juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BGH 7. Zivilsenat, Urteil vom 06.07.2023 - VII ZR 151/22
Autor:Prof. Dr. Reinhold Thode, RiBGH a.D.
Erscheinungsdatum:09.02.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 357 BGB, § 312 BGB, § 286 ZPO, Art 103 GG, § 13 BGB, § 312g BGB, § 312b BGB, § 650i BGB, BJNR006049896BJNE240701819, § 355 BGB, § 356e BGB, EURL 83/2011, 12016E267
Fundstelle:jurisPR-BGHZivilR 3/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Markus Würdinger, Universität Passau
Zitiervorschlag:Thode, jurisPR-BGHZivilR 3/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Verbrauchervertrag: Voraussetzung eines Vertragsschlusses bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien außerhalb von Geschäftsräumen



Leitsatz

Ein Vertragsschluss bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien außerhalb von Geschäftsräumen i.S.d. § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB liegt nicht vor, wenn der Verbraucher ein vom Unternehmer am Vortag unterbreitetes Angebot am Folgetag außerhalb von Geschäftsräumen lediglich annimmt.



A.
Problemstellung
Der VII. Zivilsenat des BGH hatte darüber zu entscheiden, ob es als Voraussetzung für einen Verbrauchervertrag i.S.d. § 312b Abs. 1 Nr. 1 BGB genügt, wenn der Besteller das Angebot des Unternehmers, das er aus seinen Geschäftsräumen dem Besteller unterbreitet hat, am Folgetag gegenüber dem Unternehmer angenommen hat, oder ob das Tatbestandsmerkmal der gleichzeitigen körperlichen Anwesenheit außerhalb von Geschäftsräumen nur gegeben ist, wenn der vollständige Vertragsabschluss außerhalb der Geschäftsräume bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien erfolgt ist.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit eines von den Klägern erklärten Widerrufs einer auf den Abschluss eines Werkvertrags gerichteten Willenserklärung.
Die Kläger sind Eigentümer eines Reihenhauses, der Beklagte führt einen Dachdeckerbetrieb. Sie beauftragten den Beklagten im Sommer 2018 mit der Erneuerung von Dachrinnen und Abdichtungsarbeiten im Eingangsbereich ihres Reihenhauses. Während der Ausführung der Arbeiten am 22. und 23.08.2018 bemerkte ein Mitarbeiter des Beklagten, dass der Wandanschluss des Daches defekt war, und teilte dies dem Kläger mit. Nachdem der Beklagte dem Kläger die ungefähre Größenordnung der für diese Arbeiten anfallenden Vergütung sowie die voraussichtliche Dauer der Arbeiten mitgeteilt hatte, beauftragte der Kläger den Beklagten auch mit diesen Arbeiten („Wakaflex“), die anschließend ausgeführt wurden. Die Ausführung der Arbeiten zu einem späteren Zeitpunkt wäre mit Mehrkosten verbunden gewesen, weil dies die erneute Aufstellung eines Gerüsts erfordert hätte. Die Arbeiten wurden vom Beklagten mangelfrei erbracht. Der für beide Aufträge vom Beklagten in Rechnung gestellte Betrag, davon 1.164,38 Euro brutto für den Auftrag „Wakaflex“, wurde von den Klägern vollständig bezahlt. Mit Schreiben vom 05.09.2019, das an diesem Tag um 19:35 Uhr in den Briefkasten des Beklagten eingelegt wurde, widerriefen die Kläger beide Aufträge. Bei einem anschließenden zufälligen Treffen überreichte der Kläger dem Beklagten einen Flyer, der mit „Der Handwerker-Widerruf – Schützen Sie sich vor unseriösen Handwerkern“ überschrieben war, und erklärte, dass er daraus ein neues Geschäftsmodell entwickelt habe.
Die Kläger meinen, ihnen stünde hinsichtlich des ersten Auftrags einschließlich des Zusatzauftrags „Wakaflex“ ein Widerrufsrecht wegen eines außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrages zu. Mit der Klage haben sie den Beklagten auf Rückzahlung der für beide Aufträge entrichteten Vergütung in Anspruch genommen.
