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Anmerkung zu:SG Koblenz 11. Kammer, Urteil vom 18.11.2024 - S 11 KR 335/23
Autor:Ulrich Knispel, Vors. RiLSG a.D.
Erscheinungsdatum:17.04.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 27 SGB 5, § 135 SGB 5, § 4 TSG, § 1 TSG, § 283 SGB 5, § 295 SGB 5
Fundstelle:jurisPR-SozR 8/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG a.D.
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Knispel, jurisPR-SozR 8/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Anspruch auf geschlechtsangleichende Operation aufgrund Vertrauensschutzes



Leitsätze

1. Nach der neueren Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 19.10.2023 - B 1 KR 16/22 R) gibt es derzeit keine eigenständige Rechtsgrundlage für die Versorgung mit geschlechtsangleichenden Operationen durch die gesetzlichen Krankenkassen.
2. Hat ein unter dem Transsexuellengesetz begonnener Transitionsprozess beim Versicherten bereits zu irreversiblen körperlichen Veränderungen geführt, besteht nach den Grundsätzen des Vertrauensschutzes ein Anspruch auf weitergehende geschlechtsangleichende Behandlungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen.
3. Eine psychotherapeutische Behandlung zum Nachweis einer gefestigten Geschlechtsidentität ist nicht notwendig, wenn bereits eine Personenstandsänderung durchgeführt und der Versicherte im Gerichtsverfahren nach dem Transsexuellengesetz begutachtet wurde.
4. Im Einzelfall kann auch eine Entstellung vorliegen, wenn nach dem Transitionsprozess das Vorhandensein einer weiblichen Brust nicht mehr zum inzwischen deutlich männlichen Erscheinungsbild passt.



A.
Problemstellung
Das BSG hat in der Vergangenheit in den Fällen von Transsexualismus einen Anspruch auf geschlechtsangleichende Operationen bejaht, da es sich um eine komplexe, die gesamte Persönlichkeit erfassende tiefgreifende Störung mit sowohl seelischen als auch körperlichen Beeinträchtigungen handle. Dabei hat es wegen des Eingriffs in den krankenversicherungsrechtlich gesunden Körper eine medizinische Indikation verlangt, die gegeben sein soll, wenn zur Erreichung der in § 27 Abs. 1 SGB V genannten Behandlungsziele andere Behandlungsmaßnahmen (wie etwa Psychotherapie) nicht ausreichen (BSG, Urt. v. 11.09.2012 - B 1 KR 3/12 R). Diese Rechtsprechung hat es wegen veränderter wissenschaftlicher Erkenntnisse und rechtlicher Rahmenbedingungen aufgegeben und gleichzeitig eine Bewertung der Behandlung einer Geschlechtsidentitätsstörung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) für erforderlich gehalten (BSG, Urt. v. 19.10.2023 - B 1 KR 16/22 R; dazu Knispel, NZS 2024, 777). Wegen der Konsequenz, dass damit auch in bisher „anerkannte“ Fallkonstellationen kein Anspruch auf geschlechtsangleichende Maßnahmen mehr besteht, will es aber für bereits begonnene Behandlungen den Betroffenen Vertrauensschutz zugestehen, so dass diese Personen die Weiterbehandlung zulasten der Krankenkasse in Anspruch nehmen können.
Damit stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen Vertrauensschutz besteht.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der 2003 geborene Kläger wurde mit weiblichem Geschlecht geboren. Seit dem 14. Lebensjahr nimmt er ärztlich verordnete Pubertätshemmer. Seit dem 18. Lebensjahr erfolgt eine Hormontherapie mit Testosteron, die zur Herausbildung zahlreicher äußerer Merkmale eines männlichen Geschlechts geführt haben. Mit amtsgerichtlichem Beschluss vom 11.02.2022 ist unter Änderung des Vornamens festgestellt worden, dass der Kläger dem männlichen Geschlecht angehört.
