A. Problemstellung
Am 23.04.2021 trat das „4. Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22.04.2021“ (BGBl I, 802) in Kraft. Hierdurch wurden in das (Bundes-)Infektionsschutzgesetz (IfSG) Bestimmungen als Maßnahmenbündel eingefügt, die als „Bundesnotbremse“ Furore machten. Die v.a. durch die §§ 28b und c IfSG1 zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus - SARS-CoV-2 eingeführten, in ihrer Laufzeit bis zum 30.06.2021 befristeten Regeln enthielten bundesweit einheitliche Kontaktbeschränkungen, Ausgangsbeschränkungen, Beschränkungen von Freizeit- und Kultureinrichtungen, Ladengeschäften, Sport und Gaststätten; Verstöße hiergegen waren bußgeldbewehrt. Vorgesehen waren weiter u.a. eine grundsätzliche Verpflichtung zur Büroarbeit zuhause sowie eine Verordnungsermächtigung, um den Umgang mit Personen zu regeln, die negativ getestet, geimpft oder anderweitig immunisiert sind (umgesetzt in der SARS-CoV-2-Schutzmaßnahmen-Ausnahmen-Verordnung, SchAusnahmV vom 08.05.2021, aufgrund von § 28c IfSG2). Zudem kam es zu Beschränkung und Verbot des schulischen Präsenzunterrichts durch das Gebot von Wechselunterricht (schulischer Präsenzunterricht und Distanzunterricht zuhause) bzw. die vollständige Untersagung des Präsenzschulbetriebs, also Schulschließungen.
Die normierten Maßnahmen zur Eindämmung der – seit März 2020 andauernden – Pandemie zeichneten sich durchweg dadurch aus, dass sie an eine Sieben-Tage-Inzidenz von 100 (bzw. 165, bezogen auf Schulen) gekoppelt waren wie folgt: Überschritt in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinanderfolgenden Tagen die Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen (7-Tage-Inzidenz) den Schwellenwert von 100 (bzw. 165), so galten sie dort ab dem übernächsten Tag, vorbehaltlich strengerer landesrechtlicher Vorschriften, die hierdurch nicht tangiert wurden. Sank in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt die 7-Tage-Inzidenz unter den Wert von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner an fünf aufeinanderfolgenden Werktagen, so trat die „Notbremse“ dort ab dem übernächsten Tag außer Kraft.
Gegen diese durch einfaches Gesetz angeordneten Regelungen hatten diverse Beschwerdeführer den Hauptvorwurf erhoben, die von ihnen angegriffenen gesetzlichen Regelungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie seien verfassungswidrig, insbesondere unverhältnismäßig. Am 19.11.2021 entschied das BVerfG über die eingereichten Verfassungsbeschwerden in zwei getrennten Beschlüssen: Bundesnotbremse I (Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen)3 sowie Bundesnotbremse II (Schulschließungen)4, deren v.a. für das Medizinrecht bemerkenswerte Inhalte nachfolgend in gebotener Kürze referiert und eingeordnet werden.
Die Verfassungsbeschwerden waren im Ergebnis nicht erfolgreich. Die Beschwerdeführer5 hatten eine Verletzung in ihren Grundrechten, betreffend die Kontaktbeschränkungen aus Art. 6 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG, in Bezug auf die Ausgangsbeschränkungen aus Art. 2 Abs. 2 GG, Art. 104 sowie Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art 6 Abs. 1 GG gerügt, sowie bei den Schulschließungen aus Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sowie Beeinträchtigungen der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.
Überwiegend waren die erhobenen Verfassungsbeschwerden zwar zulässig, aber im Ergebnis unbegründet.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidungen
Durch die Beschlussgründe, die den gerügten Grundrechtseingriffen wohlgeordnet und lehrbuchmäßig auf ihre formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit hin nachgegangen sind (hierzu unter III., IV. und V.), zieht sich gleichsam wie ein roter Faden die große Herausforderung, welcher sich der Gesetzgeber im Falle der global neuartigen Pandemie mit dem SARS-CoV-2-Virus kontinuierlich ausgesetzt sieht: Der Umgang mit der tatsächlichen Ungewissheit, auch unter Einbeziehung der bereits vorhandenen, in stetiger Weiterentwicklung befindlichen wissenschaftlichen Erkenntnislage, welche Infektionsschutzmaßnahmen für die Bevölkerung den gebotenen Schutz für Leben und Gesundheit befördern, bei fehlender absoluten Beherrschbarkeit der Dynamik des Infektionsgeschehens. Die Hinzuziehung des Sachverstands von Experten war daher sowohl im Gesetzgebungsverfahren als auch bei dessen verfassungsrechtlicher Überprüfung auf legitimen Zweck, Eignung6, Erforderlichkeit sowie Verfassungsmäßigkeit im engeren Sinne der angeordneten Maßnahmen unabdingbar (hierzu unter I. und II.). Im Kern ging es immer wieder darum, dass der Gesetzgeber hinsichtlich seiner zum Schutz der höchstrangigen Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit und zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems konkret getroffenen Maßnahmen an den zum Zeitpunkt des Gesetzeserlasses – gleichsam „ex ante“ – verfügbaren Erkenntnissen zu messen ist, solange die auf dieser Basis angestellten Prognosen ebenso sachgerecht und vertretbar gewesen sind.
I. Überprüfung der prognostischen Entscheidung des Gesetzgebers
Das BVerfG konsultierte – da materiell-rechtlich entscheidungserhebliche Vorfrage – nach § 27a BVerfGG sachkundige Dritte zur Sinnhaftigkeit des angegriffenen Maßnahmenbündels des IfSG aus epidemiologisch-wissenschaftlicher Sicht7 bzw. aus Sicht der Medizin, Infektionsforschung, Schülerschaft, Pädagogik und Schulforschung:8 Konkret rückversichert hatte es sich – für Bundesnotbremse I - hinsichtlich der Übertragungsorte, -wege und -zeiten (Fragenkomplex I)9, ebenso wie zu Wirkungsweisen von Kontaktbeschränkungen (Fragenkomplex II)10, als auch zur Eignung des Indikators der 7-Tage-Inzidenz zur tatsächlichen Verbreitung des Virus (Fragenkomplex III)11 bzw. – für Bundesnotbremse II – zu den Folgen des Wegfalls von Präsenzunterricht12 und speziell dessen Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen13. Die verfassungsgerichtliche Prüfung der Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose im Hinblick auf die verhängten Maßnahmen war danach zu beurteilen, ob der Gesetzgeber aus seiner Sicht von deren Eignung zur Erreichung des gesetzten Ziels – des Schutzes des Lebens und der Gesundheit der Menschen vor den Gefahren einer Covid-19-Erkrankung und der Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems – ausgehen durfte14.
