Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin ist ein Pharmaunternehmen und Inhaberin der deutschen Marke Androcur, die sie für Arzneimittel benutzt. Die Beklagte ist eine Parallelimporteurin, die in Deutschland Arzneimittel vertreibt, die sie aus anderen EU-Staaten erwirbt und nach Deutschland parallelimportiert. Anfang 2019 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie das Arzneimittel „Androcur 50 mg“ aus den Niederlanden in der Packungsgröße mit 50 Tabletten importieren werde, um es in Deutschland in den Packungsgrößen mit 50 und 100 Tabletten zu vertreiben.
Beim Parallelimport ist es aus regulatorischen Gründen regelmäßig geboten, physische Veränderungen an den Original-Umverpackungen vorzunehmen, um z.B. eine Packungsbeilage in Landessprache beizufügen oder Aufschriften in Landessprache zu ersetzen. Entsprechend teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie die auf der Umverpackung des Arzneimittels angebrachte und dem Fälschungsschutz dienende „Vorrichtung gegen Manipulation“ aufbrechen und die Verpackung ersetzen müsse. Sie plante also eine Neuverpackung (Reboxing).
Dieser geplanten Neuverpackung widersetzte sich die Klägerin und führte an, dass das Reboxing über das hinausgehe, was für das Inverkehrbringen des Arzneimittels in Deutschland erforderlich sei. So böte ein bloßes Relabeling gleichwertige sicherheitstechnische Garantien und reiche objektiv für den Marktzugang der parallelimportierten Arzneimittel aus. Für die Klägerin stelle das Relabeling einen geringeren Eingriff in ihre Markenrecht dar als das Reboxing.
Die Beklagte berief sich hingegen darauf, dass bei einem Relabeling der Originalumhüllung des Arzneimittels Beschädigungsspuren auf dieser Umhüllung verblieben. Diese könnten den Zugang zum deutschen Markt behindern. Großhändler und Apotheker seien nämlich aufgrund der neuen pharmarechtlichen Regelungen verpflichtet, die äußere Umhüllung daraufhin zu prüfen, ob sie manipuliert worden sei. Deshalb könne nur durch eine neue äußere Umhüllung verhindert werden, dass diese die Abgabe des parallelimportierten Arzneimittels ablehnen. Eine Neuverpackung werde auch von Angehörigen der Gesundheitsberufe und Patienten eher akzeptiert.
Die Beklagte argumentierte, dass unter den neuen arzneimittelrechtlichen Regelungen das Relabeling nicht mehr ein milderes, sondern nunmehr ein gänzlich ungeeignetes Mittel sei. Vielmehr sei nun das Reboxing nicht nur zulässig, sondern sogar als Regelfall anzusehen. Daher vertrat die Beklagte die Auffassung, dass sie sich auf den markenrechtlichen Grundsatz der Erschöpfung berufen könne.
Somit stellte sich die Frage, ob aus den arzneimittelrechtlichen Vorschriften folgt, dass eine Neuverpackung einer Neuetikettierung des Arzneimittels vorzuziehen sei und ob die Wahl zwischen den beiden nur Sache des Parallelimporteurs ist. Vor diesem Hintergrund setzte das LG Hamburg das Verfahren aus und legte dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
1. Ist Art. 47a RL 2001/83/EG so auszulegen, dass bei parallelimportierten Produkten von einer Gleichwertigkeit der Maßnahmen bei der Entfernung und Neuanbringung der Sicherheitsmerkmale nach Art. 54 Buchst. o der RL 2001/83/EC ausgegangen werden kann, die entweder im Wege eines Relabeling oder im Wege eines Reboxing durch den Parallelimporteur erfolgt, wenn beide Maßnahmen im Übrigen allen Anforderungen der Richtlinie 2011/62/EU und der Delegierten Verordnung (EU) 2016/161 entsprechen und gleichermaßen geeignet sind, die Echtheit und die Identität von Arzneimitteln nachzuprüfen sowie den Nachweis der Manipulation von Arzneimitteln zu ermöglichen?
2. Falls die erste Frage zu bejahen ist: Kann sich der Inhaber einer Marke dem Umpacken der Ware in eine neue äußere Verpackung durch einen Parallelimporteur unter Berücksichtigung der neuen Regelungen zum Fälschungsschutz widersetzen, wenn es dem Parallelimporteur ebenfalls möglich ist, eine im Einfuhrmitgliedstaat vertriebsfähige Packung zu schaffen, indem er lediglich neue Klebeetiketten auf der Originalsekundärverpackung anbringt?