Das Amtsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Ausübung des Widerrufsrechts durch die Kläger sei rechtsmissbräuchlich gewesen. Auf die Berufung der Kläger hat das Berufungsgericht (LG Hannover, Urt. v. 05.07.2022 - 9 S 16/21) den Beklagten mit im Wesentlichen folgender Begründung zur Rückzahlung der für den Zusatzauftrag „Wakaflex“ gezahlten Vergütung i.H.v. 1.164,38 Euro verurteilt:
Die Kläger hätten einen Anspruch auf Rückzahlung des Werklohns für den Zusatzauftrag „Wakaflex“ i.H.v. 1.164,38 Euro gemäß den §§ 355 Abs. 3 Satz 1, 357 Abs. 1 BGB, da sie wirksam den Widerruf ihrer auf Erteilung des Zusatzauftrags gerichteten Willenserklärung erklärt hätten.
Der zusätzliche Auftrag, den die Kläger anlässlich der Ausführung des bestehenden Auftrags erteilt hätten und der vom Beklagten zusammen mit diesem abgerechnet worden sei, unterliege einem eigenständigen Widerrufsrecht, das unabhängig davon, wie und wann der Hauptauftrag zustande gekommen sei, zu bewerten sei. Der streitgegenständliche Zusatzauftrag „Wakaflex“ stehe mit der Leistung des Hauptauftrags in keinem engen technischen Zusammenhang. Es handle sich vielmehr um eine andere Leistung an einem anderen Bauteil. Es gebe allein einen wirtschaftlichen Zusammenhang, indem die gleichzeitige Ausführung beider Arbeiten spätere neue Gerüstkosten erspart habe. Die Initiative zum Zusatzauftrag sei nicht von den Klägern, sondern vom Beklagten ausgegangen, dessen Mitarbeiter ein Defekt des Wandanschlusses aufgefallen sei. Es sei eine zeitnahe Entscheidung vor Ort erforderlich gewesen, weil nach zwei Tagen das Gerüst schon wieder habe abgebaut werden sollen.
Auch ein genereller Ausschluss des Widerrufsrechts im Hinblick darauf, dass die Beauftragung im engen Zusammenhang mit der Ausführung eines bestehenden Vertragsverhältnisses und während der Erbringung vertraglich vereinbarter Leistungen stattgefunden habe, komme nicht in Betracht. Ein Ausnahmefall nach § 312 Abs. 2 BGB liege nicht vor. Es handle sich nicht um einen Verbraucherbauvertrag nach § 650I Abs. 1 BGB, da Vertragsgegenstand keine erheblichen Umbaumaßnahmen seien. § 312g Abs. 2 Nr. 11 BGB schließe das Widerrufsrecht ebenfalls nicht aus, da die Kläger im Hinblick auf den Zusatzauftrag den Beklagten nicht ausdrücklich aufgefordert hätten, sie aufzusuchen.
Es liege ein Fall des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB vor, da der Auftrag unstreitig vor Ort erteilt worden sei. Soweit der Beklagte sich darauf berufe, dass auch insoweit eine gestufte Vorgehensweise mit Ortstermin, Angebot und anschließender Auftragserteilung stattgefunden habe, könne letztlich dahinstehen, ob eine solche Verfahrensweise prinzipiell einem Widerrufsrecht entgegenstehe. Dem Zusatzauftrag sei unstreitig kein Ortstermin auf Wunsch des Bestellers vorausgegangen, sondern der Beklagte bzw. sein Mitarbeiter seien aus einem anderen Grund vor Ort gewesen, nämlich um den Hauptauftrag auszuführen. Der Auftrag sei nach Erläuterung der Kostenhöhe und des Zeitaufwands vor Ort bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit von Kläger und Beklagtem erteilt worden.
