juris PraxisReporte

Anmerkung zu:LSG Stuttgart 4. Senat, Beschluss vom 31.07.2024 - L 4 KR 1508/24 ER-B
Autor:Prof. Dr. Mathias Ulmer, RiLSG
Erscheinungsdatum:04.10.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 19 EStG, § 15 SGB 4, § 226 SGB 5, § 7 SGB 4, § 14 SGB 4, § 253 SGB 5, § 14 EStG, § 18 EStG, § 16 EStG, § 17 EStG, § 10d EStG, § 240 SGB 5
Fundstelle:jurisPR-SozR 20/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG a.D.
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Ulmer, jurisPR-SozR 20/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Beitragsberechnung nach § 240 SGB V: Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit als Arbeitseinkommen i.S.v. § 15 SGB IV?



Leitsatz

Soweit nach § 3 Abs. 1a BeitrVerfGrds SelbstZ (juris: SzBeitrVfGrs) selbst Einnahmen eines selbstständig Erwerbstätigen, die steuerrechtlich als Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit behandelt werden, als Arbeitseinkommen i.S.v. § 15 SGB IV gelten, ist bei der Berechnung der Einkünfte im Rahmen der endgültigen Beitragsfestsetzung ein horizontaler Verlustausgleich zulässig.



A.
Problemstellung
Können Einnahmen, die steuerrechtlich als Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit behandelt werden, als Arbeitseinkommen gelten und mit anderen Einnahmen aus selbstständiger Tätigkeit verrechnet werden?


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Antragsteller wandte sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Vollstreckung eines Bescheides bezüglich der Beiträge aus der freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung.
Das LSG Stuttgart hat auf die Beschwerde des Antragstellers den Beschluss des Sozialgerichts abgeändert.
Das Landessozialgericht hat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Beitragsfestsetzung, soweit die im Einkommensteuerbescheid ausgewiesenen negativen Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit (8.927 Euro) nicht einkommensmindernd berücksichtigt wurden.
Nach § 3 Abs. 1a Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler (BeitrVerfGrds SelbstZ) gelten Einnahmen eines selbstständig Erwerbstätigen, die steuerrechtlich als Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit behandelt werden, als Arbeitseinkommen i.S.v. § 15 SGB IV. Solche Einnahmen würden durch diese Regelung (beitragsrechtlich) derselben Einkommensart i.S.d. § 240 Abs. 1 SGB V (Arbeitseinkommen) zugewiesen wie (steuerrechtliche) Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit. Es handle sich somit bei einer Saldierung dieser Einkünfte nicht um einen (ausgeschlossenen) vertikalen, sondern um einen zulässigen horizontalen Verlustausgleich innerhalb derselben Einnahmeart (BSG, Urt. v. 09.08.2006 - B 12 KR 8/06 R Rn. 18 m.w.N.). Daher sei eine Verrechnung mit den positiven Einkünften aus selbstständiger Tätigkeit zulässig und insoweit die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.