Nicht nachgefragt wurde in diesem Kontext das politisch hochaufgeladene Thema der überhaupt (bzw. nicht) hinreichenden Verfügbarkeit sowohl informationstechnischer Kommunikationsmöglichkeiten als auch -fähigkeiten bei Lehrern sowie bei Schülern innerhalb gezwungenermaßen stattfindenden Distanzunterrichts sowie die potentielle Beschaffbarkeit von hinreichend leistungsfähigen Raumluftreinigungsgeräten für Schulklassenräume. Sachverständige (IT-)Technikexperten waren nicht gezielt befragt worden15; offenbar wurden diesen Sparten – angesichts der kurzen Geltungsdauer der Regelungen – keine verfassungsrechtlich relevante Bedeutung für die Klärung der damals tatsächlichen Ausgangssituation bzw. die Beurteilung realistischer Chancen auf Verringerung einer Gefahrenlage zugemessen.
Das BVerfG griff v.a. mit dem Robert Koch-Institut (RKI), das international verfügbare Erkenntnisse zur weltweit grassierenden Pandemie sammelt und kontinuierlich wissenschaftlich auswertet, auf hochangesehenen nationalen Sachverstand zurück. Dies dürfte auch zum Tragen gekommen sein, wenn in den Entscheidungsgründen auf zumeist nicht näher mit Primärquellen unterlegte „Erfahrungen im Ausland“16 rekurriert wird. Keine weitere Sachkunde Dritter holte das BVerfG dazu ein, inwiefern sich die SARS-CoV-2-Pandemie von anderen bisher immer wieder sich ereignenden Virusgrippe-Epidemien und oder anderen nicht ungefährlichen Infektionsherden, wie z.B. Krankenhauskeimen, unterscheidet, gerade auch im Hinblick auf die unbestreitbar auch in diesen Konstellationen vorhandenen Gefährdungen der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. Ausreichend war insoweit, dass das Robert Koch-Institut als bundesunmittelbares Institut des Bundesgesundheitsministeriums die gesundheitlichen Risiken des Infektionsgeschehens der Corona-Pandemie als „insgesamt sehr hoch“17 eingeordnet hatte.
Die konkret beim BVerfG eingegangenen Stellungnahmen der Sachverständigen sind inzwischen nur vereinzelt bzw. nur in Teilen öffentlich über die einschlägigen Homepages der beteiligten Institute, Vereine und Gesellschaften zugänglich; die Beschlussgründe beziehen sich inhaltlich teilweise auf die eingeholten Expertisen18, sogar unter Ausweis und Bewertung von ggf. aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten. So hat das BVerfG insbesondere bei der Prüfung der Eignung der in § 28b IfSG verhängten Kontaktbeschränkungen eine „weitestgehende“ Übereinstimmung aller sachkundigen Dritten dahingehend festgestellt, dass sie einen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung der Virusübertragungen leisten könnten19.
II. Zur Befugnis sowie Pflicht des Gesetzgebers aus seiner Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, auch bei verbleibenden Unsicherheiten der wissenschaftlichen Erkenntnis
Kennzeichnend für die Ausgangssituation, welcher der Gesetzgeber durch ein geeignetes Maßnahmenbündel begegnen wollte, war die trotz Anhörung ausgesuchter Experten verbliebene Unsicherheit darüber, was passende oder gar im Idealfall passgenaue Maßnahmen sind. Der Gesetzgeber war darauf angewiesen, prognostische Entscheidungen zu treffen, da im März 2021 zur potentiellen Weiterentwicklung des Pandemiegeschehens keine gesicherten Erkenntnisse vorlagen.
Solche Unwägbarkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnislage begrenzen die Möglichkeiten des Gesetzgebers, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen. Nach dem BVerfG genügt es, wenn er sich in einer solchen Situation an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung der ihm verfügbaren Informationen und Erkenntnismöglichkeiten orientiert20. Dieser Spielraum21 gründe auf der dem demokratisch in besonderer Weise legitimierten Gesetzgeber grundgesetzlich zugewiesenen Verantwortung dafür, Konflikte zwischen hoch- und höchstrangigen Interessen trotz ungewisser Lage zu entscheiden. Daran gemessen habe der Gesetzgeber mit den in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontaktbeschränkungen jeweils für sich genommen sowie in ihrer Zusammenschau mit den Ausgangsbeschränkungen verfassungsrechtlich legitime Zwecke wie den Schutz von Leben und Gesundheit verfolgt. Seine Annahme, es habe eine erhebliche Gefahrenlage für diese Schutzgüter bestanden, die gesetzgeberisches Handeln erforderlich machte, beruhte auf hinreichend tragfähigen tatsachlichen Erkenntnissen. Auch bei den Schulschließungen habe der Gesetzgeber – wiederum im Einklang mit den Sachverständigen – davon ausgehen dürfen, dass sie die Kontakte reduzieren und damit die Verbreitung des Virus verhindern helfen können. Das BVerfG arbeitete heraus, dass dieser Effekt unabhängig davon zu sehen sei, dass Kinder wohl seltener und falls ja, dann weniger schwer erkrankten. Außerdem habe der Gesetzgeber die Schwelle mit der Anknüpfung an höhere maßgebliche Inzidenzwerte hier deutlich erhöht im Vergleich zu den Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen.
Nach dem BVerfG ist der sachlich fundierte Umgang mit einer neuartigen globalen Pandemie gerade davon geprägt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse, auf die grundrechtseinschränkende Maßnahmen gestützt werden, fortlaufend gewonnen, aufbereitet und auch korrigiert werden. Besonders hervorgehoben hat das BVerfG die gesetzliche Aufgabenzuweisung an das RKI nach § 4 Abs. 1 IfSG, institutionell genau dafür Sorge zu tragen22: Zu den Aufgaben des RKI gehöre es, die Erkenntnisse zu solchen Krankheiten durch Auswertung und Veröffentlichung der Daten zum Infektionsgeschehen in Deutschland und durch die Auswertung verfügbarer Studien aus aller Welt fortlaufend zu aktualisieren und für die Bundesregierung und die Öffentlichkeit aufzubereiten23.