Die Kläger hätten den Zusatzauftrag wirksam widerrufen. Der Widerruf sei rechtzeitig erfolgt. Da die Kläger über ihr Widerrufsrecht nicht belehrt worden seien, sei die Widerrufsfrist erst nach einem Jahr und 14 Tagen, mithin am 05.09.2019, abgelaufen. Der mit dem am Abend des 05.09.2019 in den Briefkasten des Beklagten eingelegten Schreiben erklärte Widerruf sei rechtzeitig gewesen, weil es gemäß § 355 Abs. 1 Satz 5 BGB auf die rechtzeitige Absendung des Widerrufs ankomme. Diese Regelung gelte auch für die „lange Widerrufsfrist“ im Fall einer fehlenden Belehrung.
Die Berufung auf das Widerrufsrecht sei auch nicht treuwidrig. Dass die Kläger arglistig gehandelt hätten, indem sie es darauf angelegt hätten, den Beklagten zu schädigen oder zu schikanieren, lasse sich nicht feststellen. Hierfür reiche der Umstand, dass sie nach vollständiger und ordnungsgemäßer Ausführung des Vertrags von ihrem Widerrufsrecht Gebrauch gemacht hätten, allein nicht aus. Eine andere Beurteilung sei auch nicht vor dem Hintergrund gerechtfertigt, dass der Kläger unstreitig beabsichtigt habe, in Bezug auf den Widerruf von Bauverträgen ein Geschäftsmodell zu entwickeln. Es ergebe sich aus dem Parteivortrag nicht, dass dies auch schon zum Zeitpunkt der Erteilung des Zusatzauftrags der Fall gewesen sei und der Auftrag mit der Intention erteilt worden sei, ihn später zu widerrufen. Ein Fall unzulässiger Rechtsausübung liege auch nicht im Hinblick darauf vor, dass die Kläger durch die unmittelbare Beauftragung vor Ort einen Vorteil erlangt hätten, den sie bei einem schriftlichen Angebot mit Widerrufsbelehrung sowie Belehrung über die Folgen einer Ausführung des Vertrags vor Ablauf der Widerrufsfrist nicht gehabt hätten, nämlich die Ersparnis zusätzlicher Gerüstkosten und die zeitnahe Reparatur eines Mangels. Letztlich habe es der Unternehmer in der Hand, durch Vorhaltung entsprechender Formulare vor Ort die Belehrungen vorzunehmen und sich hierdurch vor den sich ergebenden Rechtsfolgen bei vorzeitiger Ausführung vor Ablauf der Widerrufsfrist zu schützen.
Für die Abdichtungsarbeiten schuldeten die Kläger auch keinen Wertersatz, da sie nicht über die Bedingungen, die Fristen und die Ausübung des Widerrufsrechts sowie das Muster-Widerrufsformular unterrichtet worden seien.
Die Revision des Beklagten hat Erfolg; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, soweit dieses zum Nachteil des Beklagten erkannt hat.
Zu Recht hat das Berufungsgericht allerdings geprüft, ob den Klägern gemäß den §§ 355 Abs. 1, 312g Abs. 1 BGB i.V.m. § 312b Abs. 1 BGB hinsichtlich des Zusatzauftrags „Wakaflex“ unabhängig von dem ersten Auftrag ein Widerrufsrecht zustand. Ist davon auszugehen, dass die Parteien hinsichtlich der Reparatur des defekten Wandanschlusses einen weiteren Vertrag geschlossen haben, kann den Klägern als Verbrauchern in Bezug hierauf ein eigenständiges Widerrufsrecht zustehen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts waren die mit dem Zusatzauftrag „Wakaflex“ in Auftrag gegebenen Arbeiten vom ursprünglich erteilten Auftrag an den Beklagten, der die Erneuerung von Dachrinnen und Abdichtungsarbeiten im Eingangsbereich des Hauses betraf, nicht umfasst.