3. Falls die zweite Frage zu bejahen ist: Ist es unschädlich, wenn im Falle des Relabelings für den angesprochenen Verkehr ersichtlich ist, dass ein Sicherheitsmerkmal des Originalanbieters beschädigt wurde, solange sichergestellt ist, dass der Parallelimporteur hierfür verantwortlich ist und dieser auf der Originalsekundärverpackung ein neues Sicherheitsmerkmal angebracht hat? Macht es hierbei einen Unterschied, ob die Öffnungsspuren erst sichtbar werden, wenn die Arzneimittelsekundärverpackung geöffnet wird?
4. Bei Bejahung der zweiten und/oder der dritten Frage: Ist die objektive Erforderlichkeit einer Umverpackung durch Reboxing i.S.d. fünf Erschöpfungsvoraussetzungen für das Umpacken (vgl. EuGH, Urt. v. 11.07.1996 - C-427/93, C-429/93 und C-436/93, EU:C:1996:282, Rn. 79 „Bristol-Myers Squibb u.a.“ EuGH, Urt. v. 26.04.2007 - C-348/04, EU:C:2007:249, Rn. 21 „Boehringer Ingelheim u.a.“) gleichwohl zu bejahen, wenn die nationalen Behörden in ihren aktuellen Leitfäden zur Umsetzung der Vorgaben der Fälschungsschutzrichtlinie oder anderen entsprechenden behördlichen Verlautbarungen bekunden, dass im Normalfall ein Wiederversiegeln von geöffneten Verpackungen nicht oder zumindest nur ausnahmsweise und unter engen Voraussetzungen akzeptiert werde?
Im Ergebnis hat der EuGH die erste und zweite Vorlagefrage bejaht. Die dritte Vorlagefrage hat er, wenn auch mit differenzierenden Hinweisen, im Ergebnis ebenfalls bejaht. Die vierte Frage hat der EuGH als unzulässig zurückgewiesen.
Zu den Antworten im Einzelnen:
(1) Auf die erste Frage antwortet der EuGH, dass Art. 47a der RL 2001/83/EG so auszulegen sei, dass sofern alle in der Norm genannten Vorgaben erfüllt sind, das Reboxing und das Relabeling bzgl. der in Art. 54 Buchst. o RL 2001/83/EG genannten Sicherheitsmerkmale gleichwertige Formen des Umpackens darstellen.
Nach Art. 47a (1) RL 2001/83/EG und Erwägungsgrund (12) der Änderungsrichtlinie 2011/62/EU habe der Gesetzgeber die Möglichkeit der „Ersetzung“ der Sicherheitsmerkmale ausdrücklich vorgesehen. Er habe die nochmalige Verwendung der Originalumhüllung (also nach Relabeling) nicht verhindern wollen. Es gebe keine arzneimittelrechtliche Vorschrift, die auf eine bevorzugte Variante des Umpackens schließen lasse. Das Arzneimittelrecht spricht keinen Vorrang des Reboxings vor dem Relabeling aus.
(2) Auch die zweite Frage hat der EuGH bejaht. Zum Hintergrund macht der EuGH zunächst Ausführungen zu den Rechten von Markeninhabern, Dritten die Verwendung ihrer Marken zu verbieten.
Nach Art. 15 (1) der Markenrechtsrichtlinie gewährt die Marke ihrem Inhaber jedoch nicht das Recht, einem Dritten zu verbieten, die Marke für Waren zu benutzen, die unter dieser Marke von ihm oder mit seiner Zustimmung in der EU in den Verkehr gebracht wurden. Diese Norm soll die Belange des Markenschutzes mit denen des freien Warenverkehrs in der EU in Einklang bringen.
Insbesondere geht aus Art. 15 (2) der Markenrechtsrichtlinie hervor, dass der Widerspruch des Markeninhabers gegen das Umpacken eine Abweichung vom Grundsatz des freien Warenverkehrs darstellt und dann unzulässig ist, wenn die Ausübung dieses Rechts eine Beschränkung des Handels zwischen den EU-Mitgliedstaaten i.S.v. Art. 36 Satz 2 AEUV darstellt. Das Markenrecht diene nicht dazu, dem Markeninhaber die Möglichkeit zu geben, die nationalen Märkte voneinander abzuschotten.