Das BVerfG stellte klar, dass der Gesetzgeber auch bei ungewisser Lage handeln dürfe24. Die verfassungsrechtliche Prüfung sei insoweit auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Entscheidungen im Hinblick auf den derzeitigen Informationsstand beschränkt25, überzogene Anforderungen seien hier fehl am Platz. Wenn der getroffenen gesetzgeberischen Regelung eine prognostische Entscheidung zugrunde liege, könne die Eignung nicht nach der tatsächlichen späteren Entwicklung beurteilt werden, sondern nur – quasi ex ante – danach, ob der Gesetzgeber damals davon ausgehen durfte, die Maßnahme sei zur Erreichung des gesetzten Ziels geeignet, also ob seine Prognose sachgerecht und vertretbar war26. Selbst wenn sich später diese Prognose als unrichtig herausstellen würde, stelle dies jedenfalls die ursprüngliche Eignung des Gesetzes nicht infrage. Insbesondere folgen keine strengeren Maßnahmen daraus, dass im maßgeblichen Zeitraum vor Verabschiedung des Gesetzes keine in jeder Hinsicht gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgelegen hätten. Zudem sei die Geltungsdauer des angegriffenen Gesetzes nur kurz gewesen.
Anders sähe es laut BVerfG allenfalls bei längerer Geltung des Gesetzes und der dort ohne Vorliegen von gesicherten Erkenntnissen getroffenen Entscheidungen aus: Irgendwann trage eine andauernde Unsicherheit bei besonders schwer in Grundrechtspositionen eingreifenden Maßnahmen möglicherweise nicht mehr27. Der vierte Leitsatz zur Schulschließungs-Entscheidung bringt dies pointiert auf den Punkt: Bei einer lange andauernden Gefahrenlage wie der Corona-Pandemie muss der Gesetzgeber seinen Entscheidungen umso fundiertere Einschätzungen zugrunde legen, je länger die zur Bekämpfung der Gefahr ergriffenen Maßnahmen anhalten. Einschränkend gelte jedoch, dass der Staat große Gefahren für Leib und Leben am Ende nicht deshalb in Kauf nehmen dürfe, weil er – bis zum gebotenen Reaktionszeitpunkt – nicht genügend dazu beigetragen habe, freiheitsschonendere Alternativen zur Abwehr dieser Gefahren zu erforschen. Dem Gesundheits- und Lebensschutz kommt demnach eine herausragende Bedeutung auch bei der Schaffung von längerfristig geltenden Schutzmaßnahmen zu.
Nach dem BVerfG war es legitimes oberstes Ziel des Gesetzgebers, eine weitere Verbreitung des Virus zu verlangsamen sowie deren exponentielles Wachstum zu durchbrechen, um eine „Überlastung des Gesundheitssystems insgesamt“ zu vermeiden und die medizinische Versorgung bundesweit sicherzustellen. Dies geschehe in Erfüllung seiner in Art. 2 Abs. 2 GG wurzelnden Schutzpflicht, die Schutz vor sämtlichen mit einer SARS-CoV-2-Infektion einhergehenden Gesundheits- und Lebensgefahren, insbesondere auch vor schweren Krankheitsverlaufen und Langzeitfolgen (Long Covid) umfasse28. Nicht weiter vertieft bzw. definiert wird, ab wann bzw. unter welchen Umständen genau denn eine solche „Überlastung des Gesundheitssystems“ – im Sinne einer ohne weiteres feststellbaren inakzeptablen Grenzüberschreitung – zu diagnostizieren wäre. Obwohl die 7-Tages-Inzidenz zumindest für den Zeitraum der Gültigkeitsdauer des entscheidungsgegenständlichen Gesetzes als nach damaligem Erkenntnisstand „brauchbarer“ Indikator für eine Verbreitung des Virus anerkannt wird, stellt das BVerfG keine weitere Korrelation etwa dazu her, inwiefern die 7-Tages-Inzidenzen z.B. generell für eine Überforderung des Gesundheitswesens stehen könnten. Vielmehr bekräftigt das BVerfG positiv die – trotz bereits ergriffener Schutzmaßnahmen – bei fortbestehender Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems vorhandene Pflicht des Gesetzgebers zur Aufrechterhaltung von dessen Funktionsfähigkeit als Zwischenziel des erforderlichen Gesundheits- und Lebensschutzes: Wegen der hohen Inanspruchnahme der intensivmedizinischen Kapazitäten für Covid-19-Patienten drohe anderen intensivpflichtigen Patienten eine erhebliche Lebens- und Gesundheitsgefahr29. Die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems wird vom BVerfG wegen der Schutzpflicht für Leben und Gesundheit als überragend wichtiges Gemeingut eingestuft, was auch bedeute, dass für alle eine bestmögliche Krankenversorgung sicherzustellen sei30.
III. Zu den Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen
Die Beschwerdeführenden waren unzweifelhaft selbst und unmittelbar betroffen. Die in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG angeordneten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen bedurften keines weiteren Vollzugsaktes, der Anwendungsbereich der Beschränkungen umfasste alle sich im Bundesgebiet aufhaltenden Personen. Die Beschwerdeführer waren auch gegenwärtig betroffen: Das zum maßgeblichen Zeitpunkt dynamische Infektionsgeschehen ließ auch für sie zeitnah nach Inkrafttreten des Gesetzes die Geltung der Beschränkungen erwarten31.
Im Kontext mit den nächtlichen Ausgangsbeschränkungen war u.a. auch eine Verletzung des Rechts auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG geltend gemacht worden: Der Vortrag der Beschwerdeführer, sich nachts nicht mehr frei im Bundesgebiet bewegen zu dürfen oder dass ein Eingriff in die Freizügigkeit „auf der Hand“ liege, genügte den Begründungsanforderungen allerdings nicht. Auch der Hinweis eines Fotografen darauf, er könne bei Dämmerung und Dunkelheit nicht mehr fotografieren, was seine Kunstfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG verletze, wurde als nicht substantiiert zurückgewiesen. Ungenügend war auch der Vorwurf, der täglich verbleibende Zeitraum von 19 Stunden für sportliche Bestätigung im Freien reiche nicht aus, um diesen für die gesundheitsförderlichen Effekte des Sports zu nutzen, um eine Verletzung des Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hinreichend darzutun. Dasselbe gilt für die angebliche etwaige Ungleichbehandlung von Frühaufstehern gegenüber abends Sporttreibenden32. Das BVerfG vermisste insoweit Ausführungen dazu, weshalb die zulässige Ausübung kontaktlosen Sports für die gesundheitsförderlichen Effekte nicht ausreiche33.
