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Anmerkung zu:OLG Naumburg 1. Strafsenat, Beschluss vom 18.12.2024 - 1 Ws 496/24 (B-Sonst)
Autor:Dr. Jens Peglau, Vors. RiOLG
Erscheinungsdatum:29.09.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 454 StPO, § 57 StGB
Fundstelle:jurisPR-StrafR 19/2025 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Mayeul Hiéramente, RA und FA für Strafrecht
Zitiervorschlag:Peglau, jurisPR-StrafR 19/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung bei Leugnen der Anlasstat



Leitsätze

1. a) Strebt ein Verurteilter eine Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung an und leugnet er die Anlasstat, spricht dies für sich genommen nicht gegen eine positive Prognose, da eine erfolgreiche Aufarbeitung der Tat nicht ausnahmslos ein Schuldbekenntnis voraussetzt.
1. b) Wenn allerdings die Leugnung der Tat die erfolgreiche Aufarbeitung der Ausgangsdelinquenz verhindert, ohne die der Verurteilte nicht in die Lage versetzt wird, erneute deliktsnahe Situationen zu erkennen und Strategien für eine Bewältigung zu entwickeln, ist die im Rahmen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB vorzunehmende Legalprognose negativ.
2. Will die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung eines Strafrestes einer Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung aussetzen, ist die Einholung eines Sachverständigengutachtens gemäß § 454 Abs. 2 StPO in den Fällen entbehrlich, in denen die Strafaussetzung aufgrund besonderer Umstände nicht verantwortet werden kann.



A.
Problemstellung
Die vorliegende Entscheidung befasst sich mit der Frage, wann eine bedingte Entlassung „unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“ (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB), wenn sowohl zugunsten des Verurteilten (Erstverbüßereigenschaft), wie auch zu seinen Lasten (u.a. schwerwiegende Taten) gewichtige Umstände streiten und er darüber hinaus auch die begangenen Taten leugnet.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Verurteilte verbüßt eine dreieinhalbjährige Freiheitsstrafe wegen schwerer Vergewaltigung und besonders schweren Raubes. Die Taten hatte er zum Nachteil seiner früheren Ehefrau begangen, die sich zuvor von ihm getrennt hatte. Das hatte bei ihm zu einem Kränkungserleben geführt. Die abgeurteilten Taten streitet der Verurteilte ab, nur ein (nicht abgeurteiltes) Stalking räumt er ein.
Die Strafvollstreckungskammer hat die bedingte Entlassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe abgelehnt. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten hat der 1. Strafsenat des OLG Naumburg als unbegründet verworfen.
Der Senat verweist zunächst darauf, dass die Vollstreckungsgerichte sich nicht über die Rechtskraft der Anlassverurteilung hinwegsetzen dürften. Sie müssten zwingend auf der Grundlage des rechtskräftigen Urteils ihre Prognoseentscheidung treffen, auch wenn der Verurteilte sich zu Unrecht verurteilt sieht.
Der Senat geht vom Prüfungsmaßstab des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Satz 2 StGB aus und stellt zunächst im Hinblick auf das Merkmal des „Gewichts des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts“ auf Art und Schwere der begangenen Straftaten ab. Sodann stellt er klar, dass dann, wenn ein Verurteilter (wie im vorliegenden Fall) erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt und sein Verhalten im Vollzug keinen Anlass zu gewichtigen Beanstandungen gegeben hat, für ihn die sog. „Erstverbüßervermutung“ spricht. Es könne dann im Regelfall davon ausgegangen werden, dass die Strafe ihre spezialpräventive Wirkung entfaltet habe und eine bedingte Entlassung verantwortbar sei. Diese Vermutung erfahre aber Einschränkungen, wenn das Gewicht der betroffenen Rechtsgüter – wie hier – besonders hoch sei. Dann reichten allgemeine Erfahrungssätze nicht aus, um eine „hinreichend zweifelsfreie“ günstige Prognose stellen oder „auch nur entscheidend mitprägen zu können“. In solchen Fällen müsse aufgrund von feststehenden und entsprechend gewichtigen Tatsachen eine günstige Prognose gestellt werden können. Diese müssten die Ursachen, die zur Tat geführt haben, betreffen. Sie müssten soweit behoben sein, dass eine naheliegende Chance für ein günstiges Ergebnis der Erprobung in Freiheit bestehe. Das erfordert die aktive Auseinandersetzung mit der Tat und ihre erfolgreiche Aufarbeitung. Die zur Tat führenden Charakter- und Persönlichkeitsmängel müssten „weitestgehend“ behoben sein. Es müsse im Strafvollzug eine Entwicklung von besonderem Gewicht stattgefunden haben.
Auf den vorliegenden Fall übertragen sei es so, dass eine Tatleugnung zwar nicht ausnahmslos eine günstige Prognose hindere. Hier führe sie aber dazu, dass der Verurteilte sich nicht mit den deliktsursächlichen Faktoren auseinandergesetzt habe. Ausweislich der (anlässlich der 2/3-Entscheidung) abgegebenen Stellungnahme der Leiterin der JVA hätten deliktsursächliche Defizite in der Persönlichkeit des Täters nicht behoben werden können. Die Leugnung stelle sich als „ausgeprägte psychodynamische Abwehr“ dar. Zudem seien „kognitive Verzerrungen, fehlende Verantwortungsübernahme, mangelnde Opferempathie, eine massive Externalisierung und ein defizitärer Umgang mit Kränkungssituationen zu verzeichnen“. Die Tatleugnung führe hier dazu, dass der Verurteilte nicht in die Lage versetzt wurde, deliktsnahe Situationen als Gefahr zu erkennen und Vermeidungsstrategien zu entwickeln.
Schließlich geht der Senat noch auf das Vorbringen des Verurteilten, dass eine Wiederholung nicht zu erwarten sei, weil sich die Taten auf seine frühere Ehefrau bezogen hätten, ein und meint, dass die unbehandelten Persönlichkeitsdefizite in vergleichbaren Situationen erneut zum Tragen kommen könnten. Angesichts des offensichtlich unzureichenden Behandlungsstandes habe die Strafvollstreckungskammer auch kein (Prognose-)Gutachten nach § 454 Abs. 2 StPO einholen müssen.


