Keine Pflicht zur Vorlage von Bescheiden der Träger nach SGB II oder SGB XII zum Nachweis der Hilfebedürftigkeit durch eine AufrechnungLeitsätze 1. Der Widerspruch gegen die Aufrechnungsentscheidung einer Krankenkasse hat keine aufschiebende Wirkung. 2. Auch wenn Versicherte eine verstärkte Mitwirkungsobliegenheit trifft, müssen Krankenkassen vor der Aufrechnung von Beitragsforderungen gegen Krankengeldansprüche von Amts wegen Feststellungen zum Eintritt von Hilfebedürftigkeit treffen; Versicherte sind nicht verpflichtet, zum Nachweis ihrer Hilfebedürftigkeit Bescheide des Jobcenters oder des Sozialamtes vorzulegen. - A.
Problemstellung Nach § 51 Abs. 2 SGB I kann der zuständige Leistungsträger unter anderem mit Beitragsansprüchen gegen laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen, wenn der Leistungsberechtigte nicht nachweist, dass er dadurch hilfebedürftig i.S.d. SGB II oder SGB XII wird. Der Widerspruch gegen einen solchen Aufrechnungsbescheid mit Beitragsforderungen hat wegen § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG keine aufschiebende Wirkung, weshalb der Betroffene auf einstweiligen Rechtsschutz angewiesen ist, will er aktuell die Aufrechnung nicht hinnehmen. Das LSG Berlin-Potsdam ist in dem Verfahren dem Antragsteller entgegengekommen und hat die Nachweise des Antragstellers für dessen Hilfebedürftigkeit als ausreichend erachtet und die Hilfebedürftigkeit selbst detailliert errechnet. Die von Krankenkassen offenbar in der Verwaltungspraxis geforderte Bescheinigung der zuständigen Sozialhilfeträger oder des Jobcenters über die Hilfebedürftigkeit ist dann nicht notwendig, zumal der Antragsteller hier nicht im Leistungsbezug stand und damit auch kein Rechtsanspruch auf Erteilung einer solchen Bescheinigung bestand.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Der Antragsteller war bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Nach Aufhebung eines Insolvenzverfahrens befand er sich in der Wohlverhaltensphase. Die Antragsgegnerin hatte ihm gegenüber offene Beitragsforderungen i.H.v. insgesamt 4.787,77 Euro, die zur Insolvenztabelle angemeldet waren. Seit August 2024 war der Antragsteller arbeitsunfähig erkrankt. Nach Beendigung der Entgeltfortzahlung bewilligte die Antragsgegnerin Krankengeld. Von diesem zahlte sie zunächst nur die Hälfte aus. Der Antragsteller teilte mit, er benötige das Krankengeld zum Bestreiten seines Lebensunterhaltes. Die Antragsgegnerin forderte ihn auf, seine Hilfebedürftigkeit durch Unterlagen des zuständigen Sozialleistungsträgers oder Jobcenters nachzuweisen und rechnete sodann zur Tilgung ihrer Forderung gegen den Anspruch auf Auszahlung des Krankengeldes einen Betrag i.H.v. 27,87 Euro kalendertäglich auf. Hiergegen erhob der Antragsteller Widerspruch, der bei der Eilentscheidung noch nicht beschieden war. Gleichzeitig stellte der Antragsteller beim Sozialgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, reichte weitere Unterlagen ein und beantragte, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs anzuordnen sowie die Vollzugsfolgen zu beseitigen. Er sei hilfebedürftig. Die Antragsgegnerin vertrat die Ansicht, dass ausschließlich der zuständige Sozialleistungsträger die Hilfebedürftigkeit feststellen könne. Das Sozialgericht hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, weil der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht habe, dass er durch die Aufrechnung hilfebedürftig geworden sei. Der von § 51 Abs. 2 SGB I geforderte Nachweis der Hilfebedürftigkeit sei durch den Leistungsberechtigten zu erbringen. Eine schlichte Erklärung