Das Berufungsgericht ist jedoch aufgrund einer fehlerhaften Würdigung des Vorbringens des Beklagten unter Verstoß gegen § 286 ZPO, Art. 103 Abs. 1 GG davon ausgegangen, dass den Klägern hinsichtlich des Zusatzauftrags „Wakaflex“ ein Widerrufsrecht gemäß den §§ 355 Abs. 1, 312g Abs. 1, 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB zustand. Bei seiner Annahme, der Zusatzauftrag sei unstreitig bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien vor Ort erteilt worden, hat das Berufungsgericht das von ihm im Tatbestand als streitig dargestellte Vorbringen des Beklagten, wonach der Zusatzauftrag wie auch der Hauptauftrag abgestuft erteilt worden sei, nicht hinreichend beachtet. Der Beklagte hat hierzu unter Benennung eines Zeugen vorgetragen, dass bei Durchführung des Hauptauftrags dem ausführenden Mitarbeiter des Beklagten aufgefallen sei, dass der Wandanschluss beschädigt gewesen sei. Er habe dies dem Kläger mitgeteilt und ihn gefragt, ob diese Zusatzarbeiten miterledigt werden sollten. Nachdem der Kläger dies bejaht habe, habe der Mitarbeiter den Beklagten über den defekten Wandanschluss und den Wunsch des Klägers telefonisch unterrichtet, dass diese Arbeiten mit durchgeführt werden sollten. Der Beklagte, dem der Mitarbeiter die erforderlichen Daten mitgeteilt habe, habe dem Kläger daraufhin mitgeteilt, dass die Arbeiten durchgeführt werden könnten, diese einen Tag in Anspruch nehmen würden und zum Nachweis zuzüglich Materialkosten ausgeführt würden. Am folgenden Tag habe der Beklagte die Baustelle persönlich aufgesucht. Der Kläger habe ihm gegenüber die Annahme des Angebots erklärt. Dieser Sachvortrag ist dahin zu verstehen, dass der Beklagte behauptet hat, er habe das Angebot für den Zusatzauftrag bereits am 22.08.2018 abgegeben, der Kläger habe dieses im Namen beider Kläger jedoch erst am 23.08.2018 bei dem Termin vor Ort angenommen. Das Berufungsgericht hat demgegenüber unter Verstoß gegen § 286 ZPO, Art. 103 Abs. 1 GG einen Sachverhalt als unstreitig zugrunde gelegt, der im Widerspruch zu diesem als streitig erkannten Vortrag des Beklagten steht, ohne den vom Beklagten angebotenen Beweis zu erheben. Es hat in den Entscheidungsgründen im Widerspruch zu dem bezeichneten Vorbringen des Beklagten festgestellt, es sei unstreitig, dass der Zusatzauftrag nach Erläuterung der Kostenhöhe und des Zeitaufwands vor Ort bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit von Kläger und Beklagtem erteilt worden sei. Daraus geht hervor, dass das Berufungsgericht die Behauptung des Beklagten nicht hinreichend berücksichtigt hat, dem Kläger sei bereits am Vortag vor dem abschließenden Ortstermin am 23.08.2018 ein Angebot über die Ausführung der Zusatzarbeiten unterbreitet worden, das der Kläger im Ortstermin vom 23.08.2018 lediglich angenommen hat. Der Verfahrensfehler ist erheblich. Ist zugunsten des Beklagten davon auszugehen, dass der Kläger das vom Beklagten bereits am 22.08.2018 unterbreitete Angebot für den Zusatzauftrag „Wakaflex“ am 23.08.2018 lediglich angenommen hat, liegt kein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag vor. Nach § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB sind außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge solche, die bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit des Verbrauchers und des Unternehmers an einem Ort geschlossen werden, der kein Geschäftsraum des Unternehmers ist. Nach § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB genügt es, wenn der Verbraucher unter den in Nr. 1 genannten Umständen ein Angebot für den Abschluss eines Vertrags abgegeben hat. Die Kläger sind zwar gemäß § 13 BGB als Verbraucher anzusehen, weil sie als natürliche Personen das Rechtsgeschäft nicht zu Zwecken abgeschlossen haben, die überwiegend ihrer gewerblichen oder ihrer selbstständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können. Der Vertrag ist vor Ort aber nicht, wie nach § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB erforderlich, bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien geschlossen worden. Hierfür ist erforderlich, dass sowohl das Angebot als auch die Annahme bei gleichzeitiger Anwesenheit der Vertragspartner erklärt werden. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der Kläger hat nach dem für das Revisionsverfahren zu unterstellenden Vorbringen des Beklagten für beide Kläger in dem Termin vor Ort in Anwesenheit des Beklagten lediglich dessen am Tag zuvor abgegebenes Angebot für die Reparatur des beschädigten Wandanschlusses angenommen.
