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Anmerkung zu:OLG Hamm 7. Zivilsenat, Beschluss vom 08.02.2024 - 7 U 30/23
Autor:Dr. Benjamin Krenberger, RiAG
Erscheinungsdatum:09.10.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 254 BGB, § 4 StVO, § 1 StVO, § 42 StVO, § 529 ZPO, § 286 ZPO, § 17 StVG, § 3 StVO, Anlage 3 StVO
Fundstelle:jurisPR-VerkR 20/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Klaus Schneider, RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und Notar
Zitiervorschlag:Krenberger, jurisPR-VerkR 20/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Mitverschulden des geschädigten Fahrradfahrers



Leitsatz

Ein Radfahrer, der in einer Spielstraße einen Pkw überholt, schneidet, ausbremst und dadurch einen Auffahrunfall provoziert, muss sich ein anspruchsausschließendes Mitverschulden i.S.d. § 254 Abs. 1 BGB vorhalten lassen.



A.
Problemstellung
Das OLG Hamm musste als Berufungsgericht über die erstinstanzliche Abweisung der Klage eines Radfahrers gegen einen PKW-Fahrer entscheiden und hat die Klageabweisung bestätigt. Das hier vorliegende grob verkehrswidrige Verhalten des Fahrradfahrers hat zum Haftungsausschluss des beklagten PKW-Fahrers geführt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger war mit dem Fahrrad unterwegs, der Beklagten zu 1) mit dem PKW. Das Landgericht hatte in erster Instanz festgestellt, dass der Kläger den Beklagten zu 1) vorsätzlich überholte, schnitt und ausbremste, so dass es zum Auffahrunfall durch den Beklagten zu 1) kam. Das Landgericht wies die Klage ab und gab der Widerklage statt.
Das OLG Hamm hat darauf hingewiesen, dass es beabsichtigt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen. Später wurde die Berufung dann entsprechend zurückgewiesen.
Der Senat ist an die Feststellungen des Landgerichts, dass der Kläger den Beklagten zu 1) vorsätzlich überholte, schnitt und ausbremste, nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden. Damit lasse sich ein schuldhafter Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1 nicht feststellen. Vielmehr stehe ein ganz überwiegendes, auch die Betriebsgefahr überlagerndes Eigenverschulden des Klägers (§ 254 Abs. 1 BGB) fest.
Vorliegend haben sowohl der PKW-Fahrer als auch die unbeteiligte Zeugin – diese in Übereinstimmung zu ihrer polizeilichen Aussage von drei Tagen nach dem Unfallereignis – das Überholen, Schneiden und Ausbremsen übereinstimmend, konstant und widerspruchsfrei geschildert. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Zeugin angegeben habe, den nachfolgenden Zusammenstoß nicht gesehen zu haben. Dabei sei das Landgericht nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO) auch nicht gehindert gewesen, im Rahmen der Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugungsbildung auf eine Parteierklärung des Beklagten zu 1) zu stützen, auch wenn sie außerhalb einer förmlichen Parteivernehmung erfolgt sei.
Damit lasse sich ein verkehrswidriger Verursachungsbeitrag – auch nicht aufgrund eines Anscheinsbeweises gegen den Auffahrenden, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO) – nicht feststellen.
Die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu einer überhöhten Geschwindigkeit des PKW-Fahrers sei insoweit nicht erforderlich gewesen. Denn aufgrund der geringen, wenn auch verkehrswidrig überhöhten Eigengeschwindigkeit des klagenden Radfahrers von nur ca. 12 km/h beim Überholen und Schneiden vor dem Ausbremsen sei nicht nachvollziehbar oder ersichtlich, dass der Beklagte zu 1) die zulässige Höchstgeschwindigkeit im dem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 315.1 und Anl. 3 zu § 42 Abs. 2 StVO lfd. Nr. 12 Nr. 1 „Schrittgeschwindigkeit“) maßgeblich überschritten habe.
Ohnedies würde die Haftung des Beklagten im vorliegenden Einzelfall bei einer hier allenfalls geringfügigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit angesichts des grob verkehrswidrigen Verhaltens des Klägers vollständig zurücktreten.