Damit wird Parallelimporteuren mit dem Umpacken eine Befugnis eingeräumt, die an sich den Markeninhabern vorbehalten ist. Dafür muss der Parallelimporteur aber bestimmte Vorgaben beachten (vgl. EuGH, Urt. v. 11.07.1996 - C‑427/93, zu den fünf Erschöpfungsvoraussetzungen für das Umpacken; auch „BMS-Kriterien“ genannt). Dazu gehört, dass das Umpacken erforderlich sein muss, um das Arzneimittel im Einfuhrstaat vertreiben zu können. Daran fehlt es, wenn das Umpacken nur erfolgt, um dem Parallelimporteur einen wirtschaftlichen Vorteil zu ermöglichen (z.B. eine ansprechendere oder werbewirksamere Packung zur Absatzförderung).
Im Übrigen sieht der EuGH – wie zuvor schon der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen (vgl. dort Rn. 118) – in dem Reboxing auch einen gravierenderen Eingriff in die Rechte des Markeninhabers als beim Relabeling.
Nach alledem hat der EuGH die zweite Vorlagefrage bejaht. Art. 10 (2) und Art. 15 der Markenrechtsrichtlinie sind so auszulegen, dass der Markeninhaber sich dem Vertrieb eines Arzneimittels durch Parallelimporteure widersetzen darf, das in eine neue äußere Umhüllung umgepackt wird, auf der seine Marke angebracht wird, wenn ein Relabeling des Arzneimittels gemäß den Anforderungen aus Art. 47a der RL 2001/83/EG möglich ist und das so neu etikettierte Arzneimittel tatsächlich Zugang zum Markt des Einfuhrstaats erlangen könnte.
(3) Zur dritten Vorlagefrage führte der EuGH aus, dass es im Grundsatz unschädlich sei, wenn beim Relabeling für den Verkehr sichtbar sei, dass ein Sicherheitsmerkmal der Originalumhüllung beschädigt wurde, solange erkennbar ist, dass der Parallelimporteur dafür verantwortlich ist und dieser auf der Packung ein neues Sicherheitsmerkmal angebracht hat. Etwas anderes gelte nur, wenn diese Spuren auf der Packung auf dem Markt des Einfuhrstaats einen derart starken Widerstand gegen die so neu etikettierten Arzneimittel hervorrufen, dass darin ein Hindernis für den tatsächlichen Zugang zu diesem Markt gesehen werden müsste. Dies sei eine tatsächliche Frage und für jeden Einzelfall festzustellen.
(4) Die vierte Vorlagefrage wies der EuGH als unzulässig zurück. Der Gegenstand der Frage sei für das Ausgangsverfahren nur hypothetischer Natur. Soweit sich das LG Hamburg nämlich auf Leitfäden von Behörden in EU-Mitgliedstaaten beziehe, gelte dies für Deutschland nicht, da die deutschen Behörden keine Leitfäden erlassen hätten, nach denen die Wiederverwendung der Originalumhüllung parallelimportierter Arzneimittel nicht oder nur ausnahmsweise akzeptiert werde.
Kontext der Entscheidung
Der Parallelimport hat die Gerichte in der EU schon oft beschäftigt. Das gilt für die nationalen Gerichte wie für den EuGH. In der Tat hat die Rechtsprechung des EuGH die heute geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen und Kriterien für den Parallelimport in der EU maßgeblich geprägt.
Neben dem besprochenen Urteil ergingen am 17.11.2022 drei weitere Entscheidungen des EuGH zum Parallelimport. Eine davon beruhte ebenfalls auf einer Vorlage des LG Hamburg (EuGH, Urt. v. 17.11.2022 - C-147/20; vgl. auch das dritte Urteil in der Sache C‑224/20 und die vierte Entscheidung zu den verbundenen Sachen C‑253/20 und C‑254/20).
In diesem Kontext sind z.T. unterschiedliche Begriffe anzutreffen. Der Begriff „Parallelhandel“ kann als Oberbegriff für Parallelimport und Parallelvertrieb angesehen werden. Gemeint ist der Handel mit Arzneimitteln, die aus einem (in der Regel niedrigpreisigen) EU-Mitgliedstaat in einen anderen (in der Regel hochpreisigen) EU-Mitgliedstaat verbracht werden und dort vom Importeuer parallel zum Originalhersteller vertrieben werden.
- Beim „Parallelimport“ geht es um Arzneimittel, die nur eine nationale Zulassung haben und für die der Parallelimporteur in Deutschland eine eigene lokale Zulassung benötigt.