Soweit Beschwerdeführer versucht hatten, sich gegen die Beschränkungen des Betriebs von Freizeiteinrichtungen, des Handels, von Kultureinrichtungen, der Gastronomie und von Übernachtungsangeboten zu wenden, war der bloße Vortrag, es komme zu einer „in einer freiheitlichen Gesellschaft inakzeptablen Beschränkung der sozial-kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten“ nicht ausreichend. Ebenso wenig vermochte ein bloßer Hinweis auf zwei Zeitungsartikel für eine grundrechtliche Betroffenheit zu genügen, die sich mit längeren Reisen im Fernverkehr und potentieller Kontaminierung von Masken mit Schadstoffen befasst hatten.
Bei der Überprüfung, ob Kontaktbeschränkungen in den Schutzbereich der jeweils als verletzt gerügten Grundrechte eingreifen, hatte das BVerfG Gelegenheit, diese Schutzbereiche inhaltlich näher zu konturieren. Selbstverständlich bedürften diese Eingriffe hierin einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Bekanntlich werden die Grundrechte nicht vorbehaltlos gewährt, sondern unterliegen verfassungsunmittelbaren Schranken.
Der Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG erfasse die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern, unabhängig davon, ob diese miteinander verheiratet sind. Dieser Schutz erstrecke sich zudem auf weitere spezifisch familiäre Bindungen, wie sie zwischen erwachsenen Familienmitgliedern und zwischen nahen Verwandten auch über mehrere Generationen hinweg bestehen können. Das Familiengrundrecht gewährleistet auch die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des familiären Zusammenlebens selbst zu entscheiden. Die in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontaktbeschränkungen machten vollstreckungsfähige Vorgaben für private Zusammenkünfte sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum. Die Kontaktbeschränkungen untersagten grundsätzlich, gemeinsam mit einer dritten Person zusammen zu sein. Zulässig blieb insoweit lediglich der Kontakt über das Mittel der Fernkommunikation.
Die Beschneidung zwischenmenschlicher Kontakte durch die Kontaktbeschränkungen greift auch in das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ein. Dieses Grundrecht schütze familienähnlich intensive Bindungen auch jenseits des Schutzes von Ehe und Familie. Insbesondere gewährleiste es auch die Freiheit, mit beliebigen anderen Menschen zusammenzutreffen. Zwar sei nicht jegliche Zusammenkunft mit beliebigen anderen Personen erfasst, aber es gebe Schutz davor, dass sämtliche Zusammenkünfte mit anderen Menschen unterbunden werden, also die einzelne Person zur Einsamkeit gezwungen werde. Anderen Menschen überhaupt begegnen zu können, sei für die Persönlichkeitsentfaltung von konstituierender Bedeutung. Die angegriffenen Kontaktbeschränkungen hatten das Potential, in bestimmten Konstellationen erheblich zur Vereinsamung beizutragen, hierdurch waren insbesondere alleinstehende und -lebende Menschen betroffen.
Die materiell-rechtliche Prüfung der grundrechtsrelevanten Maßnahmen ergab letztlich – ebenso wie die hier nicht näher besprochenen formellen Anforderungen – keinen Verfassungsverstoß: Der Gesetzgeber habe zu Recht übereinstimmenden Expertenaussagen zufolge die Eignung der Kontaktbeschränkungen angenommen, die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Trotz der wegen der Kontaktverbotsregelungen ganz erheblichen Grundrechtseinschränkungen sei die Verfassungsmäßigkeit gewahrt worden. Dies hätten vor allem die hinsichtlich verschiedener Belange gesetzlich gewährten Ausnahmen bewirkt, die für die enge Familie, Beerdigungen oder für Wege zur Arbeit und zum Arzt gegolten hätten.
Bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG enthaltenen Kontaktbeschränkungen deklinierte das BVerfG die typischen Prüfungsschritte durch: legitimer Zweck, Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der getroffenen Regelungen. Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung war also sowohl die Einschätzung des Gesetzgebers zum Vorliegen einer Gefahrenlage als auch die Zuverlässigkeit der Grundlagen, aus denen er diese abgeleitet hat oder ableiten durfte. Im Ergebnis sind der Lebens- und Gesundheitsschutz als auch die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke. Insbesondere ist die Beurteilung des Gesetzgebers, wonach bei Verabschiedung des Gesetzes eine Gefahrenlage für Leben und Gesundheit sowie die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems bestanden habe, vertretbar, und zwar wegen hinreichend tragfähig bewerteter Erkenntnisse. Zulässige zentrale Erkenntnisquelle dabei waren insbesondere die Ausführungen des RKI.
Hinsichtlich der Erforderlichkeit bestand wieder ein weiter gesetzgeberischer Einschätzungsspielraum. Hiernach standen keine anderen, in der Wirksamkeit den Kontaktbeschränkungen in ihrer konkreten Gestalt eindeutig gleichen, aber die betroffenen Grundrechte weniger stark einschränkenden Mittel zur Verfügung.
Die Situation der Pandemie sei durch eine gefährliche, aber schwer vorhersehbare Dynamik geprägt gewesen, die Sachlage also komplex. Zwar wiegen die flächendeckenden und alle Lebensbereiche betreffenden Einschränkungen schwer. Dem stehe aber der Schutz von Leben und von sehr schweren körperlichen Beeinträchtigungen gegenüber. Die Impfung habe im maßgeblichen Zeitraum keinen gleich wirksamen Schutz vor der Ausbreitung des Virus erwarten lassen34. Der Anteil zweifach geimpfter Personen habe bei Inkrafttreten der angegriffenen Regelungen erst 6,9% betragen. Nach übereinstimmender Einschätzung der sachkundigen Dritten35 konnte bei dem vorhandenen exponentiellen Anstieg der Infektionen eine ausreichend rasche Erhöhung der Impfquote nicht erwartet werden. Demnach waren allein Kontaktbeschränkungen sicher wirksam, um die Übertragung des Virus zu verhindern bzw. die Anzahl der Infektionen zu verringern.
Auch die Beschränkung lediglich von Zusammenkünften im öffentlichen Raum wäre nicht gleich wirksam gewesen. Übertragungen des Virus fänden bei allen Arten von Zusammenkünften, sei es im öffentlichen, sei es im privaten Raum, sei es in Innenräumen, sei es im Freien, statt36. Die sachkundigen Dritten hätten im Kern übereinstimmend angenommen, dass der Anteil von privaten Zusammenkünften signifikant sei, so dass auch von solchen Zusammenkünften im privaten Raum ein Anstieg der Infektionsraten zu erwarten war. Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass bei privaten Zusammenkünften Maßnahmen zur Reduzierung des Übertragungsrisikos wie etwa Abstands- oder Lüftungsregelungen sowie das Tragen von Masken weniger zuverlässig erfolgen als etwa bei beruflichen oder geschäftlichen Kontakten, habe jedenfalls in der gesicherten Erkenntnis über den signifikanten Anteil privater Zusammenkünfte am Anstieg der Infektionsraten eine ausreichend tragfähige Grundlage.
