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Anmerkung zu:BFH 8. Senat, Urteil vom 11.12.2024 - VIII R 24/23
Autor:Dr. Franziska von Freeden, Ri’inBFH
Erscheinungsdatum:23.06.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 1 KStG 1977, § 43a EStG, § 110 FGO, § 47 AO 1977, § 170 AO 1977, § 169 AO 1977, § 43 EStG, § 22 UmwStG 2006, § 20 EStG, § 167 AO 1977, § 191 AO 1977, § 155 AO 1977, § 171 AO 1977, § 44 EStG
Fundstelle:jurisPR-SteuerR 25/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Peter Fischer, Vors. RiBFH a.D.
Prof. Dr. Franz Dötsch, Vors. RiBFH a.D.
Zitiervorschlag:von Freeden, jurisPR-SteuerR 25/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Inanspruchnahme des Trägers eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs für nicht einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer



Leitsätze

1. Ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb ist „Dritter“ i.S.d. § 171 Abs. 15 AO. Die Fiktion in § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG ist auch bei der Anwendung von § 171 Abs. 15 AO zu beachten mit der Maßgabe, dass der fiktive Gläubiger der Kapitalerträge, die Trägerkörperschaft, zugleich als Steuerschuldner (Schuldner der Kapitalertragsteuer) und der fiktive Schuldner der Kapitalerträge, der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb, zugleich als Steuerentrichtungspflichtiger i.S.d. Vorschrift gelten.
2. Die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3a AO ist sachlich auf den im angefochtenen Bescheid festgesetzten Anspruch und persönlich auf die Person des Anfechtenden beschränkt (Anschluss BFH, Urt. v. 06.06.2019 - IV R 34/16 Rn. 40 - BFH/NV 2019, 1078). Die Fiktion des § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG ist auch bei der Anwendung von § 171 Abs. 3a AO zu beachten mit der Maßgabe, dass zwischen der Trägerkörperschaft als Schuldner der Kapitalertragsteuer und dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb als fiktivem Steuerentrichtungspflichtigen Personenverschiedenheit anzunehmen ist.



A.
Problemstellung
Die Entscheidung betrifft eine nicht ganz alltägliche Situation des Kapitalertragsteuerabzugs: die Inanspruchnahme der Trägerkörperschaft eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs für nicht abgeführte Kapitalertragsteuer.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger ist ein gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 4 KStG i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 5 KStG von der Körperschaftsteuer befreiter Berufsverband. Er unterhält neben dem steuerbefreiten Bereich einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, aus dem er in den Jahren 2007 und 2008 (Streitjahre) Gewinne i.H.v. 38.620,12 Euro und 8.880,65 Euro erzielte. Zum 31.12.2006 war für den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb ein verbleibender Verlustvortrag zur Körperschaftsteuer i.H.v. 396.341 Euro gesondert festgestellt worden. Nach Verrechnung der in den Streitjahren erzielten Gewinne mit den Verlusten der jeweiligen Vorjahre wurde die Körperschaftsteuer für die Streitjahre auf jeweils 0 Euro festgesetzt. Nach Aufforderung durch das FA reichte der Kläger am 23.04.2010 Kapitalertragsteueranmeldungen für die Streitjahre ein, in denen er Kapitalerträge gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b EStG in der für die Streitjahre geltenden Fassung i.H.v. jeweils 0 Euro angab.
Am 08.03.2012 erließ das FA einen Haftungsbescheid, mit dem es den Kläger gemäß § 191 Abs. 1 AO wegen nicht abgeführter Kapitalertragsteuer i.H.v. 3.862 Euro (2007) beziehungsweise 888 Euro (2008) nebst Solidaritätszuschlag in Anspruch nahm. Die in den Streitjahren erzielten Gewinne des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs seien gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b EStG i.V.m. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7c EStG und § 43a Abs. 1 Nr. 6 EStG einer 10%igen Kapitalertragsteuer zu unterwerfen, da die Gewinne nicht einer gesonderten, betrieblich notwendigen Gewinnrücklage zugeführt worden seien. Der Kläger hafte als Entrichtungsschuldner, da er seiner Verpflichtung zur Einbehaltung, Anmeldung und Abführung der Kapitalertragsteuer nicht nachgekommen sei. Die hiergegen nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage wies das FG ab (FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22.11.2017 - 8 K 4148/13 - EFG 2018, 850) . Der Kläger legte dagegen Revision ein (Aktenzeichen des BFH VIII R 1/18). Während dieses Revisionsverfahrens erließ das FA am 22.12.2020 einen auf § 167 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 44 Abs. 5 Satz 2 EStG gestützten und als „Nachforderungsbescheid“ über Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 bezeichneten Bescheid gegen den Kläger und führte unter anderem aus, der Bescheid ergehe gegenüber dem Kläger als Entrichtungsschuldner. Den Haftungsbescheid vom 08.03.2012 hob das FA auf. Gegen den Bescheid vom 22.12.2020 legte der Kläger wiederum Einspruch ein. Nachdem der Kläger im Revisionsverfahren VIII R 1/18 den Rechtsstreit einseitig in der Hauptsache für erledigt erklärt hatte, stellte der BFH mit Urteil vom 25.03.2021 (VIII R 1/18 - BStBl II 2021, 655) die Erledigung der Hauptsache fest.
