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Anmerkung zu:BAG 2. Senat, Urteil vom 05.05.2022 - 2 AZR 483/21
Autoren:Dr. Thomas Granetzny, RA,
Dr. Annika Kreis, RA’in
Erscheinungsdatum:28.10.2022
Quelle:juris Logo
Normen:§ 242 BGB, § 166 BGB, § 626 BGB
Fundstelle:jurisPR-Compl 5/2022 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Norbert Nolte, RA
Zitiervorschlag:Granetzny/Kreis, jurisPR-Compl 5/2022 Anm. 1 Zitiervorschlag

Außerordentliche Kündigung - Compliance-Untersuchung



Leitsatz

Der Arbeitgeber kann sich gemäß § 242 BGB nicht auf die Wahrung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB berufen, wenn er es zielgerichtet verhindert hat, dass eine für ihn kündigungsberechtigte Person bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangte, oder wenn sonst eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass sich die späte Kenntniserlangung einer kündigungsberechtigten Person als unredlich darstellt.



A.
Problemstellung
Compliance-Untersuchungen werden – auch vor dem Hintergrund der Whistleblowing-Richtlinie (EU) 2019/1937, die der umfassenden Aufdeckung von Gesetzesverstößen vorrangige Bedeutung beimisst – in der Praxis größerer Unternehmen zunehmend wichtiger. Bei unternehmensinternen Ermittlungen stellt sich dabei regelmäßig die Herausforderung, wie aufgedeckte Pflichtverletzungen arbeitsrechtlich zu bewerten sind. Eine besondere Rolle – vor allem bei komplexen Sachverhalten und systematischen Compliance-Verstößen mehrerer Arbeitnehmer über längere Zeiträume – spielt dabei die Frage, wann etwaige arbeitsrechtliche Maßnahmen zu treffen sind, insbesondere im Hinblick auf die Zwei-Wochen-Frist zur außerordentlichen Kündigung (§ 626 Abs. 2 BGB). Das BAG befasste sich vorliegend mit den Fragen, wann die Ausschlussfrist nach § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB im Rahmen komplexer Compliance-Untersuchungen beginnt, auf wessen Kenntnis der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen bei juristischen Personen abzustellen ist und wann sich der Arbeitgeber unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht mehr auf die Wahrung der Kündigungsfrist berufen kann, wenn die Tatsachen bei nicht kündigungsberechtigten Personen im Unternehmen bereits bekannt sind.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Gegenüber dem „Legal & Compliance Department“ der Beklagten erging im Juli 2018 ein Hinweis, dass Mitarbeitern der Beklagten ein behördeninternes Dokument des Bundesverteidigungsministeriums mit dem Geheimhaltungsgrad „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch (VS-NfD)“ vorliege. Die Beklagte beauftragte daraufhin im Oktober 2018 eine Rechtsanwaltskanzlei mit der vollständigen Sachverhaltsaufklärung. Nach neunmonatiger Ermittlung entschied das bei der Beklagten für die Untersuchung gebildete Compliance-Team im Juni 2019 entgegen der bisherigen Planung, dass ein Zwischenbericht über die bisherigen Untersuchungsergebnisse an die Geschäftsführung erfolgen sollte, um über weitere, unter anderem arbeitsrechtliche Maßnahmen entscheiden zu können. In dem Bericht, der einem der Geschäftsführer der Beklagten Mitte September 2019 übergeben wurde, stellte die Rechtsanwaltskanzlei unter anderem Pflichtverletzungen des Klägers fest, der zuletzt als Vertriebsleiter der Defence-Abteilung bei der Beklagten beschäftigt war. Elf Tage nach Erhalt des Berichts und nach zwischenzeitlich erfolgter Stellungnahme des Klägers und Anhörung des Betriebsrats kündigte die Beklagte den Kläger außerordentlich, hilfsweise außerordentlich mit Auslauffrist.
