Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess und die Rolle der ArbeitszeiterfassungLeitsätze 1. Die Regelung in § 21 ArbZG stellt öffentlich-rechtliches Arbeits(zeit)schutzrecht dar ohne zwingenden Bezug zu § 611a Abs. 2 BGB. Ihr kann deshalb aber nicht jegliche Indizwirkung abgesprochen werden. Zwar kann „keine Arbeitszeit“ im arbeitsschutzrechtlichen Sinne durchaus „Arbeitszeit“ im vergütungsrechtlichen Sinne sein (vgl. BAG v. 20.04.2011 - 5 AZR 200/10 -), muss es aber nicht. 2. Auch wenn die Aufzeichnungen nach § 21a Abs. 7 ArbZG primär der Kontrolle der Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Belange durch die Aufsichtsbehörden dienen (§ 17 Abs. 1, Abs. 4 ArbZG), stehen sie doch zugleich den Beschäftigten und den Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen als geeignetes Hilfsmittel bei der Rekonstruktion und Darlegung der Arbeitszeit zur Verfügung (BAG v. 28.08.2019 - 5 AZR 425/18; BAG v. 21.12.2016 - 5 AZR 362/16). - A.
Problemstellung Rechtsstreitigkeiten um Überstundenvergütungen gehören zum Alltag der Arbeitsgerichte. In aller Regel stellen sich hierbei auch Fragen der Darlegungs- und Beweislast. Besonders intensiv diskutiert wurden in den letzten Jahren Fälle, in denen es an einer Arbeitszeiterfassung auch dann fehlte, wenn das Gesetz sie vorgeschrieben hatte. Im vorliegenden Fall geht es um die umgekehrte Konstellation: Kann die ordnungsgemäß vorgenommene Arbeitszeiterfassung nach § 21a ArbZG im Rechtsstreit von einer der beiden Seiten verwertet werden?
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die Parteien streiten um die Abwicklung des ehemals zwischen ihnen bestehenden Arbeitsverhältnisses; insbesondere geht es beim Streit um noch zu zahlendes Entgelt und Überstunden. Der Kläger war bei dem Beklagten seit Januar 2012 als LKW-Fahrer beschäftigt. Er hatte bereits in der ersten Instanz vorgetragen, dass sich die Parteien damals über ein Stundenentgelt von 12 Euro geeinigt hatten. Der Beklagte zahlte diesen Betrag nur für kurze Zeit und danach nur noch ein Entgelt von 10 Euro und behauptete, dass eine entsprechende neue Entgeltabrede zwischen den Parteien mündlich vereinbart worden sei. Ein Nachweis nach dem NachweisG war nicht vorgelegt worden. Das ArbG Köln sah das Vorbringen des Beklagten als nicht hinreichend substanziiert an und verurteilte ihn daher zur Nachzahlung der Entgeltdifferenz. Der Beklagte legte insoweit Berufung ein, konnte jedoch auch in der zweiten Instanz nicht substanziiert vortragen, wann und wie eine solche Entgeltabrede vereinbart worden sei, so dass seine Berufung vom LArbG Köln zurückgewiesen wurde. Im Mittelpunkt des Verfahrens stand daher der Streit um die Überstundenvergütung. Der Kläger hatte bereits in der ersten Instanz vorgetragen, dass er im Jahr 2019 erhebliche Mehrarbeitsstunden auf Weisung des Beklagten geleistet habe und legte dazu eine tabellarische Aufstellung vor, für welche Monate er welche Überstundenentgelte geltend gemacht habe. Ergänzend legte er handschriftliche Aufzeichnungen vor. Mit diesem Vorbringen war der Kläger am Arbeitsgericht nicht erfolgreich, denn er sei seiner Darlegungs- und Beweislast nicht hinreichend nachgekommen. Daraufhin hatte auch der Kläger Berufung gegen das arbeitsgerichtliche Urteil eingelegt. Der Kläger trug zur Begründung vor, in diesem fraglichen Zeitraum habe er mehrere Touren nach Paris durchgeführt; allein wegen dieser Entfernung habe diese Arbeit