C.
Kontext der Entscheidung
Zunächst einmal ist klar, dass das Vollstreckungsgericht hinsichtlich der abgeurteilten Taten von der rechtskräftigen Anlassverurteilung ausgehen muss, mag der Verurteilte die Taten auch in Abrede stellen (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 20.04.2017 - 1 Ws 157/17; OLG Jena, Beschl. v. 31.07.2020 - 1 Ws 227/20). Für den Verurteilten bleibt hier -– will er seine Überzeugung von seiner Unschuld rechtsverbindlich durchsetzen -– nur der Weg über das Wiederaufnahmeverfahren.
In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird – mit unterschiedlichen Nuancen – ein sog. „Erstverbüßerprivileg“ (manchmal auch – etwas unglücklich – „Erstverbüßervermutung“ genannt) postuliert. Danach soll davon auszugehen sein, dass der Strafvollzug bei einem erstmals in Strafhaft befindlichen Verurteilten seine resozialisierende Wirkung entfaltet hat, wenn es im Strafvollzug an seinem Verhalten keine gewichtigen Beanstandungen gegeben hat (vgl. etwa: KG Berlin, Beschl. v. 26.05.2021 - 5 Ws 88/21 - 161 AR 70/21 m.w.N.; OLG Hamm, Beschl. v. 10.03.2020 - III-3 Ws 67/20 m.w.N.). Inwieweit dieses Erstverbüßerprivileg Einschränkungen erfährt, ist dann in der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht ganz einheitlich. Während das KG Berlin etwa nicht davon ausgeht, dass dieses Privileg generell nicht gilt, wenn die Tatursachen in einer erheblichen Verstrickung des Täters in ein kriminogenes Milieu, seiner Persönlichkeitsstruktur oder seinen Lebensverhältnissen ihre Wurzel haben, und lediglich annimmt, dass diese Umstände im Einzelfall einer bedingten Entlassung trotz Erstverbüßereigenschaft entgegenstehen können (KG Beschl. v. 26.05.2021 - 5 Ws 88/21 - 161 AR 70/21 m.w.N. Rn. 15 f.), nehmen andere Obergerichte einen etwas strengen Maßstab an. Sie gehen davon aus, dass auf das Erstverbüßerprivileg nicht zurückgegriffen werden könne, wenn etwa die begangenen Taten auf besondere Gefahren für die Allgemeinheit hindeuteten (KG Berlin, Beschl. v. 19.05.2022 - 2 Ws 60/22 - 161 AR 73/22: Betäubungsmittelhandel; OLG Hamburg, Beschl. v. 16.12.2021 - 1 Ws 97/21; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 31.08.2021 - 1 Ws 171/21: sexueller Kindesmissbrauch; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 18.02.2022 - 1 Ws 19/22: organisierte Kriminalität; vgl. zum Ganzen: Hillenbrand, ZAP 2023, 151, 153 f.). Dieser letztgenannten, etwas restriktiveren Auffassung tritt nunmehr das OLG Naumburg bei. Letztendlich muss man sich auch bei einem Erstverbüßer genau anschauen, ob er bereits soweit von der bisherigen Strafverbüßung beeindruckt ist bzw. soweit erfolgreich resozialisierende Maßnahmen durchgeführt wurden, dass tatsächlich das Rückfallrisiko auf das nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB erforderliche Maß gemindert ist. Es ist also in jedem Fall eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände erforderlich, bei der der Umstand der Erstverbüßung einer unter vielen ist. Die Begrifflichkeiten von „Erstverbüßerprivileg“ oder gar „Erstverbüßervermutung“ können dafür manchmal eher den Blick verstellen.