Der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage gab das FG statt und führte zur Begründung aus, der Bescheid habe nicht mehr ergehen können, da hinsichtlich der Kapitalertragsteuer der Streitjahre Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Die hiergegen vom FA eingelegte Revision wies der BFH in der Besprechungsentscheidung als unbegründet zurück. Das FG habe im Ergebnis zutreffend entschieden, dass der Nachforderungsbescheid vom 22.12.2020 über Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 rechtswidrig gewesen sei, da die Kapitalertragsteuer der Streitjahre bei Erlass des Bescheids verjährt gewesen sei. Dies begründete der BFH im Einzelnen wie folgt:
I. Bereits in dem vorangegangenen, denselben Sachverhalt betreffenden Urt. v. 25.03.2021 (VIII R 1/18 - BStBl II 2021, 655) sei rechtskräftig entschieden worden, dass der Bescheid vom 22.12.2020 ein Nachforderungsbescheid gemäß § 155 AO i.V.m. § 44 Abs. 6 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 EStG sei, der sich an den Kläger als Gläubiger der Kapitalerträge und als Schuldner der Kapitalertragsteuer richtet. Daran seien die Beteiligten und der BFH gebunden (§ 110 Abs. 1 FGO). Dass das FA im Bescheid eine unzutreffende Rechtsgrundlage (§ 167 Abs. 1 Satz 1 AO) angegeben und den Kläger irrtümlich als „Entrichtungsschuldner“ bezeichnet hat, sei unerheblich.
II. Der Nachforderungsbescheid vom 22.12.2020 habe nicht mehr ergehen dürfen, da bei seinem Erlass die in ihm festgesetzte Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 bereits verjährt und erloschen (§ 47 AO) gewesen sei. Die Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre habe gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf des Jahres 2010, in dem der Kläger die Kapitalertragsteueranmeldungen für die Streitjahre abgegeben hatte, zu laufen begonnen. Es gelte die vierjährige Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO. Tatsächliche Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung habe das FG nicht festgestellt.
III. Der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre sei nicht nach § 171 Abs. 15 AO gehemmt gewesen. Das gegen den Haftungsbescheid vom 08.03.2012 geführte Rechtsbehelfs- und Klageverfahren habe den Ablauf der Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen nicht gehemmt. Gemäß § 171 Abs. 15 AO ende, soweit ein Dritter Steuern für Rechnung des Steuerschuldners einzubehalten und abzuführen oder für Rechnung des Steuerschuldners zu entrichten habe, die Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerschuldner nicht vor Ablauf der gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen geltenden Festsetzungsfrist. § 171 Abs. 15 AO solle einen Gleichlauf der Festsetzungsfristen beim Entrichtungs- und beim Steuerschuldner gewährleisten. Umstände i.S.d. § 171 AO, die beim Entrichtungspflichtigen den Eintritt der Verjährung hemmten, hemmten personenübergreifend auch die Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerschuldner. § 171 Abs. 15 AO gelte für im Abzugsverfahren erhobene Steuern und damit für die Kapitalertragsteuer. Der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuerschuld sei gemäß § 171 Abs. 15 AO bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung der Entrichtungspflicht gehemmt.
IV. Ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb sei „Dritter“ i.S.d. § 171 Abs. 15 AO. Dem stehe nicht entgegen, dass die Trägerkörperschaft materiell- und verfahrensrechtlich anstelle des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs in Anspruch genommen werde, da diesem keine Steuersubjektivität zukomme. Nach § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG würden in den Fällen des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7c EStG die von der Körperschaftsteuer befreite Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse (die Trägerkörperschaft) als Gläubiger und der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb als Schuldner der Kapitalerträge gelten. Diese Fiktion sei auch bei der Anwendung von § 171 Abs. 15 AO zu beachten mit der Maßgabe, dass der fiktive Gläubiger der Kapitalerträge, die Trägerkörperschaft, zugleich als Steuerschuldner i.S.d. § 171 Abs. 15 AO (Schuldner der Kapitalertragsteuer) und der fiktive Schuldner der Kapitalerträge, der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb, zugleich als Steuerentrichtungspflichtiger i.S.d. Vorschrift anzusehen seien.