Schließlich hätte es auch nichts gebracht, die 7-Tage-Inzidenz auf kleinere räumliche Gebiete als diejenige von Landkreisen oder kreisfreien Städten zu beziehen, um die Anzahl der von den Kontaktbeschränkungen betroffenen Grundrechtsträger zu reduzieren. Es lagen insbesondere keine belastbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass einer globalen Pandemie mit sehr dynamischer, örtlich wechselnder Ausbreitung im gesamten Bundesgebiet, überhaupt kleinräumiger hätte begegnet werden können.
Schließlich war auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne festzustellen.
Der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung standen nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs. So ist es Aufgabe des Gesetzgebers, in einer Abwägung Reichweite und Gewicht des Eingriffs in die Grundrechte einerseits der Bedeutung der Regelung für die Erreichung legitimer Ziele andererseits gegenüberzustellen. Um dem Übermaßverbot zu genügen, müssen hierbei die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden. Umgekehrt werde gesetzgeberisches Handeln umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können.
Erneut betonte das BVerfG den auch bezüglich der Angemessenheit bestehenden Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers. Unzweifelhaft dienten die Grundrechtsbeschränkungen Gemeinwohlbelangen von überragender Bedeutung bzw. die gesetzgeberischen Maßnahmen durch das selbstvollziehende Gesetz und seine bundesweit einheitliche Geltung von besonderem Gewicht. Die mittels Kontaktbeschränkungen unterbundenen Kontakte während der Geltung der Maßnahme stufte das BVerfG auch als unwiederbringlich verloren ein. Allerdings habe der Gesetzgeber selbst für Milderungen der Eingriffe gesorgt. So durften die Angehörigen eines Haushalts z.B. weiterhin gemeinsam im öffentlichen und privaten Raum agieren.
Der Gesetzgeber durfte schließlich auch davon ausgehen, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt bei Verabschiedung des angegriffenen Gesetzes dringlicher Handlungsbedarf bestand37. Zwar anerkannte das BVerfG, dass sich während der ca. zweimonatigen Geltungsdauer eines Gesetzes die Tatsachen- und Erkenntnisgrundlage ggf. verändern könne38. Dabei komme der Erhöhung des Anteils vollständig geimpfter Personen wegen der davon erwarteten Wirkung auf das Infektionsgeschehen und die Krankheitsverläufe allerdings erst über längere Zeiträume hinweg entscheidende Bedeutung zu. Zudem hatte der Gesetzgeber durch die Covid-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung die bereits vollständig Geimpften und Genesenen weitgehend von den Kontaktbeschränkungen ausgenommen.
Die in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG angeordneten Ausgangsbeschränkungen sind nach dem BVerfG als Freiheitsbeschränkung i.S.d. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG anzusehen. Solche Freiheitsbeschränkungen seien insbesondere nicht auf unmittelbar wirkenden körperlichen Zwang beschränkt, sondern lägen auch vor bei staatlichen Maßnahmen, mit lediglich psychisch vermittelnd wirkendem Zwang, wenn deren Zwangswirkung in Ausmaß und Wirkungsweise einem unmittelbaren physischen Zwang vergleichbar sei. So habe es sich bei den vorliegend angegriffenen Ausgangsbeschränkungen verhalten, die materiell-rechtlich als Freiheitsbeschränkung in den Schutzbereich der grundgesetzlichen Regelung eingriffen. Die Betroffenen wurden gegen ihren Willen daran gehindert, einen Ort oder Raum, der ihnen an sich tatsächlich und rechtlich zugänglich ist, aufzusuchen, sich dort aufzuhalten oder diesen zu verlassen. Demgegenüber lag allerdings insoweit keine Freiheitsentziehung i.S.d. Art. 104 Abs. 2 GG vor. Nach der konkreten Ausgestaltung der Beschränkungen des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG fehlte es hierfür an der besonderen Eingriffsintensität. Insbesondere wurde kein bestimmter Ort des Aufenthalts vorgegeben. Jedenfalls im Rahmen der zulässigen Kontakte konnte der Ort frei gewählt werden39.
Umfassende Ausgangsbeschränkungen kommen freilich nur in einer äußersten Gefahrenlage in Betracht. Nicht zu beanstanden war nach dem BVerfG die verhängte, nächtliche Ausgangsbeschränkung zwischen 22 Uhr und 5 Uhr. Der Gesetzgeber habe sich angesichts seiner Erwägung, dass es „zur Abend- und Nachtzeit gelöstes und geselliges Verhalten gibt, verbunden mit dem verstärkten Gefühl, im privaten Rückzugsbereich unbeobachtet zu sein“, dafür entschieden, solche Zusammenkünfte von vornherein über vergleichsweise einfach zu kontrollierende Ausgangsbeschränkungen zu reduzieren. Bemerkenswert ist, dass ein Sachverständiger40 im Vorfeld des Gesetzes bei der Anhörung im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages dargelegt hatte, gerade nächtliche Ausgangsbeschränkungen, die auf private Besuche abzielen, führten zu einer Reduktion des Reproduktionswerts (R-Wert) um 0,1. Nachdem zur Beherrschung der Pandemie eine Absenkung um 0,4 erreicht werden sollte, lag der Einzelbeitrag der Ausgangsbeschränkung danach immerhin bereits bei 25%41.
Nach den Einschätzungen des Modus-Covid-Teams als sachkundiger Dritter des BVerfG hätten die Ausgangsbeschränkungen in Großbritannien und Portugal eine „sehr starke infektionsreduzierende Wirkung gezeigt“. Nach der Stellungnahme des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung konnte aus dem Umstand, dass in der Zeit zwischen 22 Uhr und 5 Uhr nur wenige Kontakte stattfinden, nicht auf eine lediglich geringe Wirkung nächtlicher Ausgangsbeschränkungen geschlossen werden. Denn diese zielten nicht vorrangig darauf ab, neue Begegnungen in der Nacht zu verhindern, sondern darauf, vorher beginnende private Begegnungen zeitlich zu begrenzen und dadurch zu erschweren. Weil davon auszugehen sei, dass private Treffen mehrerer Personen unterschiedlicher Haushalte wesentlich zum Infektionsgeschehen beitrügen, leiste insoweit auch die Erschwerung solcher Treffen durch Ausgangsbeschränkungen einen nicht unerheblichen Beitrag zur Eindämmung von Virusübertragungen.