- Demgegenüber erfolgt der „Parallelvertrieb“ mit Arzneimitteln, die eine EU-weite zentrale Zulassung haben und für deren Vertrieb in Deutschland keine weitere lokale Zulassung erforderlich ist.
Der Parallelhandel von Arzneimitteln ist eine verbreitete Praxis in der EU. Er ist grundsätzlich auch gesundheitspolitisch gewünscht, da mit ihm die Erwartung von Kosteneinsparungen bei den Ausgaben für Arzneimittel verbunden werden. Durch verschiedene regulatorische Instrumente im Arzneimittel- und Krankenversicherungsrecht wird der Parallelhandel auch durchaus gefördert. Der Anteil von Parallelimporten im deutschen Arzneimittelmarkt wird auf ca. 10% geschätzt.
Wie das besprochene Urteil zeigt, wirft die Praxis des Parallelimports weiterhin komplexe Rechtsfragen an der Schnittstelle verschiedener Rechtsgebiete auf (insbesondere im Marken- und Arzneimittelrecht). Ausgangspunkt für dieses Verfahren war die Einführung der neuen pharmarechtlichen Vorgaben zum Fälschungsschutz bei Arzneimitteln durch die Richtlinie 2011/62/EU und die auf dieser Richtlinie basierende Delegierte Verordnung (EU) 2016/161, die seit dem 09.02.2019 gilt.
Auswirkungen für die Praxis
Zusammenfassend ist dieses EuGH-Urteil weitgehend im Sinne der Originalhersteller und Markeninhaber ausgefallen.
Der EuGH hat die neuen regulatorischen Vorschriften gegen Arzneimittelfälschungen für den Kontext der Parallelimporte eingeordnet. Das Gericht hat insbesondere klargestellt, dass aus pharmarechtlicher Sicht das Reboxing und das Relabeling jeweils äquivalente Maßnahmen zum Fälschungsschutz darstellen und dass es beim Parallelimport rechtlich keinen Vorrang für das Reboxing gegenüber dem Relabeling gibt.
Zugleich sieht der EuGH auf der markenrechtlichen Ebene in dem Reboxing der Arzneimittel einen gravierenderen Eingriff in die Rechte des Markeninhabers als in dem Relabeling der Originalumhüllungen der Arzneimittel.
Für die Praxis ist auch bedeutsam, dass es nach diesem Urteil nicht allein Sache des Parallelimporteurs ist, zwischen Reboxing und Relabeling zu wählen. Vielmehr darf sich der Markeninhaber dem Reboxing widersetzen, wenn es dem Parallelimporteur auch möglich ist, eine vertriebsfähige Packung durch Relabeling zu schaffen und das so neu etikettierte Arzneimittel auch tatsächlich Zugang zum Markt des Einfuhrstaats erlangen kann.
Somit kommt es darauf an, ob ein neu etikettiertes Arzneimittel auch tatsächlich Zugang zum Markt des Einfuhrstaats erlangen könnte. Dazu sagt der EuGH, dass es prinzipiell unschädlich sei, wenn beim Relabeling Spuren auf der Originalumhüllung sichtbar bleiben, solange erkennbar ist, dass der Parallelimporteur dafür verantwortlich ist und er auf der Packung ein neues Sicherheitsmerkmal angebracht hat. Etwas anderes gilt nur, wenn diese Spuren im Markt einen so starken Widerstand gegen die neu etikettierten Arzneimittel hervorrufen, dass darin ein Hindernis für den tatsächlichen Zugang zu diesem Markt gesehen werden müsste. Dies ist eine tatsächliche Frage und wird anhand der Gegebenheiten im Einzelfall zu prüfen sein.
Im Falle des Reboxings müssen Parallelimporteure künftig darlegen, dass dieses erforderlich ist, weil ein Relabeling großem Widerstand begegnen und ein Hindernis für den Marktzugang des Arzneimittels bilden würde. Sie können sich nicht auf eine allgemeine Vermutung verlassen, dass bei Apotheken, Patienten etc. ein entsprechend großer Widerstand gegen neu etikettierte Arzneimittel besteht. Vielmehr muss dieser Widerstand anhand konkreter Tatsachen und den Gegebenheiten im Einfuhrstaat dargelegt werden. Daher werden künftig Parallelimporteure (und Originalhersteller/Markeninhaber) den Markt hinsichtlich der Auswirkungen eines Relabelings bzw. Reboxings näher beobachten müssen, um dazu bei Bedarf substantiiert vortragen zu können.