Eine gegenüber dem Angebot des Unternehmers derart zeitlich versetzte Auftragserteilung wird von § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB nicht erfasst. Diese Vorschrift, mit der die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2011 (Verbraucherrechterichtlinie) ins deutsche Recht umgesetzt wird und die mit der Bestimmung in Art. 2 Nr. 8a der Verbraucherrechterichtlinie inhaltlich übereinstimmt, ist richtlinienkonform im Lichte dieser Richtlinie auszulegen, wobei bei der Auslegung zu beachten ist, dass nach Art. 4 der Richtlinie eine Vollharmonisierung der zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Vorschriften angestrebt wird. Ein Vertragsschluss bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien außerhalb von Geschäftsräumen liegt danach nicht vor, wenn der Verbraucher ein vom Unternehmer am Vortag unterbreitetes Angebot am Folgetag außerhalb von Geschäftsräumen lediglich annimmt. Für diese – schon nach dem Wortlaut naheliegende – Auslegung von § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB spricht auch der mit der Verbraucherrechterichtlinie verfolgte Zweck. Aus dem Erwägungsgrund Nr. 21 der Richtlinie ergibt sich, dass von der Begriffsbestimmung für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge Situationen nicht erfasst werden sollen, in denen der Unternehmer zunächst in die Wohnung des Verbrauchers kommt, um ohne jede Verpflichtung des Verbrauchers lediglich Maße aufzunehmen oder eine Schätzung vorzunehmen, und der Vertrag danach erst zu einem späteren Zeitpunkt in den Geschäftsräumen des Unternehmers auf der Grundlage der Schätzung des Unternehmers abgeschlossen wird. Dies wird damit begründet, dass der Verbraucher in einem solchen Fall Gelegenheit hatte, vor Vertragsschluss über die Schätzung des Unternehmers nachzudenken. Die dieser Situation zugrunde liegende rechtliche Wertung erfasst auch den Fall, dass der Unternehmer dem Verbraucher aufgrund eines Aufmaßes oder einer Schätzung ein Angebot unterbreitet, das der Verbraucher nach einer Überlegungszeit bei gleichzeitiger Anwesenheit mit dem Unternehmer außerhalb von Geschäftsräumen lediglich annimmt. Auch in diesem Fall entstehen dem Verbraucher durch das vom Unternehmer erstellte Angebot unmittelbar noch keine Verpflichtungen. Findet eine Vertragsverhandlung nicht sofort im Anschluss an das Angebot statt, sondern hat der Verbraucher Gelegenheit, das Angebot des Unternehmers zu prüfen und zu überdenken, ist nach dem mit der Verbraucherrechterichtlinie verfolgten Schutzzweck der Tatbestand des bei gleichzeitiger Anwesenheit der Vertragsparteien außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrags nicht erfüllt. Eine typische Druck- oder Überraschungssituation i.S.v. Erwägungsgrund Nr. 21 der Verbraucherrechterichtlinie, vor der § 312b BGB schützen soll, liegt dann nicht vor. Danach stand den Klägern hinsichtlich des Zusatzauftrags „Wakaflex“ kein Widerrufsrecht gemäß den §§ 355 Abs. 1, 312g Abs. 1, 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB zu. Die Kläger sind dadurch, dass der Beklagte ihnen die Modalitäten für die Ausführung des Zusatzauftrags und die hierfür entstehenden Kosten in Form eines Angebots am 22.08.2018 mitgeteilt hatte, in die Lage versetzt worden, das Angebot bis zu dessen Annahme am 23.08.2018 zu überdenken.
