juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BVerwG 11. Senat, Beschluss vom 18.12.2023 - 11 VR 2/23 (11 A 20/23)
Autor:Dr. Sigrid Emmenegger, Ri’inBVerwG
Erscheinungsdatum:12.02.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 35 BBauG, § 20 BMG, Art 13 GG, § 2 EnLAG, § 3 BauNVO, § 4 BauNVO, § 4a BauNVO, § 5 BauNVO, § 5a BauNVO, § 6 BauNVO, § 6a BauNVO
Fundstelle:jurisPR-BVerwG 3/2024 Anm. 1
Herausgeber:Verein der Bundesrichter bei dem Bundesverwaltungsgericht e.V.
Zitiervorschlag:Emmenegger, jurisPR-BVerwG 3/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Abstand einer Höchstspannungsfreileitung zu Wohnmodulen für Saisonarbeitskräfte im Außenbereich



Orientierungssatz zur Anmerkung

Wohnmodule für Saisonarbeitskräfte im Außenbereich, die keiner auf Dauer angelegten eigenen Häuslichkeit der Arbeitskräfte dienen, sind keine Wohngebäude i.S.v. Abschnitt 4.2.2 Ziffer 06 Satz 6 LROP NI.



A.
Problemstellung
Wer pflückt die regionalen Erdbeeren, die im Frühsommer auf großen Paletten in den Supermärkten zu Abertausenden verkauft werden? Es sind überwiegend Saisonarbeitskräfte. Im Jahr 2023 betrug ihre Zahl 242.800, bei insgesamt 876.000 in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeitskräften (Quelle: Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts Nr. 021 vom 16.01.2024). Häufig finden Saisonarbeitskräfte Unterkunft in Wohnmodulen („Containern“) auf dem jeweiligen landwirtschaftlichen Betriebsgelände. Solche Unterkünfte können nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB im Außenbereich privilegiert zulässig sein, wenn sie dem landwirtschaftlichen Betrieb dienen (vgl. VG Münster, Urt. v. 07.07.2020 - 2 K 2694/18 Rn. 28 ff.; OVG Magdeburg, Beschl. v. 14.11.2023 - 2 L 59/22.Z Rn. 14 m.w.N.; Schulte, BauR 2016, 945). Aber sind sie Wohngebäude i.S.d. 200 m-Abstandsregelung des Landes-Raumordnungsprograms Niedersachsen?


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Der Antragsteller wandte sich gegen die Planfeststellung einer Höchstspannungsfreileitung. Er betreibt einen Obst- und Gemüseanbaubetrieb im Außenbereich (Spargel, Erdbeeren, Heidelbeeren), auf dessen Betriebsgelände er ca. 40 Wohnmodule für insgesamt bis zu 150 Saisonarbeitskräfte aufgestellt hat. Die planfestgestellte Höchstspannungsfreileitung verläuft in einem Abstand von weniger als 200 m zu den Wohnmodulen. Der Planfeststellungsbeschluss hatte diese zwar zur Kenntnis genommen, sie aber bei der Abwägung nicht als Wohngebäude i.S.d. Abstandsregelung des niedersächsischen Raumordnungsplans berücksichtigt. War das ein Abwägungsfehler? Das BVerwG verneinte dies: Die Wohnmodule waren bei Würdigung aller Umstände des konkreten Falls keine Wohngebäude, da sie keiner auf Dauer angelegten Häuslichkeit der Arbeitskräfte dienten.
II. 1. Nach Abschnitt 4.2.2 Ziffer 06 Satz 6 Landes-Raumordnungsprogramm Niedersachsen (LROP NI) sollen Trassen für neu zu errichtende Höchstspannungsfreileitungen so geplant werden, dass ein Abstand von 200 m zu Wohngebäuden eingehalten wird. Hierbei handelt es sich um einen bei der Abwägung zu berücksichtigenden Grundsatz der Raumordnung (vgl. Satz 2 Vorb. LROP NI).
Wohngebäude sind Gebäude, deren Hauptnutzung das Wohnen ist (vgl. Abschnitt 4.2.2 Ziffer 06 Satz 1 LROP). Der raumordnungsrechtliche Wohnungsbegriff knüpft – wie auch die Bezugnahme auf die bauplanungsrechtlichen Gebietskategorien in Abschnitt 4.2.2 Ziffer 06 Satz 1 Buchstabe b LROP NI zeigt – an den bauplanungsrechtlichen Begriff des Wohnens an. Der Begriff unterscheidet sich von dem weiten Wohnungsbegriff des Art. 13 Abs. 1 GG (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.06.2023 - 1 C 10/22 Rn. 10 f. - NVwZ 2023, 1750) und des Melderechts (vgl. § 20 BMG).
Wohnen im planungsrechtlichen Sinne ist durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeichnet. Maßgeblich sind das Nutzungskonzept und seine grundsätzliche Verwirklichung (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.10.2017 - 4 C 5/16 Rn. 17 m.w.N. - BVerwGE 160, 104). Erforderlich ist eine Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.03.1996 - 4 B 302/95 - Buchholz 406.12 § 3 BauNVO Nr 12 S. 3). Herangezogen werden können Kriterien wie z.B. die Aufenthaltsdauer (BVerwG, Urt. v. 18.10.2017 - 4 C 5/16), die Gestaltung und Struktur der Räumlichkeiten, das Vorhandensein privater Rückzugsmöglichkeiten (VGH München, Beschl. v. 16.02.2015 - 1 B 13.648 Rn. 26 - NVwZ-RR 2015, 607) sowie das Vorhandensein von Aufenthaltsräumen, Sanitäranlagen und Kochgelegenheiten (BVerwG, Beschl. v. 07.09.1984 - 4 N 3/84 - Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr 6 S. 25 und BVerwG, Urt. v. 29.04.1992 - 4 C 43/89 - BVerwGE 90, 140, 142) einschließlich einer Wasserversorgung (BVerwG, Beschl. v. 23.12.1981 - 4 B 196/81 - Buchholz 406.11 § 1 BBauG Nr 25 S. 13).
2. Nach diesen Kriterien dienten die aufgestellten Module nicht dem Wohnen i.S.d. Planungsrechts. Sie bezweckten keine auf Dauer angelegte eigene Häuslichkeit, sondern lediglich eine auf den Zweck der Saisonarbeit in dem Betrieb des Antragstellers bezogene vorübergehende Unterkunft. Dafür sprach schon die überschaubare Aufenthaltsdauer der Arbeitskräfte: Die typische Aufenthaltsdauer einer Arbeitskraft betrug ein bis drei Monate. Die Hälfte der Arbeitskräfte belegte den jeweiligen Schlafplatz für einen Zeitraum von höchstens zwei Monaten oder weniger. Der lediglich vorübergehende, auf den Zweck der Saisonarbeit im Betrieb des Antragstellers begrenzte Zweck der Unterbringung spiegelte sich auch in der einfachen Ausstattung und Struktur der jeweils – abgesehen vom Eingangsbereich – aus nur einem Raum bestehenden Module (6 m x 3 m Grundfläche) wider, die weder über einen eigenen Sanitärbereich noch über eine ausreichende Kochgelegenheit verfügten. Hinzu kam, dass die Module zwar häufig, aber keineswegs ausschließlich zur selben Zeit von Verwandten oder freundschaftlich verbundenen Personen genutzt wurden.