Die Tatleugnung darf nicht allein für sich genommen herangezogen werden, um eine ungünstige Prognose zu begründen (BVerfG, Beschl. v. 11.01.2016 - 2 BvR 2961/12 u.a. m. Anm. Peglau, jurisPR-StrafR 5/2016 Anm. 2). Dass die Tatleugnung einer bedingten Entlassung nicht unbedingt entgegensteht, ist ebenfalls gesicherte obergerichtliche bzw. höchstrichterliche Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschl. v. 10.04.2014 - StB 4/14; OLG Hamm, Beschl. v. 22.09.2009 - 3 Ws 279/09 m.w.N.). Tatleugnung kann unschädlich sein, wenn sich der Täter gleichwohl glaubhaft von seiner früheren Gewaltbereitschaft lossagt (BGH, Beschl. v. 10.04.2014 - StB 4/14); sie kann ungünstig sein, wenn die wegen der Leugnung mangelnde Tataufarbeitung ihre Ursache in einem fortbestehenden Persönlichkeits- oder emotionalen Defizit hat und dadurch die Besorgnis begründet wird, dass ohne Überwindung dieser Störung nach der Haftentlassung neue Straftaten drohen (OLG Hamm, Beschl. v. 22.09.2009 - 3 Ws 279/09 m.w.N.; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 31.08.2017 - 1 Ws 248/17; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 11.01.2016 - 2 BvR 2961/12) und sie kann in Ausnahmefällen sogar günstig sein, wenn sie etwa aus Scham erfolgt (OLG Hamm, Beschl. v. 22.09.2009 - 3 Ws 279/09 m.w.N.). In diesem Rahmen hält sich auch die vorliegende Entscheidung, wenn sie auf eine wegen der Leugnung nicht erfolgte Tataufarbeitung und Behandlung der Persönlichkeitsdefizite des Verurteilten abstellt. Ob man ggf. die Stellungnahme der JVA hätte weiter hinterfragen müssen, ist eine andere Frage. So kann man schon kritisch sehen, ob eine entsprechende Behandlung von kognitiver Verzerrung, fehlender Verantwortungsübernahme, mangelnder Opferempathie und defizitärer Umgang mit Kränkungserleben nicht auch auf der Basis des vom Verurteilten eingeräumten Stalkingverhaltens möglich gewesen wäre. Dieses scheint doch in denselben Persönlichkeitsmerkmalen verwurzelt zu sein und sich nur als deren mildere Ausprägung darzustellen. Das ist allerdings nur im Einzelfall zu beantworten und hier aufgrund der knappen Angaben zum Inhalt der Stellungnahme der JVA nicht bewertbar.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Eine Tatleugnung vermag für sich genommen keine ungünstige Prognose im Rahmen der Prüfung der bedingten Entlassung zu begründen. Ungünstig ist es aber, wenn infolge der Tatleugnung eine Bearbeitung der tatrelevanten Kriminalitätsursachen in der Persönlichkeit des Täters nicht erfolgt.
Werden von (potenziellen) Wiederholungstaten des Verurteilten gewichtige Rechtsgüter betroffen sein, so gilt das Erstverbüßerprivileg (Erstverbüßervermutung) nur sehr eingeschränkt und es muss eine umfassende Gesamtwürdigung, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Entwicklung im Strafvollzug und der Bearbeitung tatrelevanter Persönlichkeitsdefizite, vorgenommen werden.



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