über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse sei grundsätzlich nicht ausreichend. Der Antragsteller habe es versäumt, eine Bedarfsberechnung des Sozialamts bzw. Jobcenters einzuholen. Mit seiner Beschwerde trug der Antragsteller vor, § 51 SGB I sehe für das Nachweisverfahren keine bestimmte Form vor. Es gebe keine gesetzliche Grundlage für Jobcenter und Sozialämter, Bescheinigungen zu erteilen. Er sei seiner Nachweisobliegenheit nachgekommen und habe Kontoauszüge, den Mietvertrag, den Unterhaltstitel und entsprechende Zahlungen nachgewiesen, um die durch die Aufrechnung eingetretene Hilfebedürftigkeit zu belegen. Er habe die begehrte Bescheinigung beim zuständigen Jobcenter beantragt. Trotz der Einschaltung dreier Schuldnerberatungen und des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten sei eine Bescheinigung nicht ausgestellt worden. Der Berichterstatter am Landessozialgericht berechnete anhand der Angaben des Antragstellers die durch die Aufrechnung eingetretene Hilfebedürftigkeit und wies auf die fehlende Ermessensausübung hin. Daraufhin räumte die Antragsgegnerin ein, ihre Ermessenserwägungen nicht schriftlich niedergelegt zu haben und kündigte an, dies im Widerspruchsverfahren nachzuholen. Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung mit der Maßgabe, das Krankengeld (vorläufig) auszuzahlen, nehme die Hauptsache unzulässig vorweg. Das LSG Berlin-Potsdam hat entschieden, dass das Sozialgericht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu Unrecht abgelehnt habe. Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiege das Vollziehungsinteresse der Antragsgegnerin. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nach § 86a Abs. 1 SGG entfalle nach § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG bei der Anforderung von Beiträgen. Bei einer Aufrechnung nach § 51 Abs. 2 SGB I handle es sich um eine solche Anforderung von Beiträgen i.S.d. § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG (Hinweis auf LSG Schleswig, Beschl. v. 14.02.2011 - L 5 R 17/11 B ER Rn. 11). Das Gericht der Hauptsache könne in diesem Falle die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG). Aus dem vom Gesetzgeber geregelten Vorrang des Vollziehungsinteresses folge zugleich, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen müssten, um entgegen dem gesetzlichen Regel-Ausnahme-Verhältnis das Aussetzungsinteresse höher als das Vollzugsinteresse zu gewichten. Umgekehrt seien die Anforderungen an die Erfolgsaussichten geringer, je schwerer die angefochtene Entscheidung wirke (Hinweise auf LSG Potsdam, Beschl. v. 07.06.2022 - L 4 BA 28/21 B ER Rn. 4; LSG Potsdam, Beschl. v. 27.08.2021 - L 28 BA 12/21 B ER Rn. 14). Bei summarischer Prüfung bestehen vorliegend ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Aufrechnungsentscheidung. Nach § 51 Abs. 2 SGB I könne der zuständige Leistungsträger mit Beitragsansprüchen gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen, wenn der Leistungsberechtigte nicht nachweise, dass er dadurch hilfebedürftig werde. Der Antragsteller habe im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren umfassende Nachweise vorgelegt, aus denen sich der Eintritt einer Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II durch die Aufrechnung ergebe. Der von § 51 Abs. 2 SGB I geforderte Nachweis der Hilfebedürftigkeit sei durch den Versicherten zu erbringen. Ihn treffe eine verstärkte Mitwirkungsobliegenheit (LSG Darmstadt, Beschl. v. 12.01.2021 - L 5 R 282/20 Rn. 33). Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts und der Antragsgegnerin (ebenso jedoch auch LSG Halle (Saale), Beschl. v. 27.07.2020 - L 1 R 92/20 B ER Rn. 59) seien die Versicherten nicht verpflichtet, zum Nachweis ihrer Hilfebedürftigkeit Bescheide des Jobcenters oder des Sozialamtes vorzulegen. Die Nachweisobliegenheit des § 51 Abs. 2 SGB I beseitige den Untersuchungsgrundsatz nicht, so dass von Amts wegen zu ermitteln sei, ob Hilfebedürftigkeit eintrete. Allerdings könne sich die Ermittlungspflicht durch die Mitwirkungsobliegenheit verringern (so ausdrücklich BSG, Beschl. v. 31.01.2017 - B 13 R 33/16 BH Rn. 22). Wenn der Versicherte nicht im Bezug von Existenzsicherungsleistungen stehe, dann könne der Eintritt der Hilfebedürftigkeit durch Einkommensnachweise, Mietvertrag oder eine Vermögensaufstellung nachgewiesen werden (h.M., Hinweise auf LSG Darmstadt, Beschl. v. 12.01.2021 - L 5 R 282/20 Rn. 34; LSG Mainz, Beschl. v. 02.05.2019 - L 2 R 50/19 Rn. 24; LSG Halle, Beschl. v. 23.06.2016 - L 3 R 394/15 B ER Rn. 39; Siefert in: BeckOGK, 01.08.2022, § 51 SGB I Rn. 21; v. Koppenfels-Spies in: Hauck/Noftz SGB I, 50. EL, § 51 SGB I Rn. 25; Timme/Weingart in: LPK-SGB I, 4. Aufl. 2020, § 51 SGB I Rn. 17). Es sei gerade nicht erforderlich, dass er Sozialhilfe beantrage oder beziehe. Vorliegend sei der Antragsteller bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit nicht im Bezug von existenzsichernden Leistungen gestanden, so dass ein solcher Bescheid nicht zur Verfügung gestanden habe. Das Verfahren zeige, dass eine Probeberechnung des zuständigen Existenzsicherungsträgers ohne vorherigen Leistungsbezug nicht einfach zu erhalten sei. Das könne jedoch dahinstehen, weil der Antragsteller nicht nur eine schlichte Erklärung über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse abgegeben, sondern im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren umfassende Angaben zur Hilfebedürftigkeit gemacht habe. Der Antragsteller habe glaubhaft gemacht, wegen der Aufrechnung bedürftig (geworden) zu sein. Sein Existenzsicherungsbedarf als Alleinlebender summiere sich auf 1.005,02 Euro. Diesem Bedarf stände im Oktober 2024 ein anrechenbares Erwerbseinkommen von 1.235,25 Euro gegenüber, welches den Existenzsicherungsbedarf zwar überschreite. Für eine Aufrechnung gegen den Krankengeldanspruch stünden jedoch monatlich nur 230,23 Euro oberhalb des Existenzsicherungsbedarfs zur Verfügung. Tatsächlich habe die Antragsgegnerin für Oktober 2024 mehr als das Dreifache aufgerechnet und dadurch eine Hilfebedürftigkeit des Antragstellers herbeigeführt. § 51 SGB I erlaube dem Sozialversicherungsträger zwar die Aufrechnung, jedoch habe er Ermessen auszuüben. Daran fehle es im Bescheid gänzlich, was die Antragsgegnerin auch einräume. Eine Heilung sei mangels Bekanntgabe eines Widerspruchsbescheides nicht eingetreten, § 41 SGB X. Eine Vorwegnahme der Hauptsache liege bei der Verpflichtung zur vorläufigen Gewährung von Geldleistungen nur vor, wenn ausnahmsweise eine spätere Rückforderung im Falle des Unterliegens des Antragstellers im Hauptsacheverfahren rechtlich ausgeschlossen sei. Dafür liegen keine Anhaltspunkte vor. Denn bei dem etwaigen Rückforderungsanspruch nach Auszahlung des Krankengeldes handle es sich um eine nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandene Forderung, die an der Restschuldbefreiung nicht teilnehme.
- C.