C.
Kontext der Entscheidung
Nicht überall, wo umgangssprachlich vom Wohnen die Rede ist, wird auch i.S.d. Planungsrechts gewohnt (Külpmann, DVBl 2020, 657 ff.). Der Begriff ist spezifisch planungsrechtlich konturiert und – das betont das BVerwG – enger als der verfassungsrechtliche Wohnungsbegriff des Art. 13 Abs. 1 GG. Das BVerwG stellt klar, dass es einer Würdigung der gesamten Umstände bedarf. Dabei ist das Merkmal der Dauerhaftigkeit zwar wesentlich (vgl. insoweit zum fehlenden Wohnungscharakter von Ferienwohnungen: BVerwG, Urt. v. 18.10.2017 - 4 C 5/16 Rn. 17 - BVerwGE 160, 104), aber nicht allein maßgeblich.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung ist für alle Bundesländer relevant, in denen Raumordnungspläne vergleichbare Abstandsregelungen für Freileitungen vorgeben (z.B. LEP NRW, LEP Bayern und LEP Hessen). Die Bedeutung der Entscheidung reicht aber über das Raumordnungsrecht hinaus: § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EnLAG knüpft an den Begriff des Wohngebäudes als Auslösekriterium für die Möglichkeit eines Erdkabels an. Vermittelt über den planungsrechtlichen Wohnungsbegriff ist die Entscheidung zudem für das Bauplanungsrecht von Interesse. Dieses nimmt in einer Vielzahl von Bestimmungen auf den Begriff des Wohngebäudes Bezug (vgl. nur die §§ 3 Abs. 2 Nr. 1, 4 Abs. 2 Nr. 1, 4a Abs. 2 Nr. 1, 5 Abs. 2 Nr. 3, 5a Abs. 2 Nr. 1, 6 Abs. 2 Nr. 1, 6a Abs. 2 Nr. 1 BauNVO).
Für die Einordnung von Wohncontainern für Saisonarbeitskräfte als Wohngebäude kommt es zwar auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. In den meisten Fällen dürfte die Unterbringung der Saisonarbeitskräfte aber mit der hier in Rede stehenden vergleichbar sein, so dass die raumordnungsrechtlichen Abstandsregelungen für Wohngebäude in aller Regel nicht anwendbar sein werden.



Immer auf dem aktuellen Rechtsstand sein!

IHRE VORTEILE:

  • Unverzichtbare Literatur, Rechtsprechung und Vorschriften
  • Alle Rechtsinformationen sind untereinander intelligent vernetzt
  • Deutliche Zeitersparnis dank der juris Wissensmanagement-Technologie
  • Online-First-Konzept

Testen Sie das juris Portal 30 Tage kostenfrei!

Produkt auswählen

Sie benötigen Unterstützung?
Mit unserem kostenfreien Online-Beratungstool finden Sie das passende Produkt!