nicht ohne Überstunden erledigt werden können. Seine handschriftlichen Stundenaufstellungen, die sich bei der Akte befinden, seien dem Beklagten regelmäßig an seinem Arbeitsplatz und Wohnort übergeben worden. Der Beklagte bekräftigte sein Vorbringen in der ersten Instanz und verwies auf die Aufzeichnungen des Tachographen, aus denen sich keine Überstunden ergeben. Der Kläger erwiderte dazu, dass er zusätzlich zu seinen Transportaufgaben auch Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten ausgeführt habe, die er allerdings nicht konkretisiert hatte. Insoweit sei der Tachograph ohne Bedeutung. Der Kläger war auch in der Berufungsinstanz mit dem Verlangen nach Überstundenvergütung nicht erfolgreich. Die Kammer sah im Anschluss an die Rechtsprechung des BAG (Urt. v. 28.08.2019 - 5 AZR 425/18 und Urt. v. 21.12.2016 - 5 AZR 362/16) die Aufzeichnungen auf dem Tachographen als geeignetes Beweismittel an, das der Kläger nicht erschüttert habe. Allein durch das Einreichen handschriftlicher Aufzeichnungen, die teilweise auch schwer lesbar waren, könne der Kläger seiner Darlegungslast nicht genügen. Handschriftliche Aufzeichnungen könnten substanziellen Vortrag nur ergänzen, nicht jedoch ersetzen. Insoweit fehlte es auch an der typischen Darlegung, wann er die jeweiligen Reparaturarbeiten durchgeführt habe und ob der Beklagte diese gebilligt oder zumindest geduldet habe. Hinsichtlich der Touren nach Paris sei zu beachten, dass inzwischen unstreitig sei, dass er diese Touren mit seinem zweiten Kollegen zusammen durchgeführt habe, so dass die Berufung auf die Länge der Tour allein für die ihm obliegende Darlegungslast nicht ausreiche.
- C.
Kontext der Entscheidung In den letzten Jahren sind im Rahmen von Überstundenverfahren vor allem Fragen aufgeworfen worden, die sich auf mangelnde Arbeitszeiterfassung bezogen hatten. Dies war hier nicht der Fall, denn der Arbeitgeber hatte sich auf die Aufzeichnungen des Tachographen berufen. Ein Tachograph ist nicht notwendig das letzte Wort, so dass dem Kläger der Weg offenstand, darzulegen und unter Beweis zu stellen, dass er mehr gearbeitet oder dem Arbeitgeber für eine längere Zeit zur Verfügung gestanden hatte. Dies betraf hier die Behauptung des Klägers, dass er nicht nur LKW-Fahrten durchgeführt, sondern auch Reparaturen vorgenommen habe. Insoweit fehlte es an einer Arbeitszeiterfassung, doch sind hier die typischen Probleme zu konstatieren. Der Kläger hat darzulegen, dass und wann er diese Arbeiten verrichtet hat, dass er eine entsprechende Weisung erhalten hatte oder dass der Arbeitgeber diese geduldet hatte. Dazu hatte der Kläger Aufzeichnungen vorgelegt, die allerdings nicht aus sich heraus verständlich waren. Das LArbG Köln konnte sich daher auf die ständige Rechtsprechung berufen, dass Aufzeichnungen den schriftsätzlichen Vortrag nicht ersetzen, sondern nur ergänzen können. Dies war hier nicht der Fall. Der Sachverhalt zeigt, dass es auch indirekte Möglichkeiten der Darlegung gibt. Hier hatte sich der Kläger darauf berufen, dass die Strecke nach Paris nur in einer bestimmten Zeit zurückgelegt werden könnte. Dies ist ein plausibler Sachvortrag (vgl. Reinfelder, ArbuR 2018, 335, 339); da diese Tour aber mit zwei Fahrern durchgeführt worden war, reichte dieser Vortrag wiederum nicht aus. Wenn dagegen Beschäftigte substanziiert vortragen, wann sie Arbeit über die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus geleistet haben und dass