Der Kläger beantragte am 18.08.2022 bei der beklagten Krankenkasse die Gewährung geschlechtsangleichender Operationen (Mastektomie bds., Hysterektomie, Ovarektomie). Die Krankenkasse holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes ein, der ausführte, die Diagnose eines Transsexualismus gemäß ICD-10 F. 64.0 könne wegen fehlender – i.E. bezeichneter – Unterlagen nicht bestätigt werden. Mit Bescheid vom 15.09.2022 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Im Widerspruchsverfahren brachte der Kläger zahlreiche Unterlagen bei, unter anderem die Stellungnahme einer ihn seit Kindheit betreuenden Sozialpädagogin, die darauf hinwies, bereits seit früher Kindheit habe sich die Transidentität gezeigt. Die beabsichtigten Operationen seien wohlüberlegt und logische Konsequenz aller vorangegangenen medizinischen und therapeutischen Schritte. Der Medizinische Dienst kam in einem weiteren Gutachten zu dem Ergebnis, die Diagnose eines Transsexualismus könne jetzt zwar nachvollzogen werden, jedoch seien die Unterlagen zur Indikationsstellung für die beabsichtigten Operationen nicht ausreichend. Unter anderem fehle eine psychiatrisch/psychotherapeutische Indikationsstellung, außerdem gebe es keine Unterlagen zu einer erfolgten psychiatrisch/psychotherapeutischen Behandlung mit einem aktuellen psychopathologischen Befund.
Auf eine Stellungnahme der Familie des Klägers, in der darauf hingewiesen wurde, dass er sowohl öffentlich als auch privat vollständig mit einer männlichen Identität lebe und er ohne die Angleichung des äußeren Erscheinungsbildes an die männliche Identitätswahrnehmung an der Teilnahme am Leben gehindert sei, gab der Medizinische Dienst an, zwar könne der Leidensdruck nachvollzogen werden, jedoch fehlten weiterhin aussagekräftige medizinische Unterlagen. Der Kläger legte neben weiteren medizinischen Unterlagen einen psychologischen Bericht vom 22.05.2023 vor, wonach sich bei ihm bereits in frühester Kindheit eindeutige Anzeichen einer Transidentität gezeigt hätten, die sich in der anschließenden Latenz- und Adoleszenzphase fortgesetzt und schließlich dazu geführt hätten, dass sich beim ihm bereits ab dem 14. Lebensjahr eine stabile männliche Identität herausgebildet habe. Er verfüge über die Fähigkeit zur realistischen Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen der begehrten geschlechtsangleichenden Maßnahmen und sei sich der Zweckmäßigkeit der geplanten Maßnahme umfänglich bewusst. Eine transitionsbegleitende Nachsorge sei gewährleistet.
Der Medizinische Dienst räumte in einer weiteren Stellungnahme an, sowohl die Diagnose eines Transsexualismus als auch das Vorliegen eines krankheitswertigen Leidensdrucks bei Transsexualismus seien gutachterlich nachvollziehbar. Jedoch sei eine psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung nur zur Diagnosesicherung durchgeführt worden. Angaben zu einem Versuch der Linderung des Leidensdrucks mit psychiatrischen/psychotherapeutischen Mitteln oder zur Indikationsstellung für die aktuell beantragte geschlechtsangleichende Operation seien dem Bericht nicht zu entnehmen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 08.08.2023 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Der Kläger machte im Klageverfahren geltend, er sei schon als Kind psychologisch und psychotherapeutisch behandelt worden, so dass heute nicht erst noch psychiatrische bzw. psychotherapeutische Behandlungen erfolgen müssten, um die beantragten geschlechtsangleichenden Operationen als notwendig anzusehen. In der Vergangenheit seien unabhängige psychiatrische und fachpsychologische Gutachten vorgelegt worden, welche die Diagnose einer Transsexualität sowie die Irreversibilität der Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht bestätigten und damit eine ausreichende Indikation zur Aufnahme von gegengeschlechtlichen Operationen darstellten. Die Beklagte meinte demgegenüber, vor einer Operation sei eine psychotherapeutische Behandlung, die mindestens 12 Sitzungen innerhalb von sechs Monaten umfasse, durchzuführen, um zu klären, ob nur so der Leidensdruck gemindert werden könne.
Das SG Koblenz hat die Beklagte antragsgemäß zur Versorgung des Klägers mit den beantragten operativen Maßnahmen verurteilt.
