Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Auf einen von einer in Nordrhein-Westfalen anerkannten Umweltvereinigung erhobenen Normenkontrollantrag hat das OVG Münster entschieden, dass der angegriffene Bebauungsplan unwirksam ist, weil er wegen Vollzugsunfähigkeit nicht erforderlich i.S.d. § 1 Abs. 3 BauGB sei.
Denn die Abschätzung des Rates, dass der Vollziehung des Bebauungsplans keine Zugriffsverbote nach § 44 Abs. 1 BNatSchG entgegenstehen werden, sei im konkreten Fall nicht tragfähig. Die dem Rat im maßgeblichen Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bebauungsplans vorliegenden Erkenntnisse ermöglichten keine valide Bewertung der Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung artenschutzrechtlicher Zugriffsverbote. Denn der Rat habe nicht alle Umstände ermittelt und untersucht, die für eine ordnungsgemäße Prognose erforderlich gewesen wären. Hierzu führte das OVG Münster drei Gründe an:
Zum einen sei aufgrund der Besonderheiten des Falles das auf der Bestandserfassung basierende Datenmaterial bei Inkrafttreten des Bebauungsplans nicht hinreichend aktuell gewesen, obwohl die Bestandserfassung erst wenige Jahre zurücklag. Angesichts von als grundlegend zu bewertenden Veränderungen wäre eine weiter gehende Betrachtung erforderlich gewesen, um die jeweils artspezifisch zu bestimmenden etwaigen Betroffenheiten der Fortpflanzungsstätte sowie etwaiger Ruhestätten im Landlebensraum durch die Bauleitplanung zu ermitteln und – soweit erforderlich – zu bewerten. Eine solche weitere, den Anforderungen genügende Betrachtung der aufgezeigten Veränderungen habe der Rat aber fehlerhaft nicht vorgenommen.
Zum anderen trat hinzu, dass der Rat an ihn herangetragene konkrete Anhaltspunkte für nennenswerte Vorkommen von weiteren besonders geschützten Arten nicht ausreichend nachgegangen sei. Dies habe sich als ungenügend erwiesen, da die Antragsgegnerin in den Jahren 2023 und 2024 vor Inkrafttreten des Bebauungsplans konkrete Anhaltspunkte für nennenswerte Vorkommen von weiteren besonders schützenswerten Arten erhielt, ohne dass diese adäquat abgearbeitet wurden.
Zuletzt sei auch die Abschätzung des Rates, dass artenschutzrechtliche Zugriffsverbote hinsichtlich einer Ackerbrache nicht eintreten werden, fehlerhaft.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung beschäftigt sich in ihrem Schwerpunkt mit der Frage der Vollzugsunfähigkeit eines Bebauungsplans aufgrund fehlerhafter Ermittlung und Bewertung im Rahmen der erforderlichen Prognose, ob der Realisierung des Bebauungsplans dauerhafte Hindernisse tatsächlicher oder rechtlicher Art entgegenstehen, hier in Form artenschutzrechtlicher Verbotstatbestände i.S.d. § 44 Abs. 1 BNatSchG.
Dazu arbeitet das OVG Münster zunächst basierend auf der Rechtsprechung des BVerwG heraus, dass die Prognose, ob der Realisierung des Bebauungsplans dauerhafte Hindernisse tatsächlicher oder rechtlicher Art entgegenstehen, keine letzte Gewissheit verlangt, dass der Vollzug der Regelung unter allen Umständen ausgeschlossen sein wird, sondern die von den konkreten Einzelfallumständen abhängige Prüfung, ob auf der Grundlage der Darlegungen des Planungsträgers in der Planbegründung die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Bebauungsplan bzw. einzelne seiner Festsetzungen realistischerweise umgesetzt werden können.
Dabei sei nicht zuletzt die Art der in Rede stehenden Festsetzungen von Bedeutung. Der Planungsträger verfehle die Anforderungen des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB, wenn er nicht darlegen könne, wie der Vollzug solcher Festsetzungen zumindest langfristig erfolgreich bewirkt werde (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.06.2014 - 4 CN 4/13 Rn. 14). Maßgeblich für die Prognose, ob der Realisierung des Bebauungsplans dauerhafte Hindernisse tatsächlicher oder rechtlicher Art entgegenstehen, sind nach Ansicht des OVG Münster die dem Rat vorliegenden Erkenntnisse. Für die Überprüfung dieser Prognose des Rates komme es allgemeinen Grundsätzen entsprechend auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bebauungsplans an.
Ein die Vollzugsunfähigkeit nach sich ziehendes rechtliches Hindernis können – wie die Entscheidung an mehreren Stellen ausführt – artenschutzrechtliche Verbotstatbestände sein. Da diese allein auf die Verwirklichungshandlung bezogen sind, haben sie für die Bauleitplanung zunächst nur mittelbare Bedeutung. Nicht der Bebauungsplan oder einzelne seiner Festsetzungen, sondern erst deren Verwirklichung stellen den verbotenen Eingriff dar. Deshalb findet grundsätzlich eine Verlagerung der speziellen artenschutzrechtlichen Prüfung auf die Zulassungsebene statt. Infolge dieser mittelbaren Bedeutung für die Bauleitplanung bedarf es im Aufstellungsverfahren lediglich einer Abschätzung durch den Plangeber, ob der Verwirklichung der Planung artenschutzrechtliche Verbotstatbestände als unüberwindliche Vollzugshindernisse entgegenstehen werden.
Im Rahmen seiner Abschätzung hat der Plangeber die bei Verwirklichung der Planung voraussichtlich betroffenen Arten sowie Art und Umfang ihrer voraussichtlichen Betroffenheit unter Hinzuziehung naturschutzfachlichen Sachverstands überschlägig zu ermitteln und zu bewerten. Welche Anforderungen an Art, Umfang und Tiefe der auf die Arten bezogenen Untersuchungen zu stellen sind, hängt von den naturräumlichen Gegebenheiten im Einzelfall sowie von Art und Ausgestaltung des Vorhabens ab.
Erforderlich ist eine ausreichende, nicht jedoch eine lückenlose Ermittlung und Bestandsaufnahme. Ein lückenloses Arteninventar aufzustellen, d.h. den „wahren“ Bestand von Fauna und Flora eines Naturraums vollständig abzubilden, sei nach Ansicht des OVG Münster weder tatsächlich möglich noch rechtlich geboten. Dieser Ansicht ist zuzustimmen.
Denn die Bestandsaufnahme muss die planende Gemeinde in die Lage versetzen, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Verbotstatbestände und möglicher Befreiungslagen zu überprüfen. Dies erfordert eine ausreichende Bestandsaufnahme der im Geltungsbereich des Bebauungsplans vorhandenen Arten und ihrer Lebensräume, die in den Anwendungsbereich der Verbote fallen.
Seine Abschätzung muss der Plangeber überdies auf einen hinreichend aktuellen Datenbestand stützen. Ohne dass gesetzliche Vorgaben zur Aktualität naturschutzfachlicher Bestandsaufnahmen existieren, können aus naturschutzfachlicher Sicht faunistisch-tierökologische Daten, die nicht älter als fünf Jahre sind, in aller Regel als aktuelle Entscheidungsgrundlage herangezogen werden. Da es sich bei einer solchen zeitlichen Grenze jedoch nur um einen ersten Anhalt handelt, kann bei Hinweisen auf grundlegende Änderungen jedoch auch eine erst wenige Jahre zurückliegende Bestandserfassung nicht mehr hinreichend aussagekräftig sein; umgekehrt gilt dies aber genauso. Maßgeblich sind also die jeweiligen Einzelfallumstände.