V. Die Voraussetzungen von § 171 Abs. 15 AO seien aber im Übrigen nicht erfüllt. Voraussetzung für eine Hemmung der Festsetzungsfrist gegenüber dem Kläger als Schuldner der Kapitalertragsteuer wäre eine Hemmung der Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen, hier dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb als fiktivem Entrichtungsschuldner, gewesen. Ob die Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen gehemmt gewesen sei, sei bei der Anwendung von § 171 Abs. 15 AO inzident nach Maßgabe der Tatbestände des § 171 AO zu beurteilen.
Das gegen den Haftungsbescheid vom 08.03.2012 geführte Einspruchs- und Klageverfahren habe im Streitfall die Verjährung gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen nicht gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 AO i.V.m. § 171 Abs. 3a AO gehemmt. Werde ein Steuerbescheid mit dem Einspruch oder der Klage angefochten, so laufe gemäß § 171 Abs. 3a AO die Festsetzungsfrist nicht ab, bevor über den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden sei. Die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3a AO sei sachlich auf den im angefochtenen Bescheid festgesetzten Anspruch und persönlich auf die Person des Anfechtenden beschränkt.
Das Einspruchs- und Klageverfahren gegen den Haftungsbescheid vom 08.03.2012 habe danach die Festsetzungsverjährung gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen nicht gehemmt. Der Haftungsbescheid vom 08.03.2012 sei ins Leere gegangen, da es im Streitfall an einem Haftungsanspruch fehle. Bereits im vorgegangenen Verfahren VIII R 1/18 sei entschieden worden, dass eine Haftung im Streitfall nicht auf § 44 Abs. 6 Satz 5 EStG gestützt werden könne. Die Vorschrift sehe eine Haftung des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs als fiktivem Schuldner der Kapitalerträge für die Kapitalertragsteuer nur vor, soweit sie auf – hier nicht vorliegende – verdeckte Gewinnausschüttungen (vgl. § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b Satz 1 Halbsatz 1 Alt. 2 EStG) oder Veräußerungen i.S.d. § 22 Abs. 4 UmwStG entfalle. Eine Haftung bei Nichterfüllung der Einbehaltungs- und Abführungspflicht, soweit die Kapitalertragsteuer wie im Streitfall auf laufende Gewinne eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs entfalle, ergibt sich daraus nicht und könne auch nicht auf eine andere Norm gestützt werden (BFH, Urt. v. 25.03.2021 - VIII R 1/18 Rn. 19 - BStBl II 2021, 655). Das gegen den Haftungsbescheid vom 08.03.2012 geführte Einspruchs- und Klageverfahren hätte danach allenfalls den Ablauf der Festsetzungsfrist für den in ihm festgesetzten (vermeintlichen) Haftungsanspruch hemmen können. Aus der Formulierung „gesamter Steueranspruch“ in § 171 Abs. 3a Satz 2 AO ergebe sich nichts anderes. Hierdurch solle die Möglichkeit der Verböserung im außergerichtlichen und gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren auf den gesamten Steueranspruch erstreckt und eine Teilverjährung ausgeschlossen werden. Gesamter „Steueranspruch“ sei hier der vom FA im Haftungsbescheid festgesetzte vermeintliche Haftungsanspruch gewesen. Da ein solcher Anspruch jedoch von Anfang an nicht bestanden habe und deshalb auch nicht habe verjähren können, habe das Einspruchs- und Klageverfahren keine Hemmungswirkung entfaltet. Durch den Haftungsbescheid sei nur der Haftungsanspruch und nicht zugleich auch den Entrichtungsanspruch geltend gemacht worden.
VI. Eine Ablaufhemmung ergebe sich auch nicht aus § 171 Abs. 3a AO. Das gegen den Haftungsbescheid vom 08.03.2012 geführte Einspruchs- und Klageverfahren habe auch nicht den Ablauf der Festsetzungsfrist für den Anspruch auf Kapitalertragsteuer, soweit er sich gegen den Gläubiger der Kapitalerträge und Schuldner der Kapitalertragsteuer (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 EStG) richte, gehemmt. Unter Berücksichtigung der Fiktion des § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG sei auch bei der Anwendung von § 171 Abs. 3a AO davon auszugehen, dass der Gläubiger der Kapitalerträge und Schuldner der Kapitalertragsteuer (die Trägerkörperschaft) und der fiktive Entrichtungsschuldner (der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb) personenverschieden seien. Eine personenübergreifende Hemmung sehe § 171 Abs. 3a AO nicht vor. Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass auch der Haftungsbescheid vom 08.03.2012 gegen den Kläger in seiner Eigenschaft als Träger des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs gerichtet gewesen sei und der Kläger in dieser Eigenschaft das Einspruchs- und Klageverfahren gegen den Haftungsbescheid im eigenen Namen geführt habe. Die Fiktion in § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG überschreibe und verdränge die in der zu beurteilenden Situation ausnahmsweise gegebene Personenidentität und verlange vom Rechtsanwender, fiktiv von einer Personenverschiedenheit auszugehen.