Kontext der Entscheidung Die Entscheidung berührt mehrere Komplexe des Verfahrensrechts, insbesondere des einstweiligen Rechtsschutzes, sowie Grundfragen der Aufrechnung nach § 51 SGB I. Dabei werden vom LSG Berlin-Potsdam mehrere Aussagen getroffen, die – weil eher selten so klar formuliert und entschieden – auch in die Kommentarliteratur Eingang finden könnten. 1. Der Widerspruch gegen Bescheide, in denen die Aufrechnung mit offenen Beitragsforderungen erklärt wird, hat keine aufschiebende Wirkung. Grundsätzlich haben Widerspruch und Anfechtungsklage nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung. Diese entfällt nach § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG bei der Entscheidung über Beitragspflichten sowie der Anforderung von Beiträgen. Mit dem LSG Schleswig (Beschl. v. 14.02.2011 - L 5 R 17/11 B ER Rn. 11) geht das Landessozialgericht zutreffend davon aus, dass der Begriff der „Anforderung“ i.S.d. § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG nicht nur das Geltendmachen einer Geldforderung umfasst, sondern alle Verwaltungsakte, die zur Realisierung des behördlichen Anspruchs auf öffentliche Abgaben ergehen (ganz h.M; vgl. nur Richter in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86a SGG, Stand: 15.06.2022 Rn. 34; Keller in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 14. Aufl. 2023, § 86a Rn. 13a; ebenso LSG Darmstadt, Beschl. v. 12.01.2021 - L 5 R 282/20). 2. Das LSG Berlin-Potsdam meint, aus dem vom Gesetzgeber geregelten Vorrang des Vollziehungsinteresses folge, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen müssten, um entgegen dem gesetzlichen Regel-Ausnahme-Verhältnis das Aussetzungsinteresse höher als das Vollzugsinteresse zu gewichten. Das Landessozialgericht hat damit zwar den materiellen Prüfungsmaßstab richtig benannt, übersieht aber § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG. Hiernach gilt für Abgabensachen nach § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG (Anforderung von Beiträgen) ein anderer Maßstab. Danach soll (!) die Aussetzung der Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Aus der Verwendung des Wortes „soll“ in § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG wird geschlossen, dass die Aussetzung im Regelfall ausgesprochen werden „muss“, wenn die Voraussetzungen vorliegen (statt vieler Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 14. Aufl. 2023, § 86a SGG Rn. 27). Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit bestehen nach h.M. dann, wenn der Erfolg wahrscheinlicher ist als der Misserfolg des Rechtsbehelfs, bloße Bedenken genügen nicht. Eine unbillige Härte liegt erst bei Nachteilen vor, die über die eigentliche Zahlungsverpflichtung hinausgehen, die nicht oder nur schwer wiedergutzumachen sind, z.B. eine wirtschaftliche Gefährdung oder eine drohende Insolvenz (Richter in: jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86a SGG, Stand: 15.06.2022 Rn. 79). Zwar erkennt das Landesozialgericht, dass es zu ermitteln hat, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Aufrechnungsverwaltungsakts bestehen. Ein Rekurs auf die einschlägige Rechtsfolgenanordnung in § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG hätte die gefundene Entscheidung aber noch „stärker“ gemacht. 3. Für die Prüfung der ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit ist nun zunächst auf die materielle Rechtsgrundlage der Aufrechnung, § 51 SGB I, einzugehen. Nach § 51 Abs. 2 SGB I kann mit Beitragsansprüchen gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufgerechnet werden, wenn der Leistungsberechtigte nicht nachweist (!), dass er dadurch hilfebedürftig i.S.d. SGB XII oder SGB II wird. Die Formulierung „nachweisen“ deutet zumindest darauf hin, dass über den Amtsermittlungsgrundsatz hinaus vom Antragsteller eine gesteigerte Mitwirkung gefordert wird. Es handelt sich zutreffend um eine „weiter gehende Pflicht“ i.S.d. § 21 Abs. 2 Satz 2 SGB X, die der Ermittlung des Sachverhalts dient und den