C.
Kontext der Entscheidung
Scheinbar bewegt sich die Entscheidung auf ausgetretenen Pfaden. Gemäß § 240 Abs. 1 Satz 1 SGB V wird die Beitragsbemessung einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen geregelt. Dies sind die BeitrVerfGrds SelbstZ. Diese sind verbindliche untergesetzliche Normen (BSG, Urt. v. 19.12.2012 - B 12 KR 20/11 R; Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., Stand: 19.12.2023, § 240 SGB V Rn. 28). Diese scheinen den vorliegenden Fall in dem angeführten § 3 Abs. 1a BeitrVerfGrds SelbstZ klar zu regeln.
Doch bei kurzem Nachdenken ist es erstaunlich: Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit sind nach dem klaren Wortlaut des § 19 EStG unter anderem solche aus einer Beschäftigung (vgl. auch § 7 Abs. 1 SGB IV). Können solche mit dem nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelten Gewinn oder Verlust aus einer selbstständigen Tätigkeit (§ 15 SGB IV) verrechnet werden? So pauschal formuliert verstößt dies offen gegen das gesetzliche Verbot der Besserstellung von freiwillig Versicherten gegenüber Pflichtversicherten (ausdrücklich § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB V). Pflichtversicherte Beschäftigte können bekanntlich ihre Beiträge nicht unter Verweis auf Verluste aus einer selbstständigen Tätigkeit mindern (vgl. § 226 Abs. 1 SGB V). Dies kann in § 3 Abs. 1a BeitrVerfGrds SelbstZ nicht gemeint sein, was nicht zuletzt eine Lektüre der – nicht verbindlichen – Liste der beitragspflichtigen Einnahmen bestätigt (https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/grundprinzipien_1/finanzierung/beitragsbemessung/2023-12-11_Katalog_Beitragseinnahmen_240SGBV_barrierefrei.pdf, zuletzt abgerufen am 25.09.2024).
Vielmehr ist § 3 Abs. 1a BeitrVerfGrds SelbstZ entsprechend dem höherrangigen § 240 SGB V gesetzeskonform und teleologisch zu reduzieren: Nur die Einkünfte des Selbstständigen aus seiner selbstständigen Tätigkeit, die steuerrechtlich aber abweichend vom Sozialversicherungsrecht als Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit bewertet werden, bleiben aus Sicht des Sozialversicherungsrechts insoweit in dieser Einkommensart „selbstständige Tätigkeit“. Ob ein Beschäftigter (zufällig) selbstständig tätig ist, ist in jedem Fall beitragsrechtlich unerheblich.
Andernfalls ergäben sich Wertungswidersprüche bei einem aus Sicht des Sozialversicherungsrechts selbstständigen Geschäftsführer, der aber steuerrechtlich als Beschäftigter bewertet wird (vgl. zuletzt zu dieser schwierigen Problematik des § 7 SGB IV BSG, Urt. v. 13.12.2022 - B 12 KR 16/20 R). Diese beginnen bereits damit, dass bei einer (fernliegenden) Übernahme der steuerrechtlichen Bewertung unter Umständen sogar Versicherungspflicht festzustellen wäre. Sie setzen sich damit fort, dass beim Arbeitsentgelt der Bruttolohn ohne Rücksicht auf die steuerliche Behandlung zugrunde zu legen ist (vgl. § 14 Abs. 1, 2 SGB IV, § 253 SGB V; weiter BT-Drs. 11/2237, S. 225). Es gilt das Entstehungsprinzip (vgl. § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB V; LSG Hamburg, Urt. v. 14.09.2023 - L 1 KR 67/22 D, Revision anhängig unter Az. des BSG - B 12 KR 1/24 R). Nur in bestimmten Fällen sind nach der Sozialversicherungsentgeltverordnung auch für das Arbeitsentgelt steuerrechtliche Besonderheiten zu berücksichtigen.
Bei Selbstständigen hat dagegen die steuerrechtliche Bewertung und auch der Einkommensteuerbescheid eine überragende Bedeutung, wie bereits § 240 Abs. 4 SGB V belegt (näher Ulmer, NZS 2016, 449). So kann sich der Gewinn „nur“ aus dem Wechsel von der Einnahmen-Überschuss-Rechnung hin zur Bilanzierung ergeben (LSG Stuttgart, Urt. v. 25.09.2023 - L 4 KR 1768/20); auch Veräußerungsgewinne i.S.d. §§ 14-17, 18 Abs. 3 EStG sind beitragspflichtig (vgl. zu § 16 EStG BSG, Urt. v. 18.01.2018 - B 12 KR 22/16 R; zu § 17 EStG BSG, Urt. v. 22.03.2006 - B 12 KR 8/05 R).
Schließlich werden manchmal finanzielle Beziehungen zwischen der selbstständigen Tätigkeit und der (steuerrechtlich nicht selbstständigen) Geschäftsführertätigkeit bestehen. Dies kann nicht und schon gar nicht rückwirkend wieder geändert werden, wenn nach Jahren ein Steuerbescheid ergeht. Insoweit besteht eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass für die Zuordnung von Einnahmen zum Arbeitseinkommen die steuerrechtliche Abgrenzung der Einkunftsarten maßgebend ist (vgl. BSG, Urt. v. 23.09.1999 - B 12 KR 12/98 R Rn. 14).
Warum und aus welchen Quellen der Antragsteller hier Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit hatte, ist der besprochenen Entscheidung nicht zu entnehmen. Aus einer Beschäftigung werden nur selten Verluste in der festgestellten Höhe resultieren, so dass es sich wahrscheinlich tatsächlich um die in § 3 Abs. 1a BeitrVerfGrds SelbstZ gemeinten Einkünften aus selbstständiger Tätigkeit handelt, die im Steuerbescheid anders bewertet wurden als nach dem Sozialversicherungsrecht. Vermutlich ist die Entscheidung richtig; mangels Ausführungen zum Sachverhalt kann dies aber nicht festgestellt werden. Dies muss im Klageverfahren nachgeholt werden.


