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Anmerkung zu:BVerfG 1. Senat, Beschluss vom 25.09.2023 - 1 BvR 1790/23
Autor:Dr. Dr. Adem Koyuncu, RA und Arzt
Erscheinungsdatum:25.07.2024
Quelle:juris Logo
Normen:Art 2 GG, § 2 SGB 5
Fundstelle:jurisPR-MedizinR 7/2024 Anm. 1
Herausgeber:Möller und Partner - Kanzlei für Medizinrecht
Zitiervorschlag:Koyuncu, jurisPR-MedizinR 7/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Zur Erstattungsfähigkeit des Off-Label-Use von Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung



Orientierungssatz

1a. Zwar folgt aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen. Allerdings können die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten. Dies gilt insbesondere in Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25, <44f>).
1b. In einem solchen Fall kann es daher geboten sein, die Leistung spezieller Behandlungsmethoden durch die Krankenkasse zu gewähren, auch wenn für die Erkrankung schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen. Dabei muss allerdings die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen (a.a.O. <49f>).
2a. Die Sozialgerichte haben in solchen Fällen zu prüfen, ob es für die vom Arzt nach gewissenhafter fachlicher Einschätzung vorgenommene oder von ihm beabsichtigte Behandlung ernsthafte Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Erfolg der Heilung oder auch nur auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im konkreten Einzelfall gibt. Insoweit kommt u.a. der fachlichen Einschätzung der behandelnden Ärzte Bedeutung zu (a.a.O. <50>). Rein experimentelle Behandlungsmethoden, die nicht durch hinreichende Indizien gestützt sind, unterfallen hingegen nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.02.2013 - 1 BvR 2045/12).
2b. Allein die Einschätzung des behandelnden Arztes zwingt für sich genommen noch nicht zur Annahme, dass die begehrte Therapie Aussicht auf Erfolg habe. Es ist nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte zudem ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Datenlage zu den Erfolgsaussichten des Therapieansatzes fordert. Dieses Kriterium erscheint grundsätzlich geeignet, die gebotene Abgrenzung zwischen hinreichenden Indizien für eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auch nur auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf einerseits und rein experimentellen Behandlungen andererseits vorzunehmen.
2c. Stützt sich das Leistungsbegehren im Wesentlichen auf die Einschätzung eines, nämlich des behandelnden Arztes, sind an diese besonders hohe Anforderung zu stellen. Es kann hierbei je nach den Umständen des Einzelfalls erwartet werden, dass sich diese Einschätzung mit allen zur Verfügung stehenden Informationen auseinandersetzt, hierbei auch gegen eine Wirksamkeit sprechende Aspekte sowie Risiken der Behandlung erwägt und diese gewissenhaft gegenüber Indizien für eine Wirksamkeit und den erhofften Nutzen der Behandlung abwägt.
3. Hier: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung der Kostenübernahme für eine Behandlung einer infantilen Tay-Sachs-Erkrankung mit Miglustat bei aktueller (Off-label-)Therapie mit Tanganil. Die fachgerichtliche Feststellung, es fehle im Falle des Beschwerdeführers an einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zudem ist nicht dargelegt, dass die fachgerichtliche Feststellung und Würdigung des Sachverhalts deutliche Fehler enthalten würde (wird jeweils ausgeführt).



A.
Problemstellung
In diesem Beschluss des BVerfG geht es um den Off-Label-Use von Arzneimitteln. Damit ist die zulassungsüberschreitende Anwendung eines Arzneimittels gemeint. Die Frage nach der Erstattungsfähigkeit des Off-Label-Use in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beschäftigt regelmäßig die Sozialgerichte, aber auch das BVerfG. In dem besprochenen Beschluss geht es einerseits um die materiellen Voraussetzungen der Leistungspflicht der GKV beim Off-Label-Use, aber auch um prozessuale Aspekte.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Bei dem 2020 geborenen Beschwerdeführer wurde im März 2022 die Krankheit GM2-Gangliosidose/Morbus Tay-Sachs diagnostiziert. Die seltene angeborene Stoffwechselerkrankung ist gekennzeichnet durch einen zunehmenden Verlust kognitiver und motorischer Fähigkeiten mit schwersten Behinderungen und dramatisch verkürzter Lebenserwartung. Eine schulmedizinisch anerkannte kausale Therapie steht nicht zur Verfügung. Seit dem Frühjahr 2022 erhält der Beschwerdeführer eine Off-Label-Therapie mit dem Arzneimittel Tanganil.
