juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BGH 3. Zivilsenat, Urteil vom 03.08.2023 - III ZR 54/22
Autor:Dr. Peter Itzel, Vors. RiOLG a.D.
Erscheinungsdatum:10.11.2023
Quelle:juris Logo
Normen:Art 5 GG, Art 12 GG, Art 14 GG, § 56 IfSG, § 68 IfSG, § 42 VwGO, § 839 BGB
Fundstelle:jurisPR-BGHZivilR 23/2023 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Herbert Geisler, RA BGH
Zitiervorschlag:Itzel, jurisPR-BGHZivilR 23/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Umfang und Grenzen staatlicher Ersatz- und Entschädigungsleistungen in Pandemie-Zeiten



Leitsätze

1. Zur Verhältnismäßigkeit infektionsschutzrechtlicher Veranstaltungsverbote und -beschränkungen (hier: Berufsmusiker) in dem Zeitraum von März bis Juli 2020 zur Verhinderung der weiteren Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus.
2. Zu den durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtspositionen zählt auch der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb (Bestätigung der Senatsurteile v. 09.12.2004 - III ZR 263/04 - BGHZ 161, 305; v. 13.12.2007 - III ZR 116/07 - BGHZ 175, 35 und v. 11.05.2023 - III ZR 41/22).
3. Mit infektionsschutzrechtlichen Veranstaltungsverboten und -beschränkungen gehen typischerweise Eingriffe in das beruflich genutzte Eigentum von Gewerbetreibenden einher, die ihre Tätigkeit auf Publikum ausgerichtet haben. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen für eine unternehmerische Tätigkeit, durch die lediglich künftige Umsatz- und Gewinnchancen gemindert werden (Bestätigung und Fortführung des Senatsurt. v. 11.05.2023 - III ZR 41/22 Rn. 40).
4. Die durch Art. 5 Abs. 3 GG gewährleistete Kunstfreiheit ist in Fällen, in denen es um den Ausgleich von Erwerbsschäden auf Grund von infektionsschutzrechtlichen Veranstaltungsverboten und -beschränkungen geht, nicht in ihrer immateriellen, sondern in ihrer vermögensrechtlichen Dimension betroffen. Soweit die Kunst beruflich oder gewerblich ausgeübt wird, ist daher die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG maßgeblich.
5. Die Frage, ob für längerfristige existenzgefährdende Maßnahmen ausnahmsweise eine Haftungsgeneralklausel im Infektionsschutzgesetz normiert werden müsste, stellt sich im Rahmen der sozialstaatlichen Bewältigung einer Pandemie nicht (Fortentwicklung des Senatsurt. v. 17.03.2022 - III ZR 79/21 - BGHZ 233, 107 Rn. 61 f.).



A.
Problemstellung
Ersatz- und Entschädigungsleistungen nach „Corona-Maßnahmen“ beschäftigten und beschäftigen zahlreiche Gerichte, wobei sich die Schwerpunkte so langsam verschieben.
Der BGH hatte bereits in zwei äußerst intensiv, umfangreich und überzeugend begründeten Entscheidungen in wesentlichen Fallkonstellationen (Gastronomie, Hotelgewerbe und Frisöre) für Klarheit gesorgt (BGH, Urt. v. 17.03.2022 - III ZR 79/21 - BGHZ 233, 107 = MDR 2022, 636, hierzu Itzel, jurisPR-BGHZivilR 10/2022 Anm. 1 und BGH, Urt. v. 11.05.2023 - III ZR 41/22 - MDR 2023, 981).
Mit vorliegendem Urteil bestätigt er diese Grundsätze und entwickelt vor allem unter Rechtmäßigkeitsgesichtspunkten Bewertungsfaktoren für die zulässige Dauer und Intensität staatlicher Eingriffe auf Grundlage von Corona-Schutzverordnungen fort, wobei es auch Hinweise auf die Folgen von rechtswidrigen Maßnahmen gibt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der klagende Berufsmusiker verlangt von dem Land Baden-Württemberg (BW) Entschädigung für Einnahmeausfälle. Wegen der entsprechenden Corona-Verordnungen habe er zwischen April und Juli 2020 vertraglich vereinbarte Auftritte nicht wahrnehmen können. Diese angeordneten Veranstaltungsverbote hätten für ihn wie eine Betriebsuntersagung gewirkt, und seinem Geschäftsbetrieb sei hierdurch die Existenzgrundlage entzogen worden. Es sei ihm ein Ertragsverlust von über 8.000 Euro entstanden.
Das Landgericht hat die Klage auf Erstattung des genannten Betrages abgewiesen. Das OLG hat die Berufung nach Prüfung aller denkbaren Anspruchsgrundlagen zurückgewiesen und ist in der Begründung im Wesentlichen den Argumenten des BGH in den vorangegangenen Entscheidungen (vgl.o. unter A) gefolgt.
Der III. Zivilsenat des BGH hat die Revision zurückgewiesen. Der Kläger verfolgt mit seinem Rechtsmittel nur noch Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff. Das Revisionsgericht stellt zunächst klar, dass die Entschädigungsvorschriften des IfSG eine abschließende spezialgesetzliche Regelung nur für rechtmäßige infektionsschutzrechtliche Maßnahmen darstellen; keine Sperrwirkung tritt hingegen durch diese Vorschriften für rechtswidrige Beschränkungen ein. Damit können bei rechtswidrigen Maßnahmen grundsätzlich Ansprüche aus Amtshaftung, aus Polizeirechten sowie aus enteignungsgleichem Eingriff abgeleitet werden. Bei der Prüfung des enteignungsgleichen Eingriffs verneint der Senat zunächst den Vorrang polizeirechtlicher Entschädigungsansprüche, da das Landesrecht von BW keinen Entschädigungsanspruch für allgemeine rechtswidrige polizeiliche Maßnahmen enthält und insoweit der Vorrang eines „lex specialis“ für den vorliegenden Fall nicht eingreift.
Eingehend wird im Folgenden die Rechtmäßigkeit der Verordnung umfassend, intensiv und überzeugend geprüft (u.a. Rechtsgrundlage, Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen, Gewerbebetrieb als durch Art. 14 GG geschützt, Berufsausübungsfreiheit, Unmittelbarkeit des Eingriffs, Verhältnismäßigkeit, Angemessenheit, Vereinbarkeit der Verordnung mit dem GG) und diese bejaht; auch Entschädigungsansprüche aus unmittelbarem Verfassungsrecht werden auf Grundlage auch der bisherigen Senatsrechtsprechung (vgl.o. unter A) verneint, so dass letztlich das Rechtsmittel des Klägers erfolglos bleibt.