Die vom Kläger hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage war in den ersten beiden Instanzen erfolgreich. Das LArbG Stuttgart (Urt. v. 03.11.2021 - 10 Sa 7/21) hielt die Kündigungsfrist nach § 626 Abs. 2 BGB für nicht gewahrt, weil der kündigungsberechtigte Geschäftsführer sich nicht regelmäßig über den Stand der Ermittlungen informieren lassen habe. Aufgrund dieses Organisationsverschuldens müsse er sich die frühere Kenntnis des Leiters der Compliance-Abteilung zurechnen lassen.
Das BAG hob diese Entscheidung auf und verwies die Sache zurück. Zur Begründung führte das BAG aus, die Kündigungsfrist nach § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB sei gewahrt und habe nach Satz 2 erst mit der Kenntnisnahme des Untersuchungsberichts durch den Kündigungsberechtigten (hier des Geschäftsführers) begonnen. Auf eine etwaige vorherige Kenntnis des – nicht kündigungsberechtigten – Leiters der Compliance-Abteilung komme es hingegen nicht an. Daneben könne auf Basis der Feststellungen auch keine unzulässige Rechtsausübung nach § 242 BGB im Hinblick auf die arbeitgeberseitige Berufung auf die Einhaltung der Frist angenommen werden. Eine solche setze voraus, dass der Kündigungsberechtigte den Informationsfluss über kündigungserhebliche Tatsachen „zielgerichtet verhindert“ oder jedenfalls „in einer mit Treu und Glauben nicht zu vereinbarenden Weise ein den Informationsfluss behinderndes sachwidriges und überflüssiges Organisationsrisiko geschaffen“ hat. Außerdem käme ein treuwidriges Berufen auf die späte Kenntniserlangung nur in Betracht, wenn zusätzlich die bereits Kenntnis habende nicht kündigungsberechtigte Person eine „ähnlich selbstständige Stellung“ und herausgehobene Unternehmensposition wie der Kündigungsberechtigte habe. Dies erfordere, dass die Person den Sachverhalt so umfassend tatsächlich und rechtlich aufklären könne, dass der Kündigungsberechtigte vor der Kündigung keine weitere Aufklärung betreiben müsse.


C.
Kontext der Entscheidung
Die vorliegende Entscheidung des BAG stellt eine begrüßenswerte und sehr praxisrelevante Entscheidung zum Beginn der Kündigungsfrist gemäß § 626 Abs. 2 BGB im Rahmen von unternehmensinternen Untersuchungen dar. Sie bestätigt und konkretisiert die bereits bestehende Rechtsprechung zum Fristbeginn innerhalb größerer Unternehmensstrukturen und zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine rechtsmissbräuchliche Behinderung der vorherigen Kenntnisnahme nach Treu und Glauben vorliegt (vgl. BAG, Urt. v. 27.02.2020 - 2 AZR 570/19; BAG, Urt. v. 20.10.2016 - 2 AZR 395/15; BAG, Urt. v. 07.09.1983 - 7 AZR 196/82).
Nach § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB ist für den Beginn der Kündigungsfrist der Zeitpunkt entscheidend, in dem eine kündigungsberechtigte Person Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangt. Bei juristischen Personen wird im Hinblick auf die kündigungsberechtigte Person insbesondere auf die zuständigen Organe abgestellt. Der Arbeitgeber kann aber auch Mitarbeitern das Recht zur Kündigung übertragen (BAG, Urt. v. 27.02.2020 - 2 AZR 570/19 Rn. 32; BAG, Beschl. v. 27.06.2019 - 2 ABR 2/19 Rn. 19; BAG, Urt. v. 16.07.2015 - 2 AZR 85/15 Rn. 55). Die Kenntnis anderer Personen ist damit grundsätzlich unerheblich, selbst wenn diese eine Vorgesetzten- oder Aufsichtsposition innehaben (BAG, Urt. v. 27.02.2020 - 2 AZR 570/19 Rn. 32; BAG, Urt. v. 16.07.2015 - 2 AZR 85/15 Rn. 55).