Auch wenn den nächtlichen Ausgangsbeschränkungen für sich genommen ein erhebliches Eingriffsgewicht zukäme, habe der Gesetzgeber dem durch diverse Gestattung von Ausnahmen hinreichend Rechnung getragen. So sei ausdrücklich die Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts oder die unaufschiebbare Betreuung Minderjähriger gestattet gewesen, ebenso wie eine erforderliche Gefahrenabwehr etwa im medizinischen Notfall oder zur Versorgung von Tieren.
IV. Zu den Schulschließungen
Das Verbot von Präsenzunterricht nach § 28b Abs. 3 Sätze 2 und 3 IfSG verletzte nicht das Recht auf schulische Bildung der beschwerdeführenden Schülerinnen und Schüler. Es verletzte auch nicht das Recht einer Beschwerdeführerin auf freie Bestimmung des Bildungsganges ihres Sohnes42 oder das von einem Beschwerdeführer geltend gemachte Familiengrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG43.
Mit dem Verbot des Präsenzunterrichts lag klar ein Eingriff in das nach Art. 7 Abs. 1 GG geschützte Recht auf schulische Bildung vor. Dieser Eingriff war jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil die angegriffene Regelung sowohl formell als auch materiell verfassungsgemäß war.
Kinder und Jugendliche haben ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Nach dem Grundgesetz kommt die Aufgabe, dieses Recht der Kinder zu schützen und ihnen zu helfen, sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, zuvörderst den Eltern zu. Die Eltern sind gegenüber dem Staat zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder berechtigt und auch verpflichtet; hierüber wacht die staatliche Gemeinschaft, Art. 6 Abs. 2 GG.
Kinder und Jugendliche haben selbst, also unabhängig von der Elternverantwortung, ein aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitetes, gegen den Staat gerichtetes Recht auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft. Der Staat ist insoweit verpflichtet, Sorge zu tragen, dass sie sich in der Obhut ihrer Eltern tatsächlich hierzu entwickeln können.
Der Schutzbereich dieses Rechts umfasst die Schulbildung als Ganzes, die verschiedene Gewährleistungsdimensionen einschließt. Einen wesentlichen Beitrag hierzu leistet die Herausbildung sozialer Kompetenzen durch die in der Schule stattfindende soziale Interaktion der Schülerinnen und Schüler untereinander und mit dem Lehrpersonal. Allerdings gibt es keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen, weil sich der Staat trotz der von den Ländern normierten Schulpflicht bei Wahrnehmung seines Auftrags zur Gestaltung von Schulen auf einen weiten Spielraum und den Vorbehalt des Möglichen berufen kann.44 Dennoch gebe es unverzichtbare Mindeststandards von Bildungsangeboten an staatlichen Schulen. Das Recht auf schulische Bildung der Kinder und Jugendlichen hat also eine teilhaberechtliche Gewährleistungsdimension und steht insoweit im Einklang mit der völkerrechtlichen Gewährleistung eines Rechts auf Bildung und mit Unionsrecht.
Das Verbot von Präsenzunterricht griff zwar in dieses Recht der Schülerinnen und Schüler auf schulische Bildung ein. Allerdings war die Beschränkung des Präsenzunterrichts formell45 und materiell46 im Einklang mit der Verfassung.
Das Verbot von Präsenzunterricht diente verfassungsrechtlich legitimen Zwecken. Es war auch geeignet, um einen Beitrag zum Schutz von Leib und Leben der Bevölkerung und der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems zu leisten47.
Nachweislich hatte sich der Gesetzgeber bei der Überprüfung der Eignung des Verbots von Präsenzunterricht, um das bezweckte Ziel eines Schutzes der Bevölkerung vor infektionsbedingten Gefahren für Leib und Leben und der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems zu fördern, an Stellungnahmen sachkundiger Dritter orientiert.
Von diesen wurde überwiegend angenommen, dass sich bei allen bisher aufgetretenen Virusvarianten (Stand Frühjahr 2021) auch Kinder und Jugendliche mit dem Coronavirus anstecken und dann zu Überträgern dieses Virus werden können. Dabei seien Kinder nach damals überwiegender Auffassung umso weniger für das Virus empfänglich und umso weniger infektiös, je jünger sie sind48. Selbst wenn man davon ausgehe (wie die Charité dies tat), dass Kinder zwar weniger infektiös seien, seien sie jedoch durch ihre höhere Kontakthäufigkeit genauso stark oder stärker am Infektionsgeschehen beteiligt wie Erwachsene. Auch wenn Schüler möglicherweise keine Treiber des Infektionsgeschehens seien49, würden sich nach sachkundiger Einschätzung50 Schüler bei geöffneten Schulen im Rahmen der vielfältigen Kontakte mit anderen Schülern und den Lehrkräften im Klassenzimmer, im Schulgebäude oder dessen Außengelände, aber auch auf dem Weg zur Schule anstecken und das Virus dann auf Personen in ihrem familiären Umfeld oder auf die Lehrkräfte übertragen können.
Insbesondere durfte der Gesetzgeber nach dem BVerfG die Inzidenz als frühesten Indikator für ein zunehmendes Infektionsgeschehen zugrunde legen51. Soweit er sich für ein vollständiges Verbot von Präsenzunterricht für einen Wert von 165 entschieden habe, liege dieser deutlich über dem Wert, der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen nach dem IfSG auslöste.
Schließlich kam das BVerfG zu dem Ergebnis, dass das Verbot von Präsenzunterricht zu den beabsichtigten Zielen auch erforderlich52 war. Präsenzunterricht mit einer wöchentlich zweimaligen Testung und angemessenen Schutz- und Hygienekonzepten sei keine Alternative gewesen53. Da die Option einer stärkeren Regulierung der Arbeitswelt oder ein spezifischer Schutz vulnerabler Gruppen vor Infektionen Dritte belasten würde, könnten die beschwerdeführenden Schülerinnen und Schüler so etwas nicht verlangen54.
Schließlich war das Verbot von Präsenzunterricht verhältnismäßig im engeren Sinne. Insbesondere lag eine Angemessenheit vor, da der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs standen.
Unzweifelhaft war nach dem BVerfG eine sehr schwere Beeinträchtigung des Rechts auf schulische Bildung der Schüler aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG festzustellen. Dies betrifft Lern- und Kompetenzverluste; jede weitere Schulschließung verschlechtert nochmals die Möglichkeiten zur Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit; die Intensität der Beeinträchtigung wächst mit jedem Eingriff. Dies gelte auch für den Erwerb sozialer Kompetenzen. Dies könnten auch digitale Räume so nicht ersetzen55. Schließlich war nach sachkundiger Einschätzung davon auszugehen, dass der entfallene Präsenzunterricht zu Lernrückständen, negativen Effektiven auf die fachspezifische Kompetenzentwicklung und Defiziten in der Persönlichkeitsentwicklung (z.B. Sozialisation, Gruppenfähigkeit) geführt hat.