Für die Versorgung mit geschlechtsangleichenden Operationen für Transpersonen gebe es in der GKV keine eigenständige Rechtsgrundlage. Die Rechtsprechung habe bisher als Rechtsgrundlage für geschlechtsangleichende Operationen § 27 Abs. 1 SGB V zugrunde gelegt, Transsexualismus sei nach der Rechtsprechung des BSG als psychische Krankheit angesehen worden; dazu referiert das Sozialgericht die bisherige Rechtsprechung des BSG. Diese Rechtsprechung habe das BSG nunmehr aufgegeben, da nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft Transsexualität nicht mehr als Krankheit angesehen werden könne. Zugleich habe das BSG angesichts der geänderten rechtlichen Rahmenbedingungen und der neueren medizinischen Bewertungen angenommen, dass es sich bei der Behandlung einer Geschlechtsinkongruenz um eine neue Methode handle, die der Bewertung durch den G-BA bedürfe. Im Hinblick darauf, dass damit Personen, die nach der bisherigen Rechtsprechung Anspruch auf eine geschlechtsangleichende Operation gehabt hätten, nun ungeachtet einer erleichterten personenstandsrechtlichen Änderung die Kosten einer körperlichen Geschlechtsangleichung selbst zu tragen hätten, habe das BSG darauf hingewiesen, dass aus Gründen des Vertrauensschutzes die Kassen die Kosten für bereits begonnene Behandlungen weiter zu tragen haben.
Dem Kläger sei hier Vertrauensschutz einzuräumen. Er fühle sich schon seit frühester Kindheit nicht seinem biologisch weiblichen Geschlecht, sondern dem männlichen Geschlecht zugehörig. Seit dem 18. Lebensjahr liege die gesicherte Diagnose einer Transidentität mit Ausschluss einer psychischen Störung vor. Es sei auch nachgewiesen, dass bei ihm insbesondere durch das Vorhandensein einer weiblichen Brust ein hoher Leidensdruck bestehe. Dementsprechend habe die Beklagte für die Transition Leistungen erbracht: Zunächst ambulante fachärztliche Beratung, anschließend seit 2017 für eine medikamentöse Behandlung mit Pubertätshemmern und schließlich ab 2021 für die Behandlung mit Testosteron. Schließlich habe der Kläger die personenstandsrechtliche Änderung seiner Geschlechtszugehörigkeit und seines Vornamens auf eigene Kosten vorgenommen.
Inzwischen bestehe auch „tatsächlich“ ein regelwidriger Körperzustand. Infolge der Hormonbehandlung sei die Vollentwicklung eines weiblichen Körperbaus nicht eingetreten, dagegen lägen Merkmale eines männlichen Körperbaus wie breite Schultern, sichtbarer Adamsapfel, ausgeprägte Körperbehaarung und dichter Bartwuchs vor. Ihm sei Vertrauensschutz darin zuzubilligen, dass er seinen unter der bisherigen Rechtsprechung und Rechtslage begonnenen Transitionsprozess zulasten der Krankenkasse fortführen könne. Dass er im letzten Jahr vor der Antragstellung keine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen habe, stehe dem Anspruch nicht entgegen. Er habe die Frage, ob es für seine Geschlechtsidentität wesentlich sei, keine weiblichen Geschlechtsmerkmale mehr zu haben, bereits früher unter therapeutischer Begleitung entschieden, als er sich für die Behandlung mit Pubertätshemmern und dann für die Testosteronbehandlung entschieden habe. Dass seine Entscheidung irreversibel sei, sei in den Gutachten in dem Personenstandsverfahren bestätigt worden. Eines weiter gehenden Nachweises bedürfe es nicht.
Unabhängig davon ergebe sich der Anspruch auf eine Mastektomie auch unter dem Gesichtspunkt der Entstellung. Der Kläger wirke nach der Augenscheinseinnahme in der mündlichen Verhandlung eindeutig als Mann. Die bei ihm deutlich vorhandene ausgeprägt weibliche Brust stehe im Gegensatz zu dem sehr ausgeprägt männlichen Erscheinungsbild und passe nicht zum ansonsten deutlich männlichen Erscheinungsbild des Klägers.


C.