Im November 2022 beantragte der Beschwerdeführer bei seiner gesetzlichen Krankenkasse die Kostenübernahme für eine weitere Off-Label-Therapie, und zwar nun mit dem Wirkstoff Miglustat. In einer Stellungnahme schrieb die behandelnde Kinderärztin, dass Miglustat bei der Anwendung innerhalb seiner Zulassung und bei GM1-Gangliosidosen zu einer Verlangsamung bzw. Stabilisierung des Krankheitszustandes führe. Dies erhoffe man sich auch bei Patienten mit Morbus Tay-Sachs, auch wenn Miglustat dafür nicht zugelassen sei. Nach Informationen eines Spezialisten gebe es bei Patienten mit Morbus Tay-Sachs bereits einen Off-Label-Use.
Die Krankenkasse lehnte den Antrag nach Einholung eines Gutachtens durch den Medizinischen Dienst ab. Im Widerspruchsverfahren legte der Beschwerdeführer Stellungnahmen vor, die auf Indizien aus Grundlagenforschung an Mäusen verwiesen, wonach Miglustat die GM2-Akkumulation senke. Klinische Studien am Menschen der Phasen II und III lägen wegen der Seltenheit seiner Erkrankung nicht vor.
Die Krankenkasse wies den Widerspruch nach Konsultation des Medizinischen Dienstes zurück, da keine ausreichende Evidenz für einen positiven klinisch relevanten Effekt von Miglustat vorliege. Es handle sich eher um einen experimentellen Behandlungsansatz. Auch sei zu berücksichtigen, dass bereits im Oktober 2022 langsame motorische Fortschritte berichtet wurden und dies auf die Tanganil-Medikation zurückgeführt worden sei.
Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erwirkte der Beschwerdeführer beim Sozialgericht die vorläufige Versorgung mit Miglustat durch die Krankenkasse. Auf dieser Basis wurde die Therapie mit Miglustat im Mai 2023 eingeleitet.
Den stattgebenden Beschluss des Sozialgerichts hob aber das Landessozialgericht mit dem nun angegriffenen Beschluss vom 12.07.2023 auf und lehnte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Das Landessozialgericht stellte einerseits fest, dass bereits der Anordnungsgrund nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden sei. Es führte aus, die Glaubhaftmachung der Vermögensverhältnisse sei erforderlich, da eine Vorfinanzierung der Therapiekosten von ca. 5.000 Euro pro Monat für einen kurz- bis mittelfristigen Zeitraum nicht ausgeschlossen erscheine.
Ferner stellte es fest, dass auch ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden sei. Es bestehe nach den gesetzlichen Vorschriften und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG kein Anspruch des Beschwerdeführers auf Versorgung mit Miglustat zulasten der GKV. Die Voraussetzungen einer Gewährung des Arzneimittels im Rahmen des Off-Label-Use seien nicht erfüllt und auch ein Seltenheitsfall sei nicht glaubhaft gemacht.
Auch die Leistungsvoraussetzungen nach § 2 Abs. 1a SGB V seien nicht hinreichend glaubhaft gemacht, da die Aussicht auf spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf allenfalls ganz entfernt liegend sei. Auch bei sehr schweren Erkrankungen benötigten Behandlungsversuche ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Datengrundlage, die über Tierversuche hinausgehe. Nicht ausreichend sei nur das subjektive Empfinden des Patienten bzw. die Empfehlung des behandelnden Arztes.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer, dass die Beschlüsse des Landessozialgerichts seine Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen. Angesichts der geringen verbleibenden Lebenserwartung sei es ihm nicht zumutbar, auf die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache verwiesen zu werden. Soweit das Landessozialgericht die Voraussetzungen eines Leistungsanspruchs verneint habe, habe es die vom BVerfG dafür entwickelten Anforderungen überspannt.
Das Landessozialgericht verkenne, dass sich seine Erkrankung wegen ihrer Seltenheit nicht zu Studien am Menschen mit wissenschaftlichem Aussagewert eigne. Zur Beurteilung der Erfolgsaussichten seien bei seiner Krankheit nur die Ergebnisse im Mausversuch und die Wahrnehmung der mit Miglustat behandelten Kinder, ihrer Ärzte und Therapeuten verfügbar und ausreichend. Nach den Anforderungen des BVerfG komme der fachlichen Einschätzung im Einzelfall durch die Ärzte des Erkrankten maßgebliche Bedeutung zu.