C.
Kontext der Entscheidung
Das OLG Hamm hat zunächst auf die Grenzen des § 529 ZPO hingewiesen, wenn es darum geht, das erstinstanzliche Urteil zu überprüfen. Denn nach § 529 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist das Berufungsgericht an die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten.
Konkrete Anhaltspunkte, welche die Bindung an diese Feststellungen entfallen lassen, können sich vor allem aus erstinstanzlichen Verfahrensfehlern ergeben, ohne dass diese – wie beispielsweise in der Revisionsinstanz – gegeben sein müssen (Wulf in: BeckOK ZPO, § 529 ZPO Rn. 8): Auch verfahrensfehlerfrei getroffene Feststellungen sind für das Berufungsgericht bei konkreten Anhaltspunkten für eine Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit nicht bindend (BGH, Urt. v. 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2005, 1583). Ein Verfahrensfehler liegt aber beispielsweise vor, wenn die Beweiswürdigung nicht den Anforderungen genügt, die von der Rechtsprechung zu § 286 Abs. 1 ZPO entwickelt worden sind. Dies ist der Fall, wenn sie unvollständig oder in sich widersprüchlich ist oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen können sich außerdem aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht die Beweisaufnahme anders würdigt als die Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (OLG Hamm, Beschl. v. 07.01.2021 - 7 U 53/20 Rn. 21; BGH, Urt. v. 16.11.2021 - VI ZR 100/20 Rn. 15 f. - RuS 2022, 48). Kurz gesagt: Aus Sicht des Berufungsgerichts muss eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass eine erneute Feststellung zu einem anderen Ergebnis führt (BGH, Beschl. v. 08.08.2023 - VIII ZR 20/23 - NJW 2023, 3496).
Dies war hier nicht der Fall, da die Parteianhörung des Auffahrenden durch eine neutrale Zeugin gestützt wurde, was das verkehrswidrige Fahrverhalten des Fahrradfahrers betraf. Das Tatgericht wie auch das Berufungsgericht haben sich dabei an § 286 ZPO zu orientieren, so dass keine mathematisch lückenlose Gewissheit vorausgesetzt wird, weil es selbst nach dem strengen Maßstab des § 286 ZPO keines naturwissenschaftlichen Kausalitätsnachweises und auch keiner an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bedarf. Vielmehr genügt ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der verbleibenden Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (vgl. BGH, Urt. v. 12.12.2023 - VI ZR 76/23 Rn. 15; BGH, Urt. v. 01.10.2019 - VI ZR 164/18 Rn. 8 - RuS 2020, 47). Dabei war das Landgericht nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO auch nicht gehindert, seine Überzeugungsbildung auf eine Parteierklärung zu stützen, auch wenn sie außerhalb einer förmlichen Parteivernehmung erfolgt ist (BGH, Urt. v. 06.12.2022 - VI ZR 168/21 Rn. 19 - RuS 2023, 130). Dies würde selbst dann gelten, wenn die neutrale Zeugin dem Beklagten widersprochen hätte, aber der Beklagte zu 1) in seiner Anhörung das Gericht überzeugt hat (Foerste in: Musielak/Voit, ZPO, § 286 Rn. 13a).
Nach Klärung der bindenden Feststellungen muss man sich hier natürlich daran erinnern, dass § 17 StVG nicht eingreift, sondern die Verschuldensanteile bzw. Verursachungsbeiträge nach dem Allgemeinen Teil des Schadensrechts zu bestimmen sind. Nach dem Beweisergebnis fehlte es an einem verkehrswidrigen Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1), insbesondere konnte aufgrund der Fahrweise des Fahrradfahrers kein Anscheinsbeweis gegen den PKW-Fahrer Geltung beanspruchen (dazu Krenberger in: BeckOK Straßenverkehrsrecht, § 4 StVO Rn. 40). Auch konnte nicht rückgeschlossen werden, dass der Beklagte zu 1) mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren wäre, § 3 Abs. 1 StVO (vgl. BGH, Urt. v. 13.12.2016 - VI ZR 32/16 Rn. 10 ff. - RuS 2017, 153).
Sehr schön war noch der Hinweis darauf, dass die Eigengeschwindigkeit des Klägers mit 12 (!) km/h schon verkehrswidrig war (Zeichen 315.1 und Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO lfd. Nr. 12 Nr. 1 „Schrittgeschwindigkeit“, d.h. 7-10 km/h maximal) und, nachdem er den Beklagten zu 1) überholt hatte, die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu einer überhöhten Geschwindigkeit des Beklagten zu 1) nicht erforderlich war. Ohnedies würde die Haftung der Beklagten im vorliegenden Einzelfall bei einer hier allenfalls geringfügigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit angesichts des grob verkehrswidrigen Verhaltens des Klägers vollständig zurücktreten (OLG Düsseldorf, Urt. v. 12.12.2005 - 1 U 91/05 Rn. 17; Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 4 StVO Rn. 27 f.).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Es ist bemerkenswert, wie klar das OLG Hamm hier herausarbeitet, dass auch Fahrradfahrer Verkehrsrowdies sein können und dementsprechend bei einem Zusammenstoß die volle Haftung zu tragen haben. Wäre hier allerdings keine neutrale Zeugin zugegen gewesen, wäre das Beweisergebnis möglicherweise anders ausgefallen, da das Stichwort „Betriebsgefahr“ für den PKW-Fahrer immer einen Malus darstellt.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Das OLG Hamm hat hier zudem ausdrücklich offengelassen, ob der Kläger durch sein Fahrverhalten nicht sogar in eine Beschädigung des Rades und seine Verletzung einwilligte. Hintergrund dazu ist ein Urteil des OLG vom 21.10.2022 (I-7 U 96/21), in welchem es heißt: Ist eine rechtfertigende Einwilligung in die Beschädigung eines Kraftfahrzeugs nachgewiesen, kann der Einwilligende im Einzelfall auch keine Schmerzensgeldansprüche wegen einer beim gestellten Verkehrsunfall erlittenen Körperverletzung geltend machen, wenn er sich bewusst in eine Lage begibt, in der zumindest ein abstraktes Körperverletzungsrisiko verbleibt, und er deshalb mit der Anspruchsgeltendmachung jedenfalls gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstößt.
Es ist durchaus überlegenswert, beim (fast schon lebensmüden) Ausbremsen eines PKWs mit einem Fahrrad eine ähnliche Konstellation anzunehmen.



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