Kontext der Entscheidung
Das Urteil ist – soweit ersichtlich – die erste veröffentlichte Entscheidung zur Frage eines Anspruchs auf geschlechtsangleichende Behandlungsmaßnahmen aufgrund Vertrauensschutzes, nachdem das BSG unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung Diagnostik und Behandlung einer Geschlechtsinkongruenz als neue Methode i.S.d. § 135 SGB V qualifiziert hat (BSG, Urt. v. 19.10.2023 - B 1 KR 16/22 R), so dass bis zu einer Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses solche Behandlungsmaßnahmen grundsätzlich nicht mehr beansprucht werden können.
Ein Anspruch auf die begehrten körpermodifizierenden Operationen konnte damit nur bestehen, wenn im Sinne der Rechtsprechung dem Kläger Vertrauensschutz zuzubilligen war.
Im Ergebnis ist dem SG Koblenz uneingeschränkt zu folgen – auch wenn es wohl nicht auf der Linie des BSG liegt. Die Begründung ist allerdings doch etwas „holperig“ und liegt in zwei Punkten auch neben der Sache. Entgegen der Argumentation des Sozialgerichts ist selbstverständlich unverändert § 27 SGB V die Rechtsgrundlage für geschlechtsangleichende Operationen; die Qualifizierung der Behandlung einer Geschlechtsidentitätsstörung als neue Methode bedeutet nur, dass damit das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs. 1 SGB V eingreift, also solche Leistungen bis zu einer positiven Bewertung der Methode durch den G-BA nicht beansprucht werden können.
Die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses schafft aber keine Rechtsgrundlage für die Leistung, sondern beseitigt lediglich die Sperre des § 135 SGB V. Und eher deplatziert ist das Argument, infolge der Hormontherapie liege inzwischen „tatsächlich“ ein regelwidriger Körperzustand vor, weil sich Merkmale eines männliches Körperbaus eingestellt hätten. Davon abgesehen, dass diese Feststellung irrelevant ist, weil der krankenversicherungsrechtliche Krankheitsbegriff verlangt, dass der regelwidrige Körperzustand entweder in Körperfunktionen beeinträchtigen oder entstellend wirken muss (BSG, Urt. v. 22.04.2015 - B 3 KR 3/14 R), ist sie unangemessen gegenüber Transsexuellen, die keine körpermodifizierende Maßnahmen durchführen wollen, sich aber gleichwohl nicht ihrem biologischen Geschlecht zugehörig fühlen. Das gilt auch für die Annahme, wegen der weiblichen Brüste sei von einer Entstellung auszugehen.
Das Sozialgericht ist hinsichtlich des Vertrauensschutzes von dem Hinweis des BSG im Urteil vom 19.10.2023 ausgegangen, dass für bereits begonnene Behandlungen die Krankenkassen wie bisher zu übernehmen haben. Es geht – ohne dies so deutlich auszusprechen – davon aus, dass mit der Behandlung mit Pubertätshemmern und der Testosteronbehandlung von einer im Sinne dieser Rechtsprechung begonnenen Transitionsbehandlung auszugehen sei. Das BSG hat aber in einem weiteren Urteil vom 28.08.2024 (B 1 KR 28/23 R), das das Sozialgericht nicht berücksichtigt hat (die Gründe dieses Urteils lagen wohl zum Zeitpunkt der Entscheidung des Sozialgerichts noch nicht vor, allerdings der Terminbericht Nr. 30/24 zu 2.), diesen Vertrauensschutz weiter konkretisiert. Sofern nicht die Kasse die fragliche Behandlung ohnehin bereits genehmigt hatte, soll danach schutzwürdiges Vertrauen bestehen, wenn die geschlechtsangleichende Behandlung unmittelbar durch einen Leistungserbringer der GKV begonnen worden sei und der Behandlung ein die streitige Leistung einschließender Behandlungsplan zugrunde gelegen habe. Geht man von der Forderung nach einem alle Behandlungsschritte einschließenden Behandlungsplan aus, wäre hier wohl fraglich , ob Vertrauensschutz aufgrund der begonnenen Testosteronbehandlung bestand, da der Kläger ersichtlich die Transition Schritt für Schritt betrieben hat und es zweifelhaft erscheint, ob schon bei Einleitung der Testosteronbehandlung die – erst zwei Jahre später beantragten – geschlechtsangleichenden Operationen als nächste Behandlungsschritte mitgeplant worden waren (Feststellungen des SG Koblenz dazu gibt es nicht).
