Haftungsquote beim Verkehrsunfall mit einem KreuzungsräumerOrientierungssätze zur Anmerkung 1. Einem LKW-Fahrer, der nach einer berechtigten Einfahrt in den Kreuzungsbereich erst einmal nicht weiterfahren kann und sein Abbiegemanöver erst bei dem einsetzenden Querverkehr weiter fortführen kann, steht als Kreuzungsräumer ein Vorrangrecht nach § 11 StVO zu. 2. Wenn der einsetzende Querverkehr dieses Vorrangrecht nicht beachtet, trifft diesen Fahrzeugführer, obwohl er seinerseits bei Grün angefahren ist, mit 70% die überwiegende Haftungsquote. 3. Der bevorrechtigte Kreuzungsräumer hat jedoch nach dem Rücksichtnahmegebot darauf zu achten, ob ihm der Querverkehr seinerseits ein Vorrangrecht einräumt und ihn trifft eine Mithaftung i.H.v. 30% aus einer erhöhten Betriebsgefahr, wenn er entgegen dem Rücksichtnahmegebot weiter in die Kreuzung einfährt und dadurch eine Mitursache für den sodann erfolgten Verkehrsunfall setzt. - A.
Problemstellung Das LG Essen hat über die Haftungsquote bei einem Verkehrsunfall zu entscheiden, der sich im Kreuzungsbereich zwischen einem wartenden abbiegenden Verkehrsteilnehmer und einem seinerseits im Querverkehr bei Grün anfahrenden Verkehrsteilnehmer ereignet hat.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Der Kläger verfolgte Schadensersatz gegenüber der Beklagtenseite aus einem Verkehrsunfall, bei dem er mit dem abbiegenden LKW der Beklagtenseite seinerseits mit seinem PKW kollidiert ist. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme stellte sich dabei heraus, dass der LKW der Beklagtenseite bei Grün anzeigender Lichtzeichenanlage in den Kreuzungsbereich eingefahren ist, aber wegen des entgegenkommenden Verkehrs als Hindernis den Abbiegevorgang nicht weiter durchführen konnte. Erst als die Ampelphase zu Ende gegangen ist und für den Kläger als Querverkehr wieder eine grüne Lichtzeichenanlage aufgeleuchtet hat, ist auch der LKW der Beklagtenseite wieder angefahren. Dabei wurde eine Wegstrecke von bis zu 5 m zurückgelegt, bevor es dann zur Kollision mit dem einfahrenden Querverkehr in Form des klägerischen Fahrzeugs gekommen ist. Durch ein Sachverständigengutachten konnte dabei festgestellt werden, dass beide Fahrzeugführer bei der Beachtung des jeweiligen anderen Verkehrsteilnehmers die Kollision hätten vermeiden können: Der Kläger hätte insbesondere den LKW als Kreuzungsräumer von Anfang an gut erkennen und durch ein Unterlassen der Einfahrt in den Kreuzungsbereich die Kollision vermeiden können, während auch der Fahrzeugführer der Beklagtenseite sein Fahrzeug über eine viel zu große Distanz wieder in Bewegung gesetzt hat, ohne auf den einsetzenden Querverkehr zu achten. Vor diesem Hintergrund hat das Landgericht den überwiegenden Verursachungsanteil auf der Klägerseite gesehen und mit 70% bewertet. Denn dem auf der Beklagtenseite beteiligten Fahrzeugführer würde als sogenanntem Kreuzungsräumer ein Vorrangrecht nach § 11 StVO zustehen und ihm hätte gestattet werden müssen, seinen Abbiegevorgang fortzusetzen und die Kreuzung zu räumen. Allerdings dürfte der Beklagte zu 1) als Kreuzungsräumer auch nicht uneingeschränkt darauf vertrauen, dass dieses Vorrangrecht beachtet wird. Vielmehr hätte er gemäß dem Rücksichtnahmegebot auch auf den einsetzenden Querverkehr zu achten und hätte dann auch die Kollision vermeiden können. Unter Berücksichtigung der ohnehin schon durch die Ausmaße des LKW leicht erhöhten Betriebsgefahr und der Vermeidbarkeit des Verkehrsunfalls gelangte dann das Landgericht zu einer Mithaftungsquote der Beklagtenseite i.H.v. 30%, während der überwiegende Haftungsanteil wegen eines Verstoßes gegen § 11 StVO auf der Klägerseite mit 70% gesehen wurde.