Untersuchungsgrundsatz ergänzt (so Siefert in: BeckOGK, EL 129, Stand 01/2025, § 51 SGB I Rn. 20). Die Abgrenzung dürfte hier im Einzelnen schwierig sein. Zutreffend dürfte die Entscheidung sein, dass die pauschale Behauptung, eine Einbehaltung bis zur Hälfte der monatlichen Rente stelle „einen nachhaltigen und schwerwiegenden Eingriff“ dar, nicht genügt (so LSG Stuttgart, Urt. v. 26.09.2024 - L 10 R 1060/24 LS Nr. 6 und Rn. 122 f.). Vorliegend hat der Antragsteller jedoch weitgehend und detailliert Belege und Auskünfte über seine Einkommensverhältnisse gegeben (anders etwa bei LSG Neustrelitz, Urt. v. 06.03.2025 - L 4 R 79/18 LS und Rn. 30). Das Landessozialgericht hat auf diese zurückgegriffen und selbst die Berechnung der Hilfebedürftigkeit (von Amts wegen) vorgenommen. 4. Ebenso wie das Glaubhaftmachen in § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG nicht den Amtsermittlungsgrundsatz aushebelt, darf man sich hier nicht hinter der Anforderung einer „Bescheinigung“ des Jobcenters bzw. des Sozialhilfeträgers verstecken. Soweit ersichtlich hat die Krankenkasse als Antragsgegnerin sich weitgehend auf dieses Erfordernis einer amtlichen Bescheinigung der Hilfebedürftigkeit berufen, die der Antragsteller nicht vorlegen konnte. Allerdings stand der Antragsteller nicht im Leistungsbezug nach dem SGB II oder SGB XII und es ist – worauf des Landessozialgericht zutreffend verweist – in diesen Büchern (ebenso wenig wie im SGB I) eine Rechtsgrundlage ersichtlich, die die genannten Träger verpflichten würde, solche Bescheinigungen bzw. Vergleichsberechnungen für Nicht-Leistungsbezieher vorzunehmen und auszustellen (zutreffend Siefert in: BeckOGK, EL 129, Stand 01/2025, § 51 SGB I Rn. 21: diese Leistungsträger werden weder bereit noch in der Lage sein, solche Bescheinigungen auszustellen). 5. Das Landessozialgericht hat nunmehr diese Berechnung der Hilfebedürftigkeit selbst vorgenommen und kam zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller durch die Aufrechnung hilfebedürftig geworden sei. Für eine Aufrechnung gegen den Krankengeldanspruch stünden monatlich nur 230,23 Euro oberhalb des Existenzsicherungsbedarfs zur Verfügung. Tatsächlich habe die Antragsgegnerin für Oktober 2024 mehr als das Dreifache aufgerechnet und dadurch eine Hilfebedürftigkeit des Antragstellers herbeigeführt. Nicht ganz nachvollziehbar ist bei dieser Argumentation dann aber, wieso das Landessozialgericht bei einer exakt nachgerechneten Möglichkeit der Aufrechnung mit 230,23 Euro diesen Betrag dann nicht auch tenoriert hat. Die Krankenkasse hat zwar diesen zulässigen (Aufrechnungs-)Betrag weit überschritten, mit 230,23 Euro hätte sie jedoch (auch nach der Berechnung des Landessozialgerichts) aufrechnen dürfen, weshalb hier – grob geschätzt – ein Obsiegen des Antragstellers nur zu 2/3 gerechtfertigt gewesen wäre. Geht man schon – was ausdrücklich zu begrüßen ist – so weit, die Hilfebedürftigkeit in Euro und Cent genau zu berechnen, so spricht doch nichts dagegen, diese Berechnungen auch umzusetzen. Insgesamt bestanden ja nicht Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Aufrechnung, sondern gerade nur i.H.v. 2/3 des einbehaltenen Betrags. 