Der Fall macht deutlich, dass die Haltung des BSG zu restriktiv ist und zu unangemessenen Ergebnissen führt. Hier war angesichts der erkennbaren Konsequenz, mit der der Kläger – ärztlich und psychologisch begleitet – die Transition schon seit seiner Pubertät betrieb, offensichtlich, dass die jetzigen Operationen folgerichtige Fortsetzung dieser ernstlich gewollten Transition sein sollten. Für die Personenstandsänderung 2022 waren nach dem damals noch geltenden TSG zwei Gutachten notwendig (§ 4 Abs. 3 TSG), in denen bestätigt wurde, dass seit mindestens drei Jahren der Zwang bestehe, seinen Vorstellungen vom „richtigen“ Geschlecht entsprechend zu leben (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 TSG) und dieses Zugehörigkeitsgefühl mit hoher Wahrscheinlichkeit irreversibel ist (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 TSG). Wenn in einer solchen Situation jetzt plötzlich die weiteren Maßnahmen zur Fortsetzung der Transition nicht mehr von der GKV erbracht werden könnten, wären wohl die wenigsten betroffenen Personen in der Lage, aus eigenen Mitteln diese Maßnahmen zu finanzieren und könnten die Transition nicht fortführen, was für sie mit Sicherheit eine unzumutbare Belastung bedeuten würde. Gerade vor dem Hintergrund, dass die Entscheidung des BSG einen Bruch mit einer jahrzehntelangen Rechtsprechung bedeutet, auf die sich die Betroffenen eingerichtet hatten, muss es ausreichen, wenn überhaupt mit der Transition begonnen worden ist und die jetzt beantragten Maßnahmen sich als Fortsetzung dieser Transition darstellen, auch wenn nicht im Vorhinein alle Behandlungsschritte feststanden.
Die weitere Frage ist, nach welchen Kriterien die Erforderlichkeit geschlechtsangleichender Maßnahmen zu beurteilen ist. Der Medizinische Dienst ist hier von der – für ihn verbindlichen – nach § 283 Abs. 2 Nr. 2 SGB V erlassenen Begutachtungsanleitung „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus (ICD-10, F64.0)“ (BGA_Transsexualismus_201113.pdf, zuletzt abgerufen am 28.03.2025) ausgegangen. Diese fußt auf der bisherigen Rechtsprechung des BSG und übernimmt damit Forderungen, die das BSG jetzt als wissenschaftlich überholt ansieht. Dies gilt bereits für die Erforderlichkeit einer Diagnosestellung F64.0; diese wird in der aktuellen S3-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: Diagnostik, Beratung und Behandlung“ vom 22.02.2019 (S3-Leitlinie), auf die sich auch das BSG gestützt hat, als international überholt bezeichnet. Der ICD-11, der in Deutschland schon seit Januar 2022 vorliegt, dessen Einführung zur Morbiditätskodierung in Deutschland nach dem BfArM aber noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, sieht jetzt als Diagnose Geschlechtsinkongruenz (engl.: Gender Incongruence) vor und wird einem separaten Kapitel außerhalb des Bereichs psychischer Störungen zugeordnet (HA60: Geschlechtsinkongruenz in der Jugend oder im Erwachsenenalter). Der ICD-11 geht davon aus, dass bereits die Inkongruenz zwischen Geschlecht und den primären bzw. sekundären Geschlechtsmerkmalen als solche den Störungswert ausmacht. Allerdings ist nach § 295 Abs. 1 Satz 2 SGB V der ICD-10 bis zur Bekanntmachung der aktuellen Version anzuwenden (§ 295 Abs. 1 Satz 6 SGB V). Der Umstand, dass die Version ICD-10 wegen der Komplexität der Integration des ICD-11 in das deutsche Gesundheitswesen weiter für die Abrechnung ärztlicher Leistungen und im Rahmen des Risikostrukturausgleichs anzuwenden ist, kann aber nicht bedeuten, dass dann weiter nur Leistungen nach Maßstäben einer überholten Diagnosestellung zu erbringen sind. Versicherte haben nach § 295 Abs. 1 Satz 3 SGB V Anspruch auf Leistungen nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft – und der ICD-10 gibt diesen Stand nicht wieder.