In größeren Unternehmen werden interne Untersuchungen häufig durch Rechts- oder Compliance-Abteilungen oder die Revision, oft auch in Zusammenarbeit mit einer Rechtsanwaltskanzlei, durchgeführt. Die für die Untersuchung auf Arbeitsebene zuständigen Mitarbeiter erhalten daher regelmäßig zuerst Kenntnis von etwaigen Pflichtverletzungen, sind aber selten kündigungsberechtigt. Erhalten die kündigungsberechtigten Personen (insbesondere die Geschäftsführung) erst später Kenntnis, stellt sich im Falle einer außerordentlichen Kündigung die Frage, ob für den Beginn der Kündigungsfrist ausnahmsweise auf die zuvor bereits im Unternehmen bei nicht kündigungsberechtigten Personen vorhandene Kenntnis abzustellen ist.
Die Rechtsprechung nimmt eine solche Ausnahme in ständiger Rechtsprechung im Falle rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nach Treu und Glauben an (statt aller BAG, Urt. v. 07.09.1983 - 7 AZR 196/82 Rn. 20 m.w.N.). Danach kann sich der Arbeitgeber nicht auf die Einhaltung der Kündigungsfrist (§ 626 Abs. 2 Satz 1 BGB) berufen, wenn er zielgerichtet verhindert hat, dass eine kündigungsberechtigte Person bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangt hat, oder eine Abwägung im Einzelfall ergibt, dass sich die spätere Kenntniserlangung einer kündigungsberechtigten Person als unredlich darstellt. Der 2. Senat stellte dabei im vorliegenden Fall klar, dass, auch wenn in vorherigen Urteilen von einer Wissenszurechnung durch Treu und Glauben die Rede gewesen ist (vgl. u.a. BAG, Urt. v. 27.02.2020 - 2 AZR 570/19 Rn. 32), hiermit keine Wissenszurechnung direkt oder analog § 166 BGB gemeint sei. Der Arbeitgeber könne sich vielmehr auf Rechtsfolgenseite nicht darauf berufen, eine für ihn kündigungsberechtigte Person habe erst zu einem späteren Zeitpunkt Kenntnis erhalten. Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung setze eine solche unzulässige Rechtsausübung einerseits ein Organisationsdefizit voraus und kumulativ dazu eine ähnlich selbstständige Stellung der nicht kündigungsberechtigten, aber für die Sachverhaltsermittlung zuständigen Person, die bereits zuvor Kenntnis erlangt hatte (vgl. BAG, Urt. v. 27.02.2020 - 2 AZR 570/19 Rn. 32; BAG, Urt. v. 20.10.2016 - 2 AZR 395/15 Rn. 47; BAG, Urt. v. 23.10.2008 - 2 AZR 388/07 Rn. 22). Hinsichtlich des Organisationsdefizits sei nach dem BAG aber erforderlich, dass dieses den Informationsfluss zielgerichtet verhindert oder behindert habe (so bereits BAG, Urt. v. 07.09.1983 - 7 AZR 196/82 Rn. 21).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die vorliegende Entscheidung des BAG bestätigt, dass die Dauer der Sachverhaltsaufklärung in Abhängigkeit der Komplexität des Einzelfalles zu bewerten und anhand dessen die Hemmung des Fristbeginns des § 626 Abs. 2 BGB zu bestimmen ist. Nach ständiger Rechtsprechung ist diese so lange gehemmt, bis der Kündigungsberechtigte die für die Kündigung maßgebenden Tatsachen, die ihm eine umfassende und zuverlässige Kenntnis über den Kündigungssachverhalt vermitteln sollen, nach pflichtgemäßem Ermessen in gebotener Eile ermittelt hat. Das umfasst sowohl be- als auch entlastende Umstände (vgl. BAG, Urt. v. 27.06.2019 - 2 ABR 2/19 Rn. 18; BAG, Urt. v. 01.02.2007 - 2 AZR 333/06 Rn. 18). Das BAG stellte in dem vorliegenden Urteil erfreulicherweise heraus, dass es im Rahmen der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen – wie bereits in der