- C.
Kontext der Entscheidung Das LG Essen hatte über eine häufig im alltäglichen Verkehr wiederkehrende Situation zu entscheiden, bei der Fahrzeuge im Kreuzungsbereich „beim Abbiegevorgang hängen bleiben“ und dann der Querverkehr einsetzt. Nach dessen Verständnis fährt der Querverkehr dann bei einer grünen Lichtzeichenanlage ein und sieht sich mit einem vermeintlichen Vorrangrecht auch berechtigt, die Kreuzung als erster zu durchfahren. In der Praxis führt dies häufig zu Kollisionen im Kreuzungsbereich, bei denen das Vorrangrecht eines Kreuzungsräumers nicht ausreichend beachtet wird. Dem berechtigten Kreuzungsräumer steht jedoch in entsprechender Anwendung des § 11 Abs. 1 und Abs. 2 StVO gegenüber dem anfahrenden Verkehr beim Räumen der Kreuzung ein Vorrangrecht zu, selbst wenn dieser bei „Grün“ in den Kreuzungsbereich eingefahren ist (BGH, Urt. v. 09.11.1976 - VI ZR 264/75 - NJW 1977, 1394; OLG Hamm, Urt. v. 02.05.2005 - 6 U 193/04 - MDR 2006, 203). Ein Kraftfahrer, der dagegen bei Grünlicht als Querverkehr in die Kreuzung einfahren will, hat zunächst dem in der Kreuzung „hängen gebliebenen“ Querverkehr als Kreuzungsräumer die Möglichkeit zu geben, die Kreuzung zu verlassen (BGH, Urt. v. 11.05.1971 - VI ZR 11/70 - NJW 1971, 1407) und sein Hineinfahren in eine Kreuzung ist nur erlaubt, wenn sich der Einfahrende vorher davon überzeugt hat, dass die Kreuzung von bevorrechtigtem Querverkehr frei ist (OLG Hamm, Urt. v. 25.04.2002 - 27 U 200/01 - Schaden-Praxis 2002, 407). Dabei ist auch zu beachten, dass nur der Kreuzungsräumer dieses Vorrangrecht genießen kann, der als „berechtigter Kreuzungsräumer“ zu qualifizieren ist. Dies ändert sich dann, wenn der Kreuzungsräumer in einem Moment eingefahren ist, bei dem er nicht mehr in die Kreuzung hätte einfahren dürfen bzw. für ihn absehbar gewesen ist, dass er diese nicht mehr rechtzeitig hätte räumen können. Handelt es sich dagegen um einen sog. unechten Kreuzungsräumer, der nicht in zulässiger Weise bei Grün in den Kreuzungsbereich eingefahren ist, haftet dieser im Zweifel allein (KG, Urt. v. 31.01.2019 - 22 U 211/16 - NZV 2019, 310; LG Aachen, Urt. v. 30.07.2014 - 8 O 42/13 - Schaden-Praxis 2014, 409), wenn nicht dem Unfallgegner im Querverkehr nachgewiesen werden kann, dass er seinerseits durch eine rechtzeitige Reaktion die Kollision noch hätte vermeiden können.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Wie aus diesen Entscheidungen ersichtlich ist, führt das Vorrangrecht des Kreuzungsräumers allerdings anders als bei einem Vorfahrtsrecht nicht dazu, dass ein Vertrauensgrundsatz herrscht. Während der bevorrechtigte Verkehrsteilnehmer mit einem Vorfahrtsrecht nach § 8 StVO darauf vertrauen darf, dass dieses Vorfahrtsrecht auch gewahrt wird, ist dies beim Kreuzungsräumer anders, und häufig wird den Kreuzungsräumer eine Mithaftung zwischen 30 und 50% treffen, wenn er entsprechend dem Rücksichtnahmegebot nicht auf den einsetzenden Querverkehr achtet. Auch der berechtigte Kreuzungsräumer ist jedenfalls gehalten, bei der Weiterfahrt auf den einsetzenden Verkehr zu achten (OLG Hamm, Urt. v. 26.08.2016 - 7 U 22/16; OLG München, Urt. v. 27.10.1994 - 24 U 178/94 - ZfSch 1995, 169; AG Duisburg, Urt. v. 17.07.2013 - 52 C 1378/13) und muss sich durch den Kreuzungsbereich hindurchtasten sowie die Verständigung mit dem herannahenden Verkehr suchen.
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