Auch soweit hier der Medizinische Dienst entsprechend der BGA (S. 18) als Voraussetzung für die geschlechtsangleichenden Operationen eine Psychotherapie von mindestens 12 Sitzungen á 50 Minuten gefordert hat, entspricht dies nicht der S3-Leitlinie. Diese formuliert Psychotherapie nicht als Voraussetzung für körpermodifizierende Maßnahmen, sondern stellt nur fest, dass Psychotherapie zur Minderung der Geschlechtsdysphorie (z.B. durch eine Förderung der Selbstakzeptanz, der Bewältigung negativer Gefühle und eine Unterstützung bei der Identitätsentwicklung) beitragen kann. Sie wendet sich aber ausdrücklich dagegen, dass Psychotherapie als Voraussetzung für körpermodifizierende Behandlungen gesehen werden solle (S3-Leitlinie Abschnitt 5.2). Obwohl sich die BGA auch auf die S3-Leitlinie bezieht, gibt sie insoweit nicht den wissenschaftlichen Stand wieder. Sie zitiert dazu Aussagen des BSG in früheren Entscheidungen, in denen in der Tat vom Vorrang psychiatrischer/psychotherapeutischer Behandlungen vor körpermodifizierenden Maßnahmen ausgegangen worden war (BSG, Urt. v. 10.02.1993 - 1 RK 14/92; BSG, Urt. v. 11.09.2012 - B 1 KR 3/12 R). Diese Rechtsprechung hat aber das BSG aufgegeben, so dass sich die BGA nicht mehr auf diese Forderung berufen kann. Nach den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen kann nur darauf abgestellt werden, ob die Geschlechtsinkongruenz zu einem klinisch relevanten Leidensdruck führt, der nach medizinischer Einschätzung nur durch körpermodifizierende Behandlungen erfolgreich behandelt werden kann, ohne dass zuvor durch eine erfolglose psychotherapeutische Behandlung der „Beweis“ für die Erforderlichkeit somatischer Maßnahmen erbracht werden müsste. Grundsätzlich kann die BGA nicht mehr 1:1 angewandt werden, sondern es muss überprüft werden, ob die dort genannten Voraussetzungen für geschlechtsangleichende Operationen dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen, der sich insbesondere aus der S3-Leitlinie ergibt (vgl. BSG, Urt. v. 22.06.2023 - B 2 U 11/20 R).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Da bis zu einer Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses Ansprüche auf geschlechtsangleichende Maßnahmen nur in Betracht kommen, wenn der betroffenen Person Vertrauensschutz zuzubilligen ist, sind die Sozialgerichte vor die Aufgabe gestellt, die Voraussetzungen für einen Vertrauensschutz zu konkretisieren. Verlangt man mit dem BSG, dass die fragliche Maßnahme bereits Teil des Behandlungsplanes einer bereits begonnenen Transitionsbehandlung ist, dürfte der Vertrauensschutz in der Praxis kaum in einer größeren Zahl von Fällen in Betracht kommen.
Eine großzügigere Anwendung wäre angemessener. Wie bereits ausgeführt, durften die Betroffenen von einer über Jahre bestehenden Rechtsprechung ausgehen und ihr Handeln danach ausrichten. Von daher sollte allen Personen, die vor dem Urteil vom 19.10.2023 sich zu einer Transition entschlossen und diesen Entschluss bereits durch die Beantragung von geschlechtsangleichenden Behandlungsmaßnahmen bei der Krankenkasse bekundet haben, Vertrauensschutz eingeräumt werden, weil sie zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen durften, dass sie diese Maßnahmen in Anspruch nehmen können. Wäre es zumutbar, wenn sie nach einer – informiert getroffenen – Entscheidung für eine Transition diesen Wunsch nach Erreichen eines dem gewünschten Geschlecht entsprechenden Körperbildes nun mangels eigener finanzieller Mittel nicht mehr erfüllen könnten?



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