juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BGH 10. Zivilsenat, Urteil vom 11.02.2025 - X ZR 137/22
Autor:Jochem Gröning, RiBGH a.D.
Erscheinungsdatum:25.06.2025
Quelle:juris Logo
Norm:§ 4 PatG
Fundstelle:jurisPR-WettbR 6/2025 Anm. 1
Herausgeber:Jörn Feddersen, RiBGH
Zitiervorschlag:Gröning, jurisPR-WettbR 6/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Naheliegen oder rückschauende Betrachtung bei Adaptionen („Feuchtigkeits- und Ascheanalyse“)



Leitsatz

Aus dem Hinweis, eine im Stand der Technik offenbarte Vorrichtung könne mit einer bestimmten Art von Geräten kombiniert werden, ergibt sich nicht ohne weiteres die Anregung, die Vorrichtung mit jedem Gerät dieser Art zu kombinieren.



A.
Problemstellung
Für ein durchaus zentrales Lösungselement der patentierten Erfindung (§ 4 PatG, Art. 56 EPÜ) konnte der Nichtigkeitskläger auf einen Stand der Technik verweisen (N2), der nicht nur dieses feature zeigte; in N2 wurde zudem zusätzlich expressis verbis darauf verwiesen, dass der präsentierte Gegenstand mit anderen (Mutter-)Geräten zu einer Geräteeinheit verbunden werden konnte. Beispiele für die Anpassung an mögliche Muttergeräte waren in N2 allerdings nicht angeführt. Die vorliegende Entscheidung befasst sich mit der Frage des Naheliegens in dieser Konstellation.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Das Streitpatent
Die vom Streitpatent geschützte Apparatur dient der thermogravitätischen Feuchtigkeits- oder Ascheanalyse. Dabei wird das Gewicht der Proben vor und nach einem Erhitzvorgang gemessen; bei der Ascheanalyse werden Temperaturen von bis zu 1.100° Celsius erreicht.
Das Streitpatent bemängelt an den vorbekannten Lösungen namentlich, dass zum Beschicken der Öfen deren Türen geöffnet werden müssten, wodurch viel Energie verloren gehe. Vor diesem Hintergrund sieht die streitpatentgemäße Lösung (Merkmalsgliederung Entscheidungsgründe Rn. 11) im Wesentlichen vor:
Die Proben werden vor dem Beschicken des Ofens in Tiegelchen gefüllt und zusammen mit diesen gewogen, der Ofen hat ein Haltemittel (Magazin) zur Aufnahme mehrerer Tiegel; dieses Haltemittel ist sequenziell dreh- und höhenverstellbar.
Die Probentiegel werden dann einzeln mithilfe eines roboterarmähnlichen Mittels in das sich positionsweise weiterdrehende Haltemittel eingesetzt, wie aus der nachstehend eingefügten Figur 3 ersichtlich:
Abbildung
Die zusätzliche Höhenverstellbarkeit des Haltemittels ermöglicht zusammen mit dem sequenziellen Drehmechanismus, dass die einzelnen Tiegel im Ofeninneren zum Wiegen auf einer Waageplattform abgestellt und gewogen und danach wieder in das Haltemittel aufgenommen werden können.
Die Beschickung des Haltemittels mit Tiegeln und deren Entnahme erfolgt durch ein Loch in der Oberseite des Ofens, wie Figur 2 zeigt:
Abbildung
Die Vorzüge dieser Beschickungsmodalität werden im Anspruch mit den Worten umschrieben, der Ofen bleibe bei diesem Einsetzen und Entnehmen der Tiegel „im Wesentlichen“ geschlossen. Das verweist in schönster Patentrechtslyrik darauf, dass dafür keine Ofentür (weit) geöffnet werden müsse. Nicht erwähnt wird, dass die Öffnung wohl unter Inkaufnahme eines gewissen Wärmeverlustes während des gesamten Heizvorgangs offenbleibt; nach der Würdigung des BGH schließt das Streitpatent lediglich nicht aus, dass das Loch außerhalb des Beschickungsvorgangs verschlossen wird (Rn. 27).
Das Streitpatent hatte ein erstes Nichtigkeitsverfahren mit einer nur marginalen Beschränkung des Anspruchs überstanden.
II. Entgegenhaltung N1 (DE 33 02 017)
N1 zeigt Merkmale, derer sich das Streitpatent ebenfalls bedient. Namentlich gehört dazu ein sequenziell drehbares und höhenverstellbares Haltemittel für Tiegel. Beide Mechanismen dienen aber ausdrücklich nur dazu, die Tiegel über eine Wiegeplattform zu positionieren und in der Höhe zu verfahren, um sie auf der Plattform zum Wiegen abzusetzen und danach wieder anzuheben.
Der Beschickungsvorgang ist bei N1 demgegenüber ganz anders organisiert: Die Ofenkammer wird nach oben durch einen Deckel abgeschlossen. Dieser wird über ein Scharniergelenk im Ganzen angewinkelt angehoben, ähnlich wie bei Warmhaltebehältern für Essensbüffets in der Hotellerie.
Alle benötigten Tiegel werden insgesamt leer eingesetzt und bei geschlossenem Deckel einzeln gewogen. Beim sogenannten Arbeitszyklus wird der Deckel für jedes Einfüllen jeder einzelnen Probe geöffnet und danach sofort wieder geschlossen. Jede einzelne Probe soll sofort danach gewogen werden, um das Probenanfangsgewicht möglichst genau zu bestimmen. Die Probenendgewichte werden nach dem Erhitzungsvorgang bestimmt. Der in N1 geschriebene Ofen konnte nach allem die streitpatentgemäße Lösung nicht nahelegen.
III. N2 (US-Patentschrift 6 203 760)