zumindest eine konkludente Duldung dieser Arbeit erfolgt ist, wird die Darlegungslast der Beschäftigten für die arbeitgeberseitige Veranlassung der Überstunden erleichtert (BAG, Urt. v. 04.05.2022 - 5 AZR 474/21; Klocke/Dittmar, JR 2023, 153). Zusätzlich wird bei tabellarischer Vorlage der Überstunden in der neueren arbeitsgerichtlichen Praxis vom Arbeitgeber ein substanziiertes Bestreiten verlangt (Klocke/Dittmar, JR 2023, 153, 155); der Arbeitgeber, der die Arbeitszeiterfassung nicht organisiert hat, geht daher ein beachtliches Risiko ein, dass sein Bestreiten als nicht hinreichend substanziiert qualifiziert wird (anschaulich dazu LArbG Hannover, Urt. v. 09.12.2024 - 4 SLa 52/24, dazu Gottier, jurisPR-ArbR 11/2025 Anm. 4). Für weitere Verfahren ist hier von Bedeutung, dass die neuere Judikatur bekräftigt wird, wonach sich im Überstundenprozess beide Seiten auf digitale Aufzeichnungen berufen können, die nach § 21a ArbZG erstellt worden sind (Reill-Ruppe in: HK-ArbSchR, 3. Aufl. 2023, § 21a ArbZG Rn. 26). Zwar dienen diese Aufzeichnungen dem Gesundheitsschutz und nicht dem Entgeltschutz; wenn ihre Existenz jedoch unstreitig ist, dann handelt es sich um Tatsachen, auf die sich auch die Beschäftigten im Überstundenprozess berufen können (BAG, Urt. v. 28.08.2019 - 5 AZR 425/18; BAG, Urt. v. 21.12.2016 - 5 AZR 362/16; Fink, SAE 2025, 25, 28; Reinfelder, ArbuR 2018, 335, 340). Daraus ergibt sich für Betriebe mit einer kollektiven Interessenvertretung, dass diese hier ihr Initiativrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG wahrnehmen können, um eine Arbeitszeiterfassung durchzusetzen. In der Entscheidung des Ersten Senats aus dem Jahr 2022 war der Betriebsrat nicht am fehlenden Initiativrecht gescheitert, sondern an der zu engen Festlegung auf die digitale Aufzeichnung als einzige Variante. Das Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG ist aber dadurch gekennzeichnet, dass zwischen den Parteien und in der Einigungsstelle über verschiedene Varianten zu verhandeln und zu entscheiden ist. Wenn der Betriebsrat sein Initiativrecht auf diese Weise ausübt und die Mitbestimmung über das „Wie“ der Arbeitszeiterfassung reklamiert, dann ist es beachtlich und dann muss sich der Arbeitgeber darauf einlassen (so auch Fitting, BetrVG, 32. Aufl. 2024, § 87 Rn. 321a; LArbG München, Beschl. v. 22.05.2023 - 4 TaBV 24/23 - NZA-RR 2023, 477; ArbG Minden, Beschl. v. 10.01.2024 - 3 BV 35/23, dazu Löbig, jurisPR-ArbR 42/2024 Anm. 7; vgl. bereits Wedde, jurisPR-ArbR 3/2023 Anm. 1, zu BAG, Beschl. v. 13.09.2022 - 1 ABR 22/21 - NZA 2022, 1616). Die hier besprochene Entscheidung zeigt, dass kollektive Einigungen über eine Arbeitszeiterfassung dazu führen können, dass die Darlegungslast der Beteiligten im Überstundenprozess erleichtert wird.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Der Sachverhalt zeigt anschaulich, dass die anwaltliche Tätigkeit im Überstundenverfahren verlangt, Materialien der Beschäftigten in Schriftsätze zu übersetzen. Aufzeichnungen der Beschäftigten – auch wenn sie gut lesbar sind – können Schriftsätze nicht ersetzen, sondern nur ergänzen (LArbG Hamburg, Urt. v. 06.02.2024 - 6 Sa 14/23; Buchner, jurisPR-ArbR 6/2025 Anm. 1). Für Betriebsräte sind diese Entscheidungen ein weiterer Anstoß, in regelgerechter Weise das Initiativrecht über die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG wahrzunehmen.
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