Literatur vertreten – bei komplexen Sachverhalten für die Gewichtung der Pflichtverletzung auch darauf ankomme, die Pflichtverletzung einer Person in die Handlungen weiterer involvierter Mitarbeiter einzuordnen und ins Verhältnis zu setzen (so u.a. bereits Göpfert/Drägert, CCZ 2011, 25, 26 f.; Dzida, NZA 2014, 809, 810). Dem ist zuzustimmen, da für die Würdigung eines kritisch erscheinenden Sachverhalts immer der Kontext zu berücksichtigen ist (z.B. vorhergehende Management-Entscheidungen, Bestehen einer „gelebten Praxis“). Allerdings stellt das BAG auch klar, dass nicht jede Untersuchung bis zur Erreichung aller definierten und über die Aufklärung von Pflichtverletzungen hinaus verfolgten Ziele, wie z.B. Prävention, zu Ende geführt werden könne, bevor die Kündigungsfrist zu laufen beginne. Hier ist also das richtige Mittelmaß zu finden. In der Praxis bietet sich bei komplexen Sachverhalten in der Regel an, sich nicht vorschnell auf einzelne Mitarbeiter zu fokussieren, da ohne grundlegende Kenntnis des Sachverhalts keine Bewertung einzelner Handlungen möglich ist (vgl. auch Giese/Dachner, NZA 2022, 1241, 1243). Ist der Sachverhalt in seinen wesentlichen Zügen ermittelt und ergeben sich daraus bzw. im weiteren Verlauf belastende Momente für Einzelne, kann die Untersuchung dann – aber auch erst dann – zwischenzeitlich auf einzelne Mitarbeiter(gruppen) fokussiert werden. Der Blick für „das große Ganze“ sollte dabei aber nicht verloren gehen. Über diese Ergebnisse sollte zunächst (nur) an das mit der Untersuchung intern befasste Team berichtet werden. Der Bericht an das Management/die Geschäftsführung (inklusive etwaiger kündigungsberechtigter Personen) sollte erst nach Klärung etwaiger verbliebener offener Fragen erfolgen.
Im Hinblick auf die Vermeidung von Organisationsdefiziten bei der Sachverhaltsaufklärung hat das BAG daneben erneut klargestellt, dass Unkenntnis aufgrund Organisationsverschulden allein nicht ausreiche. Insbesondere begründe eine arbeitsteilige Organisation, wie z.B. die Einrichtung von auf Sachverhaltsaufklärung spezialisierter Abteilungen (Revision oder Compliance-Abteilung) oder die Beauftragung einer Kanzlei, dabei – zu Recht – keine rechtsmissbräuchliche Verzögerung. Eine solche sei vielmehr sachgerecht. Da ein Organisationsrisiko auch nicht bereits damit begründet werden kann, dass eine Aufsichtsperson lediglich nicht zur Kündigung berechtigt ist (so auch bereits BAG, Urt. v. 07.09.1983 - 7 AZR 196/82 Rn. 21), ist zur Vermeidung von Organisationsdefiziten zudem nicht erforderlich, dass eine kündigungsberechtigte Person Teil des internen Teams für die Sachverhaltsaufklärung ist oder sich in regelmäßigen Abständen (zwischen)berichten lässt. In dem vorliegenden Fall erfolgte der erste Zwischenbericht erst nach neun Monaten und war nicht Teil des ursprünglichen Plans. Die spontane Entscheidung für diesen Zwischenbericht sprach aus Sicht des Gerichts gerade gegen eine treuwidrige Behinderung des Informationsflusses. Erfreulich ist daneben der Hinweis des BAG, dass selbst wenn der Zwischenbericht der Rechtsanwaltskanzlei mehr Zeit als notwendig in Anspruch genommen hätte – zwischen der Entscheidung zum Zwischenbericht und der Übergabe des Berichts lagen knapp drei Monate –, könne dies ohne Hinzutreten weiterer Umstände keine treuwidrige Behinderung des Informationsflusses begründen.



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