Die Nichtigkeitsklägerin hatte dieses Dokument in das zweite Nichtigkeitsverfahren eingeführt. Es zeigt einen Greif- und Einführmechanismus auch für die thermogravimetrische Analyse. Das Gerät (autosampler) war erklärtermaßen zur Kombination mit Deckeln oder Abdeckungen vorhandener Geräte („parent machines“) vorgesehen. Diesen sollten mit dem autosampler die Probentiegel zugeführt werden. Für diese Beschickung war – und darin liegt der Bezug zum Streitpatent – in der Deckplatte ein Loch (26) zum Einführen der Tiegel ins Ofeninnere gezeigt. Figur 1 zeigt ein Ausführungsbeispiel; Bezugszeichen (12) dort bezeichnet das Muttergerät; der autosampler (10) weist ein Magazin mit Aufnahmen für Probentiegel (16, 30, 30A) und einen Greifer (32) auf.
Abbildung
Die Öffnung für das Einführen der Tiegel hat zwar ein Bezugszeichen (26), sie wird aber nicht gezeigt. Das hängt ersichtlich damit zusammen, dass sie Element des Muttergeräts (Ofens) ist und somit außerhalb des eigentlichen Erfindungsgegenstands liegt. N2 beschreibt nur verschiedentlich, dass der Greifer (32) auch die Funktion hat, den Deckel des Ofenlochs (lid 52) zu öffnen und zu schließen (z.B. N2 Sp. 4 Z. 56-60). Erst recht wird nicht gezeigt, wie ein Pendant im Ofeninneren zur Übernahme der hereingereichten Tiegel aussehen könnte.
IV. Naheliegen?
Die Frage des Naheliegens der streitpatentgemäßen Lösung mag in Anbetracht der von N2 offenbarten Beschickung durch ein Loch im Deckenbereich des Ofens im Ausgangspunkt durchaus näherer Überlegung wert sein; sowohl das BPatG als auch den BGH hat dies letztlich aber nicht überzeugt.
N2 spricht zwar von einer Montage auf vorhandene Abdeckungen konventioneller Geräte ganz ohne oder nur mit geringfügigem Umbau (retooling, Sp. Z. Z. 7-10). Die Adaption an solche Geräte bleibt aber völlig im Dunklen. Namentlich wie diese Geräte in puncto Aufnahme der Tiegel konstruiert sein sollen, blendet N2 völlig aus. Das ist auch dem BGH negativ aufgefallen (Rn. 85).
Mit Blick auf N1 ergeben sich vor allem Ungereimtheiten. Das dort vorgesehene Einfüllen einzelner Proben in einzelne Tiegel durch die Bedienperson passt ohne grundlegende Umkonstruktionen gar nicht zu dem Beschickungsmechanismus, den N2 andeutet.
Damit geht der Offenbarungsgehalt von N2 für den BGH nicht über den einer anderen Schrift (N6) hinaus, die bereits Gegenstand des ersten Nichtigkeitsverfahrens war. U.a. ließ N6 im Ofen lediglich Raum für einen Messtiegel und einen Referenztiegel erkennen (Rn. 88). In der Würdigung des BGH, N2 zeige gar keinen Ofen/Messbehälter und gebe auch dadurch keinen Hinweis auf die Kombinationsmöglichkeit mit einer größeren Anzahl von Gerätearten (Rn. 89), glaubt man Anflüge englischen Humors erkennen zu können.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung betrifft eine spezielle Konstellation für die Frage der erfinderischen Tätigkeit. Die Erfindung des Streitpatents ist trotz des Hinweises auf die Kombinationsmöglichkeit mit anderen (Mutter-)Geräten keine sogenannte Kombinationserfindung (vgl. dazu etwa Benkard/Bacher, 12. Aufl.b § 1 PatG Rn. 78 ff.). N2 zufolge soll der präsentierte autosampler zwar gänzlich ohne oder nur mit wenig Umrüstung auf die Abdeckung konventioneller Muttergeräte passen. Das wäre der Sache nach aber nur eine spezielle Form der Aggregation (vgl. Bacher, a.a.O.). Damit mag N2 zwar durchaus fachmännischen Anlass zur Suche nach Gerätschaften (Muttergeräten) geben, mit welchen diese Vorrichtung kombiniert werden kann. Aber das ist für die Frage des Naheliegens des Gegenstands des Streitpatents kein Selbstläufer; die Anregung zur Suche ist nicht schon das Ziel.
Da N2 sich der Darstellung infrage kommender Muttergeräte enthält, muss im Prozess im Einzelnen dargelegt werden, aus welchen Gründen die Lösung des Streitpatents insgesamt nahegelegt war. N1 konnte das, wie ausgeführt, nicht leisten. Die dort offenbarte Handhabung der Tiegel war nicht reibungslos kompatibel mit der Beschickungsmodalität, die sich aus N2 ergab, und N1 hätte selbst wesentlich modifiziert werden müssen (Rn. 81). Auch aus anderen Gründen ergab sich nicht, dass die Lösung des Streitpatents nahegelegt gewesen wäre, auch nicht, wenn N2 selbst zum Ausgangspunkt der fachmännischen Bemühungen gewählt wird (Rn. 82 ff.).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung zeigt einmal mehr, dass die Prüfung auf erfinderische Tätigkeit grundsätzlich eine komplexe gedankliche Operation ist. Auch wenn der Stand der Technik für Teilprobleme auf den ersten Blick frappierende Vorbilder bereithält, darf das nicht zu überstürzten Gesamtbewertungen verleiten.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Die Entscheidung befasst sich außerdem noch mit der Ausführbarkeit der Erfindung (Rn. 40 ff.).



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