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Sie sei unzulässig, da sie nicht den gesetzlichen Darlegungsanforderungen genüge. So setze sich ihre Begründung schon nicht mit dem (die angegriffene LSG-Entscheidung eigenständig tragenden) Grund des Fehlens eines Anordnungsgrundes auseinander. Der Beschwerdeführer habe nicht dargelegt, inwiefern diese Annahme des Landessozialgerichts ihn in seinen Grund- oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt.
Nach der Rechtsprechung des BVerfG folge zwar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die GKV auf Bereitstellung bestimmter Leistungen. Die Gestaltung des GKV-Leistungsrechts habe sich aber an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. Insofern können diese Grundrechte in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der Normen des GKV-Rechts verpflichten. Dies gelte insbesondere bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankungen. Dabei müsse aber die vom Versicherten gewählte Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Rein experimentelle Behandlungen unterfallen aber nicht der Leistungspflicht der GKV.
Vor diesem Hintergrund habe der Beschwerdeführer nicht substanziiert dargelegt, dass das Landessozialgericht diese verfassungsrechtlichen Anforderungen missachtet hätte. Er habe auch nicht hinreichend dargelegt, dass die konkrete Subsumtion des Landessozialgerichts verfassungsrechtlich zu beanstanden wäre.
Der Beschwerdeführer behaupte, das Landessozialgericht habe die Anforderungen des BVerfG an die Annahme einer nicht ganz fernliegenden Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf überspannt, indem es die Einschätzung des behandelnden Arztes für nicht ausreichend befand. Der Beschwerdeführer übersehe aber, dass das BVerfG die Einschätzung des behandelnden Arztes nicht per se für ausreichend halte, sondern eine Prüfung im Einzelfall erwartet, ob ernsthafte Hinweise auf eine Wirksamkeit vorliegen. Dafür nennt das BVerfG verschiedene Aspekte, aus denen sich solche Hinweise ergeben können.
Verfassungsrechtlich sei es nicht zu beanstanden, dass das Landessozialgericht ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Datenlage zugunsten des Off-Label-Use fordere. Stütze sich das Leistungsbegehren im Wesentlichen auf die Einschätzung des behandelnden Arztes, seien an diese besonders hohe Anforderungen zu stellen. Diese Einschätzung solle sich mit allen verfügbaren Informationen auseinandersetzen und auch gegen eine Wirksamkeit sprechende Aspekte sowie Risiken der Behandlung ansprechen und diese gegenüber dem erhofften Nutzen abwägen.
Insgesamt sei die Beurteilung des Landessozialgerichts nicht unvertretbar. Es sei nicht zu beanstanden, dass es die Verweise auf Veröffentlichungen oder den nicht näher dargelegten Einsatz von Miglustat bei anderen Patienten angesichts der detaillierten Darstellung der Datenlage durch den Medizinischen Dienst als unzureichend erachtet habe. Demnach sei das Krankheitsbild des Beschwerdeführers auch durchaus medizinisch erforschbar, was auch durch Studien und Grundlagenforschung geschehe.
Schließlich sei es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landessozialgericht die Schilderung einer gesundheitlichen Stabilisierung seit Beginn der Off-Label-Therapie mit Miglustat als nicht ausreichend angesehen habe. Der Vortrag des Beschwerdeführers setze sich nicht mit dem vom Medizinischen Dienst aufgezeigten Umstand auseinander, dass schon im Oktober 2022 unter der Therapie mit Tanganil medizinische Fortschritte berichtet wurden. Daher sei in Abgrenzung zu dieser Therapie zu erörtern gewesen, aufgrund welcher Anhaltspunkte die beobachtete Stabilisierung der Krankheit gerade auf die Off-Label-Gabe des Miglustat zurückzuführen sei.


C.
Kontext der Entscheidung
Der Rechtsstreit betraf die Frage nach der Erstattungsfähigkeit des Off-Label-Use in der GKV. Generell kann der Off-Label-Use durchaus als ein Dauerbrenner in der medizin- und pharmarechtlichen Praxis angesehen werden.
Der Off-Label-Use meint den kurativ motivierten Einsatz eines Arzneimittels jenseits seiner zugelassenen Parameter (z.B. Anwendungsgebiete). Der Off-Label-Use ist abzugrenzen von der Anwendung eines noch gar nicht zugelassenen Arzneimittels (vgl. Koyuncu, Arzneimittelversorgung im Off-Label-Use – der rechtliche Rahmen, Deutsche Medizinische Wochenschrift 2012, 1519 m.w.N.).
