“ ohne Kindeswohlprüfung nach den bisherigen Kriterien des BVerfG genügen den einzuhaltenden Standards in keiner Weise. Für Pflegekinder entfallen mit dieser Entscheidung die wesentlichen Regelungen des Kinderschutzes.
Besonders irritierend ist es, dass es in der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 79/2023 vom 07.09.2023 zudem heißt, dass sich mit der Entscheidung „die Interessen des Kindes gegen die Interessen seiner vormaligen Pflegeeltern“ durchgesetzt hätten. Diese Positionierung ist mit der bisherigen Senats- und Kammerrechtsprechung des BVerfG nicht zu vereinbaren.



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