Zwar gebe es auch positive Effekte des Distanzunterrichts für die digitale Kompetenz, die Eigenständigkeit und die Selbstorganisation von Schülern, welche aber dort auch wieder ihre Grenzen finden, da die Entwicklung solcher Fertigkeiten eine systematische und regelmäßige Unterstützung voraussetze, die im Distanzunterricht nicht mit der notwendigen Intensität bereitgestellt werden könne56. Besonders gefährdet seien nach sachverständiger Einschätzung Nicht-Akademiker-Kinder und leistungsschwache Schüler und Schülerinnen57 sowie Grundschüler, die in besonderem Maße auf Präsenzunterricht angewiesen seien, um in einer frühen Bildungsphase andauernde Lernbereitschaft zu fördern. Befürchtet wurden zudem erhöhte Risiken für Übergewicht und Fehlernährungen, auch könnten Kindeswohlgefährdungen, auf welche die Lehrerschaft immer ein Auge habe, bei fehlendem Kontakt nicht erkannt werden.
Diesen schwerwiegenden Eingriffen in das Recht auf schulische Bildung standen bei Verabschiedung des Gesetzes Gemeinwohlbelange von überragender Bedeutung58 gegenüber.
Die Schulschließungsmaßnahmen seien Teil eines Gesamtkonzepts zum Schutz der Bevölkerung vor einer Gefährdung von Leib und Leben und ergänzen sich gegenseitig, gerade im Zusammenwirken mit den weiteren Maßnahmen der Bundesnotbremse. Aufgrund der bei Verabschiedung des Gesetzes im April 2021 vorhandenen hohen Dynamik des Infektionsgeschehens, einer exponentiellen Ausbreitung der Infektionen bestand nach nachvollziehbarer Einschätzung des Gesetzgebers die Gefahr der Entstehung von Virusvarianten, gegen welche die Impfstoffe eine geringere Wirksamkeit aufweisen (Escape Virusvarianten). Diese Gefahr sei umso größer gewesen, je mehr neu geimpfte Personen mit noch unvollständiger Immunität mit infizierten Personen zusammengekommen wären59. Zwar fehlte es nach sachkundiger Einschätzung an Erkenntnissen, die es erlaubt hätten, gezielt(er) auf bestimmte Wirkungen einzelner Maßnahmen abzustellen. Sichere Erkenntnisse lagen dagegen in Bezug auf Übertragungswege des Virus vor60.
Die Maßnahmen waren auch nicht unangemessen61. Der Bundesgesetzgeber durfte insbesondere davon ausgehen, dass die Länder wegfallenden Präsenzunterricht durch Distanzunterricht – wie seit März 2020 – teilweise kompensieren würden. Schließlich habe der Gesetzgeber Regelungen normiert, die die Individual- mit den Allgemeininteressen hinreichend zum Ausgleich gebracht haben. So waren die Maßnahmen der Bundesnotbremse in ihrer zeitlichen Geltung begrenzt. Eine inhaltlich entscheidende Begrenzung war mit der Anbindung an die Überschreitung eines Inzidenzwerts von 165 verbunden. Darüber hinausreichend hatte man auch über § 28b Abs. 3 Satz 6 IfSG eine Notbetreuung zur Entlastung der Familien, bei denen die Eltern ihrer Berufstätigkeit nicht in der Wohnung nachkommen konnten, abgemildert.
Zudem spielte für die Zumutbarkeit des Verbots von Präsenzunterricht eine maßgebliche Rolle, dass wenigstens die Durchführung von Distanzunterricht durch die Länder gewährleistet war. Nach den sachkundigen Dritten würden sich Bildungsdefizite und Lerneinbußen in erheblichem Umfang verringern lassen, wenn – eine gute digitale Ausstattung von Schülern und Lehrkräften und passende pädagogische Konzepte vorausgesetzt – Distanzunterricht stattfindet62. Wegen der objektiv-rechtlichen Pflicht der Länder zur Gewährleistung von Distanzunterricht nach Art. 7 Abs. 1 GG folgt aus dem grundrechtlich geschützten Recht auf schulische Bildung tatsächlich auch ein Anspruch auf Durchführung von Distanzunterricht, wenn am jeweiligen Schulstandort diese Unterrichtsform nicht oder nicht in nennenswertem Umfang vorgesehen war63.
Der Staat sei seinem diesbezüglichen Auftrag dadurch nachgegangen, dass er sogar für eine auch staatlich verantwortete Verbesserung der Erkenntnislage Vorsorge getroffen hatte: Nach § 5 Abs. 9 Satz 1 IfSG war das Bundesministerium für Gesundheit zu externer Evaluation beauftragt worden, welche Auswirkungen die Maßnahmen nach § 28b IfSG haben.
Gegen die Zumutbarkeit des Verbots von Präsenzunterricht könne auch nicht eingewendet werden, die Bekämpfung von Infektionen habe im staatlich verantworteten Bereich der Schule ggf. grundrechtsschonender hätte ausgestaltet werden können, wenn der Staat hierfür rechtzeitig Vorkehrungen getroffen hätte. Ein insoweit relevantes Versäumnis des Staates stellte das BVerfG nicht fest64: Die angehörten Sachverständigen65 hätten bestätigt, dass es im Frühjahr 2021 zum Einsatz von Lüftungsanlagen oder mobilen Luftreinigern noch Klärungsbedarf zu deren Wirksamkeit „im Schulbetrieb“ gegeben hätte. Zudem hob das BVerfG hervor, dass der Bundesgesetzgeber nicht untätig gewesen sei, sondern die für die Planung und Umsetzung der oben genannten Vorkehrungen notwendigen öffentlichen Mittel zur Verfügung gestellt habe66.
C. Kontext der Entscheidungen
Das BVerfG hat die seit der Bundesnotbremse verstärkt aufgekeimten Vorwürfe, die ergänzend zu den bisher nur landesrechtlich ermöglichten Infektionsschutzmaßnahmen gesetzlich verordneten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen stellten Verfassungsverstöße dar, vollumfänglich entkräftet. Zugleich verteidigte es das gesetzlich ermöglichte, an die ständig wechselnden Inzidenzen angebundene Schulschließungskonzept, dessen Grundrechtskonformität gleichermaßen öffentlich vehement in Frage gestellt worden war.