6. Nicht unproblematisch ist die kurze Prüfung der Ermessensausübung durch das LSG Berlin-Potsdam. Zutreffend wird zunächst darauf abgestellt, dass die Aufrechnungsentscheidung im Ermessen der Behörde stehe und diese, auch nach eigenem Bekunden, kein Ermessen ausgeübt hat (zur Erforderlichkeit einer Ermessensentscheidung bei der insoweit identischen Verrechnung nach § 52 SGB I vgl. Spellbrink, jurisPR-SozR 9/2025 Anm. 1 m.z.w.N.). Allerdings war das Verfahren hier erst im Stadium des Widerspruchs und die Antragsgegnerin hätte noch nach § 41 SGB X die fehlende Ermessensausübung unproblematisch heilen können. Insofern wird man sie an dieser Nichtausübung des Ermessens nur festhalten können, wenn ganz gewichtige Gesichtspunkte vorliegen, die den Sachverhalt in die Nähe einer Ermessensreduzierung auf null rücken. Da im vorliegenden Fall keine Gesichtspunkte besonderer Art erkennbar waren (zu solchen Ermessensgesichtspunkten vgl. Spellbrink, jurisPR-SozR 9/2025 Anm. 1), wäre ein alleiniges Abstellen auf die unterlassene Ermessensausübung (bei grundsätzlicher Nachholbarkeit im Widerspruchsverfahren) wohl nicht ausreichend, um nur hieraus eine Rechtswidrigkeit des Aufrechnungsbescheids ableiten zu können. 7. Zutreffend hat das LSG Berlin-Potsdam abschließend entschieden, dass mit seiner Tenorierung keine Vorwegnahme der Hauptsache vorliegt. Zwar wird teilweise vertreten, dass hierunter auch Fälle der „faktischen Irreversibilität“ fallen könnten (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG, Stand: 22.05.2025 Rn. 511). Diese läge vor, wenn im Wege einer einstweiligen Anordnung Geldleistungen (zur Existenzsicherung) zugesprochen würden. Zwar bestehe eine Rückzahlungspflicht, wenn der Antragsteller in der Hauptsache nicht obsiege. Gerade bei Streitigkeiten nach dem SGB II oder dem SGB XII seien die Rückzahlungsverpflichteten zu einer Rückzahlung oft ganz oder teilweise nicht in der Lage. Ob dem zu folgen sei, sei dahingestellt. Da der Antragsteller ja gerade nicht im Leistungsbezug nach dem SGB II steht, liegen zunächst keine Anhaltspunkte für die Vermutung einer solchen rein faktischen Vorwegnahme der Hauptsache vor. Zutreffend wird zudem von der wohl h.M. darauf abgestellt, dass eine Vorwegnahme der Hauptsache nur dann vorliege, wenn die Rückforderung bei Obsiegen der Antragsgegnerin im Hauptsacheverfahren rechtlich unmöglich wäre (statt vieler Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 14. Aufl. 2023, § 86a SGG Rn. 31). Jedenfalls bestand rechtlich (!) kein Hindernis für die Antragsgegnerin, ihr Geld wieder zu erlangen, weil die Forderung nicht unter die Restschuldbefreiung des Antragstellers fällt.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Natürlich handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung eines Landessozialgerichts. Der Beschluss kann aber dazu dienen, die rein verwaltungspraktisch motivierte Forderung der Vorlage von Bescheiden/Berechnungen der Sozialhilfeträger oder des Jobcenters über den Eintritt der Hilfebedürftigkeit aufgrund einer Aufrechnung zu relativieren. Allein auf die Nichtvorlage einer solchen Bescheinigung/Vergleichsberechnung kann die Entscheidung über den Eintritt der Hilfebedürftigkeit durch eine Aufrechnung jedenfalls nicht gestützt werden. Das LSG Berlin-Potsdam führt im Rahmen eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes selbst umfangreiche Berechnungen durch, was als Stärkung des Amtsermittlungsgrundsatzes nur zu begrüßen ist. Allerdings hätte der Tenor dann auch entsprechend der Berechnungen anders ausfallen müssen. Auch wenn man grundsätzlich die Entscheidung über die Aufrechnung nach § 51 SGB I in das Ermessen der Behörde stellt, kann bei fehlender Ermessensausübung eine Entscheidung des Sozialgerichts im einstweiligen Rechtsschutz nicht ausschließlich auf die fehlende Ermessensausübung gestützt werden, wenn der Widerspruch im Hauptsacheverfahren noch anhängig ist und keine besonderen Umstände vorliegen, die ausnahmsweise das Ermessen auf null schrumpfen lassen.
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