Es liegt auch kein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag i.S.d. § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB vor. Nach dieser Vorschrift sind außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge solche, für die der Verbraucher unter den in § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB genannten Umständen ein Angebot abgegeben hat. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Kläger haben nicht lediglich gemäß § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB ein Angebot abgegeben, das der Beklagte zu einem späteren Zeitpunkt angenommen hat. Die Vorschrift kann über ihren Wortlaut hinaus auch nicht dahin ausgelegt werden, dass jedwede Vertragserklärung des Verbrauchers – also auch, wie hier, eine Annahmeerklärung – erfasst werden soll, die dieser bei gleichzeitiger Anwesenheit mit dem Unternehmer an einem nicht zum Geschäftsraum des Unternehmers gehörenden Ort abgibt. Im Hinblick auf die mit der Verbraucherrechterichtlinie angestrebte Vollharmonisierung (Art. 4 der Verbraucherrechterichtlinie) kommt eine erweiternde Auslegung über den Wortlaut des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB hinaus nicht in Betracht. Der Begriff „Angebot“ in § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB, der dem Wortlaut des Art. 2 Nr. 8 Buchst. b der Verbraucherrechterichtlinie entspricht, findet sich entsprechend auch in anderen Sprachfassungen der Verbraucherrechterichtlinie (vgl. z.B. „offer“, „offre“, „offerta“, „oferta“, „aanbod“). Er bezieht sich auf das für den Verbraucher bindende Angebot auf Abschluss eines Vertrags. Der Begriff des Angebots kann mit dem Begriff der Vertragserklärung dagegen nicht gleichgesetzt werden. Dieser wird vielmehr als Oberbegriff sowohl für ein auf den Abschluss eines Vertrags gerichtetes Angebot als auch für eine Annahme eines solchen verwendet. Anhaltspunkte dafür, dass nach dem Sinn und Zweck der Verbraucherrechterichtlinie auch die Annahme eines vom Unternehmer nicht am selben Tag, sondern bereits zuvor, unterbreiteten Angebots von der Vorschrift erfasst werden soll, bestehen nach den vorstehenden Ausführungen nicht. Insbesondere besteht in einem solchen Fall nicht die Gefahr, dass der Verbraucher durch die Umstände des Vertragsschlusses zum Abschluss des Vertrags veranlasst wird, ohne zuvor seine Entscheidung hinreichend überdenken zu können. Eine Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 AEUV zur Auslegung von Art. 2 Nr. 8 Buchst. b der Verbraucherrechterichtlinie ist nicht geboten, weil die Auslegung des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB unter Berücksichtigung der Vorschriften der Verbraucherrechterichtlinie keinem vernünftigen Zweifel unterliegt.
Ein Widerrufsrecht der Kläger wäre nicht gemäß § 312g Abs. 2 Nr. 11 BGB ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift besteht kein Widerrufsrecht bei Verträgen, bei denen der Verbraucher den Unternehmer ausdrücklich aufgefordert hat, ihn aufzusuchen, um dringende Reparatur- oder Instandhaltungsmaßnahmen vorzunehmen. Zwar haben die Kläger die Ausführung der Arbeiten, die Gegenstand des Zusatzauftrags waren, unstreitig ausdrücklich verlangt. Das allein rechtfertigt aber nicht die Anwendung der Ausnahmevorschrift. § 312g Abs. 2 Nr. 11 BGB bezieht sich nur auf dringende Reparatur- und Instandhaltungsmaßnahmen. Dass hinsichtlich des defekten Wandanschlusses ein dringender Reparaturbedarf bestand, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Hierfür genügt nicht, dass die Ausführung des Zusatzauftrags im Hinblick auf das bereits stehende Gerüst wirtschaftlich sinnvoll gewesen sein mag. Soweit die Beklagte der Auffassung ist, dass die mit dem ersten Auftrag ausgesprochene Aufforderung zur Ausführung von Dacharbeiten für die vom Zusatzauftrag erfassten Arbeiten „fortwirke“, kann das für einen Ausschluss des Widerrufsrechts schon deshalb nicht genügen, weil nicht von einem Vertrag über dringende Reparaturarbeiten auszugehen ist. Aus demselben Grunde kommt es nicht entscheidend auf die Frage an, ob die den Gegenstand des Zusatzauftrags bildenden Arbeiten mit denjenigen des ersten Auftrags in einem engen Zusammenhang standen, erwartbar waren und nicht erheblich von den vom ersten Auftrag erfassten Leistungen abwichen.