C.
Kontext der Entscheidung
I. Den „roten Faden“ durch die Besprechungsentscheidung bildet die Fiktion des § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG. Nach dieser Vorschrift gilt für Zwecke des Kapitalertragsteuerabzugs die von der Körperschaftsteuer befreite Körperschaft als Gläubigerin und der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb als Schuldner der Kapitalerträge i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b EStG. Dieser Fiktion bedarf es, weil dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb die Steuersubjektivität und eine rechtliche Organisationsform fehlen, die nach den Vorschriften der AO handlungsfähig ist.
II. Die Entscheidung ist außerdem vor den Hintergrund der verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten der Finanzverwaltung auf nicht bzw. unzutreffend abgeführte Kapitalertragsteuer zu sehen. Führt der Entrichtungsschuldner bzw. Schuldner der Kapitalerträge die Kapitalertragsteuer nicht oder nicht zutreffend ab, hat das Finanzamt ein Wahlrecht, den Entrichtungsschuldner entweder durch Nacherhebungsbescheid gemäß § 167 Abs. 1 Satz 1 AO oder durch Haftungsbescheid gemäß § 191 AO i.V.m. § 44 Abs. 5 Sätze 1, 3 EStG in Anspruch zu nehmen. Da mit dem Nacherhebungsbescheid materiell-rechtlich ein Haftungsanspruch geltend gemacht wird, darf dieser nur dann ergehen, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen einer Haftungsnorm erfüllt sind (BFH, Urt. v. 20.08.2008 - I R 29/07 Rn. 26 - BStBl II 2010, 142). Daneben hat das Finanzamt die Möglichkeit, den Steuerschuldner bzw. Gläubiger der Kapitalerträge durch einen Nachforderungsbescheid gemäß § 155 AO i.V.m. § 44 Abs. 5 Satz 2 EStG in Anspruch zu nehmen. Der Nachforderungsbescheid dient als Steuerbescheid gemäß § 155 Abs. 1 Satz 1 AO der Festsetzung einer Steuerschuld gegenüber dem Steuerschuldner, während durch den Haftungsbescheid der Haftungsschuldner für die Steuerschuld eines anderen in Anspruch genommen wird (BFH, Urt. v. 25.03.2021 - VIII R 1/18 Rn. 19 - BStBl II 2021, 655).
III. Im Besprechungsfall hatte das Finanzamt versucht, nacheinander beide Wege zu beschreiten. Mangels Eingreifens eines Haftungstatbestands stand allerdings von vornherein nur der Weg des Nachforderungsbescheids offen. Als dieser schlussendlich erging, war im Hinblick auf die streitige Kapitalertragsteuer bereits Festsetzungsverjährung eingetreten. Insbesondere war der Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht gemäß § 171 Abs. 15 AO gehemmt. Zwar wurde diese Vorschrift mit Blick auf die Abzugsteuern, zu denen neben der Lohnsteuer insbesondere auch die Kapitalertragsteuer gehört, geschaffen. Aufgrund der Fiktion des § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG war der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb zwar als „Dritter“ i.S.d. § 171 Abs. 15 AO anzusehen. Es fehlte aber an einer Hemmung der Festsetzungsfrist gegenüber dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb als Schuldner der Kapitalerträge, die nach § 171 Abs. 15 AO personenübergreifend eine Hemmung der Festsetzungsfrist gegenüber der Klägerin als Trägerkörperschaft und Gläubigerin der Kapitalerträge hätte auslösen können. Insbesondere konnte das Einspruchs- und Klageverfahren gegen den Haftungsbescheid die Festsetzungsverjährung gegenüber dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb nicht hemmen, da der Haftungsbescheid mangels Haftungsanspruch von vornherein ins Leere gegangen war.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Besprechungsentscheidung stellt ferner klar, dass die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3a AO (Rechtsbehelfsverfahren) sachlich auf den im angefochtenen Bescheid festgesetzten Anspruch und persönlich auf die Person des Anfechtenden beschränkt ist. Auch in diesem Rahmen kommt die Fiktion des § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG zum Tragen mit der Maßgabe, dass zwischen der Trägerkörperschaft als Schuldner der Kapitalertragsteuer und dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb als fiktivem Steuerentrichtungspflichtigen Personenverschiedenheit anzunehmen ist.



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