Die Frage der Erstattungsfähigkeit des Off-Label-Use in der GKV beschäftigt regelmäßig die Sozialgerichtsbarkeit. Eine Vielzahl von ober- und höchstrichterlichen Entscheidungen ist dazu ergangen. Schon die Zusammenfassung der zentralen Entscheidungen würde den Rahmen dieser Anmerkung sprengen (vgl nur BSG, Urt. v. 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R; BSG, Urt. v. 26.09.2006 - B 1 KR 1/06 R; BSG, Urt. v. 08.11.2011 - B 1 KR 19/10 R; BSG, Urt. v. 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R sowie jüngst BSG, Urt. v. 29.06.2023 - B 1 KR 35/21 R).
Neben den vom BSG richterrechtlich entwickelten Voraussetzungen ist für die Erstattungsfähigkeit des Off-Label-Use auch § 2 Abs. 1a SGB V bedeutsam. Diese Vorschrift geht zurück auf den sog. Nikolaus-Beschluss des BVerfG, dessen Leitsatz vom Gesetzgeber für diese Norm verwendet wurde (BVerfG, Beschl. v. 06.12.2005 - 1 BvR 347/98).
Die meisten Verfahren um den Off-Label-Use sind durch fallspezifische Besonderheiten gekennzeichnet, die sich auf die rechtliche Beurteilung auswirken. Das gilt insbesondere auch für den besprochenen Fall. So fällt bei diesem auf, dass bei dem Beschwerdeführer gleich zwei Arzneimittel off-label eingesetzt wurden, was später wiederum die Zuordnung der beobachteten medizinischen Fortschritte erschwerte.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Dem Beschluss des BVerfG ist insgesamt zuzustimmen. Obwohl es sich dabei nur um einen Nichtannahmebeschluss handelt, enthält er mehrere für die Praxis relevante Feststellungen, von denen einige hier nochmal kurz aufgezeigt werden.
Festzuhalten sind zunächst die vom BVerfG in Erinnerung gerufenen Anforderungen an Verfassungsbeschwerden. Ihre Begründung soll dem BVerfG eine zuverlässige Grundlage für die Behandlung des Verfahrens geben. Die Verfassungsbeschwerde muss sich mit dem zugrunde liegenden einfachen Recht und der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Sachverhalts auseinandersetzen und substanziiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint. Stützen sich angegriffene Gerichtsentscheidungen auf mehrere selbstständig tragende Gründe, müssen Beschwerdeführer zu jedem einzelnen Grund substanziiert vortragen.
Der Fall verdeutlicht ferner, dass Antragsteller in einstweiligen Rechtsschutzverfahren auch zum Anordnungsgrund substanziiert vortragen müssen. So wies das Landessozialgericht den vorliegenden Antrag schon wegen der fehlenden Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes ab. Das BVerfG bestätigte dies und stellte fest, dass der Beschwerdeführer dazu nicht ausreichend vorgetragen hat.
Der Beschluss bestätigt im Übrigen die etablierten materiellen Voraussetzungen für die GKV-Leistungspflicht des Off-Label-Use, enthält aber Klarstellungen zu den Voraussetzungen des Anspruchs aus § 2 Abs. 1a SGB V und die erforderliche Datenlage.
Ferner stellt der Beschluss klar, dass gerade dann, wenn sich die Begründung des Leistungsbegehrens auf die Einschätzung des behandelnden Arztes stützt, an diese besonders hohe Anforderungen zu stellen sind. Die ärztliche Einschätzung wird künftig (noch) kritischer geprüft werden.
Andererseits betont das BVerfG, dass die ärztliche Einschätzung in der Regel nur eine von mehreren Quellen für Hinweise auf einen individuellen Wirkungszusammenhang zugunsten des Off-Label-Use ist. Wenn nur eine ärztliche Stellungnahme vorliegt, wird es zukünftig verstärkt auch auf die anderen Quellen für solche Hinweise ankommen.
Insgesamt bleibt es dabei, dass Streitigkeiten um die Erstattungsfähigkeit des Off-Label-Use von Arzneimitteln komplexe medizinische und rechtliche Fragen aufwerfen. Ihre Beurteilung ist typischerweise auch sehr einzelfallabhängig. Dies gilt im Übrigen auch für zivilrechtliche Verfahren um die Arzt- oder Produkthaftung beim Off-Label-Use (vgl. Koyuncu in: Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, Produzentenhaftung, Kennzahl 3825, S. 19 ff.).



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