C.
Kontext der Entscheidung
Mit dieser Entscheidung hat der BGH erstmals höchstrichterlich die Grundvoraussetzung für einen Verbrauchervertrag i.S.d. § 312b Abs. 1 Nr. 1 BGB, die seit dem 13.06.2014 gilt, für die Anforderungen des Tatbestandsmerkmals der gleichzeitigen Anwesenheit definiert. Danach ist diese Voraussetzung nur erfüllt, wenn sowohl das Angebot und auch die Annahme bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien erklärt werden (vgl. Koch, Anm. zum Besprechungsurteil, NJW 2023, 3085, sowie Anm. Schwenker, jurisPR-PrivBauR 12/2023 Anm. 1, unter C). Eine zeitlich versetzte Auftragserteilung erfüllt diese Voraussetzung nicht. Die Definition ist maßgeblich für die in § 312b Abs 1 Satz 1 Nr. 2 BGB geregelten Fälle, in denen der Verbraucher ein Angebot abgegeben hat (Junker/Seiter in: jurisPK-BGB, 10. Aufl., Stand: 01.02.2023, § 312b Rn. 25)). Die Voraussetzungen des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB sind nicht gegeben, wenn der Unternehmer bei gleichzeitiger Anwesenheit ein bindendes Angebot abgibt und der Verbraucher es erst später annimmt (Rn. 28 bis 30 des Besprechungsurteils; Maume in: BeckOK BGB, 68. Ed. Stand: 01.11.2023, § 312b Rn. 17; Junker/Seiter in: jurisPK-BGB, 10. Aufl., Stand: 01.02.2023, § 312b Rn. 22). Nr. 2erweitert den Anwendungsbereich der Nr. 1. Nr. 2 ist nur anwendbar, wenn der Unternehmer das Angebot abgibt. Entscheidend ist die Abgabe und nicht der Zugang des Angebots des Verbrauchers (Maume in: BeckOK BGB, 68. Ed. Stand: 01.11.2023, § 312b Rn. 17; Junker/Seiter in: jurisPK-BGB, 10. Aufl., Stand: 01.02.2023, § 312b Rn. 22 f.). Entsprechendes gilt, wenn das Angebot von einem Vertreter des Verbrauchers abgegeben worden ist (Maume in: BeckOK BGB, 68. Ed. Stand: 01.11.2023, § 312b Rn. 15).
Die Grundlage der Argumentation des VII. Zivilsenats ist die Verbraucherrechte-RL. § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB setzt Art. 2 Nr. 8 Buchst. a Verbraucherrechte-RL um. Die Regelung des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB war folglich richtlinienkonform auszulegen (Rn. 23 des Besprechungsurteils; zur richtlinienkonformen Auslegung vgl. i.E. Möllers, Juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 2021, § 12 Rn. 16 ff.). Der BGH verweist für den Regelungszweck des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB auf den Erwägungsrund 21 der Verbraucherrechte-RL (Rn. 24 des Besprechungsurteils):
„Ein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag sollte definiert werden als ein Vertrag, der bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit des Unternehmers und des Verbrauchers an einem Ort, der nicht zu den Geschäftsräumen des Unternehmers gehört, geschlossen wird, also beispielsweise in der Wohnung oder am Arbeitsplatz des Verbrauchers. Außerhalb von Geschäftsräumen steht der Verbraucher möglicherweise psychisch unter Druck oder ist einem Überraschungsmoment ausgesetzt, wobei es keine Rolle spielt, ob der Verbraucher den Besuch des Unternehmers herbeigeführt hat oder nicht. Die Begriffsbestimmung für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge sollte nicht Situationen umfassen, in denen der Unternehmer zunächst in die Wohnung des Verbrauchers kommt, um ohne jede Verpflichtung des Verbrauchers lediglich Maße aufzunehmen oder eine Schätzung vorzunehmen, und der Vertrag danach erst zu einem späteren Zeitpunkt in den Geschäftsräumen des Unternehmers oder mittels Fernkommunikationsmittel auf der Grundlage der Schätzung des Unternehmers abgeschlossen wird.“ Der VII. Zivilsenat überträgt diese rechtliche Wertung auf die Fallkonstellation, die der Entscheidung zugrunde liegt (Rn. 25 des Besprechungsurteils).