D.
Auswirkungen für die Praxis
§ 3 Abs. 1a BeitrVerfGrds SelbstZ ist generell problematisch. Denn einerseits sieht § 240 Abs. 4 SGB V eine Berücksichtigung des Steuerbescheides vor. Anderseits geht § 3 Abs. 1a BeitrVerfGrds SelbstZ aber davon aus, dass dieser die Einkünfte aus Sicht des Sozialversicherungsrechts „falsch“ zuordnet. Aufgrund dieser steuerrechtlichen Zuordnung von Einkünften aus selbstständiger Arbeit in die Einkommensart nichtselbstständige Arbeit ergibt sich wie oben dargelegt eine unterschiedliche Berechnung des zu versteuernden Einkommens, so dass sich nicht selten bei Zugrundelegung einer selbstständigen Tätigkeit ein anderer Betrag ergeben dürfte. Gleichwohl übernimmt § 3 Abs. 1a BeitrVerfGrds SelbstZ diesen Betrag in unveränderter Höhe.
Die Krankenkasse kann aber keine fiktive Steuerberechnung vornehmen, zumal bestimmte Gestaltungsmöglichkeiten sozialversicherungsrechtlich nicht vorgesehen sind und nicht fiktiv vorgenommen werden können. Durch die Anknüpfung an das Steuerrecht können beispielsweise durch die Bildung von Ansparrücklagen Gewinne zwischen den Jahren verschoben werden (dazu LSG Chemnitz, Urt. v. 29.04.2009 - L 1 KR 43/08; anders zum Verlustvortrag nach § 10d EStG LSG Stuttgart, Urt. v. 30.11.2021 - L 11 KR 2257/21; die Revision endete mit einem Anerkenntnis). Daher ist allein die grundsätzliche Zuordnung und die Übernahme der Beträge in § 3 Abs. 1a BeitrVerfGrds SelbstZ praktikabel und – zumindest unter Berücksichtigung der Regelungsautonomie des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (vgl. BSG, Urt. v. 19.12.2012 - B 12 KR 20/11 R; Ulmer in: BeckOK Sozialrecht, § 240 Rn. 1; Schmidt in: Remmert/Gokel, GKV-Kommentar SGB V, § 240 Rn. 8) – rechtmäßig.
Nach der Rechtsprechung muss die Feststellung der Einkünfte allerdings überprüft werden, wenn der Versicherte gegen die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen oder die steuerrechtliche Bewertung des Finanzamtes schlüssige und erhebliche Einwendungen erhebt oder hierfür konkrete Anhaltspunkte bestehen (BSG, Urt. v. 29.07.2015 - B 12 KR 4/13 R Rn. 24; für eine weitgehende Bindung Ulmer in: BeckOK Sozialrecht, § 240 Rn. 16.2 Stichwort Arbeitseinkommen; ähnlich Schlegel, FS BFH 2018, 625, 647 f.). Bejaht man entgegen der hier vertretenen Ansicht auch hier diese Möglichkeit, muss man die Frage beantworten, wie dies dann konkret erfolgen soll und ob dies ernsthaft durch den Adressaten der Vorschrift – Versicherter und Mitarbeiter der Krankenkasse – erfolgen kann. Die Ziele von § 240 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGB V würden so wohl verfehlt.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Grundsätzlich bestätigt die Entscheidung außerdem den Grundsatz, dass positive Einkünfte aus selbstständiger Arbeit und aus Kapitalvermögen nicht mit negativen Einkünften aus Vermietung und Verpachtung „verrechnet“ werden dürfen (BSG, Urt. v. 30.10.2013 - B 12 KR 21/11 R Rn. 28; BSG, Urt. v. 28.05.2015 - B 12 KR 12/13 R Rn. 28; Ulmer in: BeckOK Sozialrecht, § 240 Rn. 16.2 Stichwort Verlustvortrag).



Immer auf dem aktuellen Rechtsstand sein!

IHRE VORTEILE:

  • Unverzichtbare Literatur, Rechtsprechung und Vorschriften
  • Alle Rechtsinformationen sind untereinander intelligent vernetzt
  • Deutliche Zeitersparnis dank der juris Wissensmanagement-Technologie
  • Online-First-Konzept

Testen Sie das juris Portal 30 Tage kostenfrei!

Produkt auswählen

Sie benötigen Unterstützung?
Mit unserem kostenfreien Online-Beratungstool finden Sie das passende Produkt!