Die Beschlussgründe des BVerfG lassen keine Zweifel darüber aufkommen, dass die Schutzpflicht des Staates, Leben und Gesundheit seiner Bürger bestmöglich zu bewahren, in Zeiten einer Pandemie, die weltweit durch ein neuartiges Virus ausgelöst wurde, zum Handeln herausgefordert ist. Gerade wegen der bisher und wohl auch auf weitere absehbare Zeit fehlenden Gewissheiten bzw. noch nicht hinreichend unverrückbar feststehenden Erfahrungswerten zu Virusverbreitung, -übertragung und vor allem -eindämmung verläuft die verfassungsrechtliche Überprüfung nach den geläufigen Regeln praktischer Konkordanz: Dies bedeutet, dass die Annahme einer Gefahrenlage für diese wichtigen Individualgüter der Bürger und für die hierauf bezogenen Gemeingüter wie die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems an den zum Zeitpunkt der gesetzlich verordneten Maßnahmen verfügbaren Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zu messen ist. Gerade angesichts der – nach wie vor tatsächlich nur schwer vorhersehbaren – Dynamik der Verbreitung des Virus und seiner Mutanten, aber auch des laufend fortschreitenden Prozesses der wissenschaftlichen Erkenntnisse besteht eine Pflicht zur Prüfung und eventuellen Nachjustierung gesetzlich verordneter Grundrechtseingriffe, die von vornherein eine solche Evaluation vorsehen bzw. entsprechend befristet sein müssen.
Für die „Analyse“ der jeweils maßgeblichen epidemiologischen Lage hat das BVerfG die institutionell zentrale Rolle und Verantwortung des RKI als Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit hervorgehoben.
D. Auswirkungen für die Praxis
Für zukünftige Herausforderungen, etwa die derzeit (Stand: Mitte Dezember 2021) diskutierte gesetzliche Anordnung einer (teilweisen) Impfpflicht, sind die beiden Entscheidungen nur bedingt als wegweisend verwendbar. Die Entscheidung zur Corona-Bundesnotbremse gibt allerdings vor, dass die „Ausgangssituation“, also das Ob der für die herausragenden Rechtsgüter Leben und Gesundheit vorhandenen Gefahrenlage stets aktuell – d.h. vorliegend insbesondere unter Berücksichtigung der Quote bereits geimpfter und genesener Bürger, aber auch unter Einschluss eventueller neuer Virusvarianten – ermittelt werden muss.
Bei erneut anstehenden Schulschließungen besteht ein enger Zusammenhang zur vorhandenen Impfempfehlung für minderjährige Kinder bzw. Schüler sowie zum Stand einer voraussichtlich auch dort bereits zu verzeichnenden Impf- und Genesenenquote.
Klar auf der Hand liegt, dass die grundrechtsrelevanten Abwägungsergebnisse unterschiedlich ausfallen, je nach den bestehenden bzw. nicht absehbar ausräumbaren Unsicherheiten zur Gefährdungslage für bereits vollständig Geimpfte bzw. sogar Geboosterte angesichts neuer Virusvarianten. Gäbe es nach wie vor nur die Delta-Variante, kann und darf die zwischenzeitlich erreichte Impfquote – die im Vergleich zur Impfquote beim Inkrafttreten der Bundesnotbremse inzwischen immerhin zehnmal so hoch (wenngleich nicht hoch genug!) ist – nicht unberücksichtigt bleiben. Die Virusmutante Omikron, sollte sich eine nennenswerte Verbreitung abzeichnen, könnte in absehbarer Zeit wegen der hierzu nun wiederum erneut vorhandenen gänzlichen Unsicherheiten vermutlich – im Hinblick auf die Lebens- und Gesundheitsgefahren und die Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung – eine dem Frühjahr 2021 vergleichbare Gefahrenlage herbeiführen, die auch schwerwiegendste Grundrechtseingriffe wie eine gesetzliche (teilweise) Impfpflicht grundsätzlich auch verfassungsrechtlich rechtfertigen könnte.
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidungen
Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis für die Verfassungsbeschwerden war nicht etwa deswegen entfallen, weil nach landesrechtlichen Vorschriften teilweise sogar strengere als die in § 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG angeordneten Maßnahmen galten. Insbesondere kam es auch nicht zu einem nachträglichen Wegfall des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses nur deswegen, weil zwischenzeitlich eine unter den Schwellenwert sinkende Inzidenz in den örtlichen Bezugsräumen festzustellen war bzw. die Regelungen überhaupt zeitlich begrenzt bis 30.06.2021 festgesetzt worden waren67.
Angesichts der Gefahren, die mit dem Auftreten des Coronavirus SARS-CoV-2 verbunden sind, sah das BVerfG das Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführer als fortbestehend an. Sogar nach Erledigung eines mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens könne das Rechtsschutzbedürfnis fortbestehen, wenn anderenfalls entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint, eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt68.
Unproblematisch bejahte das BVerfG, dass vorliegend die geltenden Anforderungen an die Rechtswegerschöpfung und die Subsidiarität im weiteren Sinne nicht entgegenstanden: So lag vorliegend eine sog. Rechtssatzverfassungsbeschwerde69 vor. Grundsätzlich stehe gegen Gesetze fachgerichtlicher Rechtsschutz regelmäßig nicht offen. Zumutbar sei allerdings im Allgemeinen eine Feststellungs- oder Unterlassungsklage, die eine fachgerichtliche Klärung entscheidungserheblicher Tatsachen oder Rechtsfragen des einfachen Rechts ermöglicht70. Allerdings wirkten die angegriffenen Regelungen vorliegend ohne weiteren Vollzugsakt unmittelbar und flächendeckend als Teil eines Gesamtkonzepts zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Einer vorherigen Anrufung der Fachgerichte durch die Beschwerdeführenden im oben genannten Sinne bedurfte es daher nicht. Vielmehr lag mit § 28b IfSG ein selbstvollziehendes Gesetz mit großer Regelungsbreite vor, das weite Teile des sozialen Lebens nahezu aller sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhaltenden Menschen betraf. Auf das fachrechtliche Verständnis einzelner Merkmale des Gesetzes, welches in nicht unerheblichem Umfang durchaus unbestimmte Rechtsbegriffe enthielt, komme es allerdings für eine an der Gesetzestechnik der Regelungen als selbstvollziehend anknüpfende Kritik an der Verfassungsmäßigkeit nicht entscheidend an. Aufgeworfen seien vorliegend allein verfassungsrechtliche Fragen gewesen.