Eine Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV hat der VII. Zivilsenat für nicht als geboten erachtet, „weil die Auslegung des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB unter Berücksichtigung der Vorschriften der Verbraucherrechterichtlinie keinem vernünftigen Zweifel unterliegt“ (Rn. 26 des Besprechungsurteils). Die zitierten Urteile des EuGH betreffen die Voraussetzungen, unter denen ein innerstaatliches Gericht von der Vorlagepflicht befreit ist (Rn. 34 a.E. des Besprechungsurteils; zur Rspr. des EuGH zur Befreiung von der Vorlagepflicht vgl. i.E. Wegener in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 267 AEUV Rn. 33 m.w.N.).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Auswirkungen dieser Rechtsprechung für die Praxis sind im hohen Maße relevant, die Entscheidung ist ein bedeutender Beitrag zur Rechtssicherheit. Unternehmer sind in einer Konstellation wie in dem entschiedenen Fall davor geschützt, dass der Auftraggeber, nachdem der Unternehmer seine Leistung erbracht hat, den Vertrag widerruft. Die wirtschaftlichen Folgen für den Unternehmer wären gravierend. Wenn die nach dieser Rechtsprechung erforderlichen Voraussetzungen beim Abschluss des Vertrages vorlagen, steht dem Verbraucher ein Widerrufsrecht zu, das er auch nach der Erfüllung des Vertrages ausüben kann, wenn er nicht ordnungsgemäß belehrt worden ist, ohne dass er zur Vergütung oder zum Wertersatz der bis zur Widerruferklärung erbrachten Leistungen verpflichtet ist (EuGH, Urt. v. 17.05.2023 - C-97/22 - NZBau 2023, 450 = EuZW 2023, 893 „DC/HJ“ m. Anm. Rieländer, EuZW 2023, 893; Schwenker, jurisPR-PrivBauR 8/2023 Anm. 1, unter C; Staudinger/Krauß, jurisPR-IWR 3/2023 Anm. 2; Kröger, jurisPR-HaGesR 7/2023 Anm. 1; Besprechungsaufsatz Wendehorst, NJW 2023, 2155). Die Widerrufsfrist beginnt nicht, bevor der Unternehmer den Verbraucher gemäß Art. 249 § 3 EGBGB über sein Widerrufsrecht belehrt hat. Das Widerrufsrecht erlischt spätestens zwölf Monate und 14 Tage nach dem in § 355 Abs. 2 Satz 2 BGB genannten Zeitpunkt (Vertragsschluss), wie § 356e BGB bestimmt.
Bei einem Verbraucherwerkvertrag i.S.v. § 650i Abs. 1 BGB, der dem Urteil des EuGH zugrunde liegt, beginnt die Widerrufsfrist nicht, bevor der Unternehmer den Verbraucher gemäß Art. 249 § 3 EGBGB über sein Widerrufsrecht belehrt hat. Das Widerrufsrecht erlischt spätestens zwölf Monate und 14 Tage nach dem in § 355 Abs. 2 Satz 2 BGB genannten Zeitpunkt (Vertragsschluss), wie § 356e BGB bestimmt (zu den Voraussetzungen eines Verbraucherwerkvertrags vgl. BGH, Urt. v. 16.03.2023 - VII ZR 94/22 - MDR 2023, 696; i.E. Martens in: BeckOK BGB, 68. Ed. Stand: 01.11.2023, § 312 Rn. 22 f.; Schwenker/Rodemann in: Erman, BGB, 17. Aufl. 2023, § 650i Rn. 3).



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