C.
Kontext der Entscheidung
Diese Revisionsentscheidung steht in engen Zusammenhang mit den bereits oben skizzierten „Corona-Entscheidungen“ des III. Zivilsenats. Neben der doch sehr intensiven rechtlichen Prüfung der Landes-Schutzverordnung, auch der Schutzbereiche aus Art. 5, 12 und 14 GG für den Berufsmusiker ist zu beachten, dass es für die grundsätzliche Anwendbarkeit des Anspruchs aus enteignungsgleichem Eingriff darauf ankommt, ob und ggf. auch wie entsprechende Ansprüche nach rechtswidrigen polizeilichen Eingriffen in den jeweiligen Landesrechten ausgeformt sind. In BW war dies ersichtlich nicht der Fall. In anderen Ländern (z.B. NRW, RLP) sind entsprechende polizeirechtliche Entschädigungsansprüche ausgeformt und sperren so die Anwendung der o.g. allgemeinen Entschädigungsnorm – aus enteignungsgleichem Eingriff (a.A. wohl Shirvani, DÖV 2022, 54).
Auch wird zu beachten sein, ob das IfSG tatsächlich – wie vom BGH angenommen – keine (!) Regelung bei rechtswidrigen infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen enthält, oder ob nicht die Entschädigungen über § 56 IfSG auch in solchen Fällen als „Mindestentschädigung“ eingreifen, wenn ansonsten die tatbestandlichen Voraussetzungen gegeben sind, die Maßnahme aber z.B. zu lange dauert, unverhältnismäßig ist.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die landestypische Ausformung (das Ob und Wie) polizeirechtlicher Entschädigungsansprüche – für rechtswidrige Maßnahmen – wird für die Sperrwirkung gegenüber dem enteignungsgleichen Eingriff jeweils zu berücksichtigen sein, was auch zum Wegfall einer Entschädigung führen kann, wenn die Maßnahme zwar rechtswidrig war, diese aber dem Schutz des Betroffenen gedient hat (vgl. Rechtslage in NRW). Dies kann dann u.U. zu schwer vermittelbaren Ergebnissen führen, wenn der Berufsmusiker bei – unterstellt – rechtswidriger Maßnahme für untersagte Auftritte in BW eine Entschädigung erhält, nicht hingegen für solche in NRW.
Da der BGH indes von einer rechtmäßigen Verordnung ausging, spielten diese Dissonanzen in unserem föderalen Rechtssystem vorliegend keine Rolle.
Zu beachten sein wird sicherlich auch, wie die Verwaltungsgerichte in Zukunft diese Entschädigungsfragen lösen werden und ob es bei der doch inzwischen gefestigten revisionsgerichtlichen Rechtsprechung durch den BGH bleibt, was sicherlich zu begrüßen wäre. Infolge der begründungslosen und systemwidrigen gesetzlichen Neuzuordnung in § 68 Abs. 1 Satz 1 IfSG und insbesondere § 2 IfSG sind die Verwaltungsgerichte entgegen § 42 VwGO nun u.a. auch für die Entscheidung über enteignungsgleiche Eingriffe auf Grundlage des IfSG zuständig. Der Gesetzgeber sollte die vormals bestehende Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit für diese Ansprüche wieder herstellen.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Der BGH weist darauf hin, dass zwar rechtswidrige oder verfassungswidrige vom Gesetzgeber verabschiedete Normen keine Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff begründen können; rechtswidrige von der Exekutive zu verantwortende untergesetzliche Normen – wie vorliegend die Verordnung – können indes zu Ansprüchen aus enteignungsgleichem Eingriff führen.
Anderes gilt für das Amtshaftungsrecht: Hier fehlt es bei Gesetzen und Verordnungen grundsätzlich an dem für § 839 Abs. 1 BGB erforderlichen Drittschutz für den Geschädigten, da diese Normen allgemein formuliert nur die Gesamtgesellschaft betreffen und im Regelfall nicht individuellen Schutz und Ansprüche begründen sollen.



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