Keine Bildung einer fiktiven Gesamtstrafe im KostenstundungsaufhebungsverfahrenLeitsätze 1. Im Beschwerdeverfahren ist die Zivilkammer nicht befugt, selbst über die Übertragung eines in die originäre Zuständigkeit des Einzelrichters fallenden Beschwerdeverfahrens zu entscheiden (Festhaltung BGH, Beschl. v. 21.09.2017 - IX ZB 84/16 - NZI 2017, 991 Rn. 11; BGH, Beschl. v. 22.11.2018 - IX ZB 14/18 - NZI 2019, 139 Rn. 10). 2. Bei Verurteilung des Schuldners zu einer Gesamtstrafe wegen einer oder mehrerer Straftaten nach den §§ 283 bis 283c StGB und anderer Straftaten kann weder im Kostenstundungsaufhebungsverfahren noch im Versagungsverfahren eine „fiktive“ Gesamtstrafe allein aus den Verurteilungen wegen der Straftaten nach den §§ 283 bis 283c StGB durch das Insolvenzgericht gebildet werden. - A.
Problemstellung Ein Schuldner, dem die Verfahrenskosten gestundet wurden, kann nicht darauf vertrauen, dass die Stundung sich das gesamte Insolvenzverfahren bzw. sogar später noch in der Restschuldbefreiungsphase hindurchzieht. Es gibt Ausschlussgründe für die Stundung, die auch bei bewilligter Stundung im Nachgang zur Aufhebung der Stundung führen, wenn sich herausstellt, dass die Voraussetzungen für die Stundung nicht vorlagen, da der Schuldner vorsätzlich oder grob fahrlässig Ausschlussgründe verschwiegen hat, § 4c Nr. 1 InsO. So soll ein Schuldner nicht in den Genuss der Stundung kommen bzw. diese ihm wieder ex nunc entzogen werden, wenn er fünf Jahre vor oder nach Insolvenzantragstellung wegen einer Straftat nach den §§ 283 bis 283c StGB rechtskräftig zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen oder Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten verurteilt wurde. Es gibt jedoch Schuldner, die nicht nur z.B. wegen Bankrotts nach § 283 InsO, sondern zugleich wegen anderer insolvenznaher Straftaten wie z.B. Insolvenzverschleppung oder wegen Betrugs verurteilt wurden. Bei tatmehrheitlicher Begehung bildet das Strafgericht eine Gesamtstrafe. Auf welche Strafhöhe hat nun das Insolvenzgericht abzustellen bei der Beurteilung, ob die Erheblichkeitsschwelle nach § 290 Abs. 1 Nr. 1 InsO vorliegt? Ist auf die Einzelstrafe für die Katalogtat abzustellen, auf die Gesamtstrafe oder hat das Insolvenzgericht etwa selbst eine fiktive Gesamtstrafe zu bilden? Gibt das Gesetz eine eindeutige Lösung vor oder finden sich in den Gesetzesmaterialien dazu Vorgaben?
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Das AG Deggendorf hatte die Stundung der Verfahrenskosten aufgehoben, nachdem der Schuldner im Stundungsantrag eine Verurteilung wegen Bankrotts vorsätzlich oder grob fahrlässig verschwiegen hatte. Der Schuldner war etwa sieben Monate vor Stellung des Insolvenzantrags wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung in Tatmehrheit mit vier tatmehrheitlichen Fällen des Bankrotts zu einer Gesamtgeldstrafe i.H.v. 180 Tagessätzen verurteilt worden. Für die Insolvenzverschleppung wurde eine Einzelstrafe von 130 Tagessätzen und für die vier Fälle des Bankrotts jeweils 70 Tagessätze als Einzelstrafe angesetzt. Im Stundungsantrag hatte der Schuldner angegeben, dass er in den letzten fünf Jahren vor dem Insolvenzantrag oder danach nicht wegen einer Straftat nach den §§ 283 bis 283c StGB rechtskräftig zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen oder einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten verurteilt worden war. Der Schuldner begründete die gegen diesen Aufhebungsbeschluss eingelegte sofortige Beschwerde damit, dass das Amtsgericht zu Unrecht eine fiktive Gesamtstrafe gebildet habe. Das Beschwerdegericht hatte nach Nichtabhilfe durch das Amtsgericht die sofortige Beschwerde zurückgewiesen. Auf die Rüge des Schuldners, dass entgegen der Anregung der Zulassung der Rechtsbeschwerde keine dahin gehende Entscheidung getroffen wurde, legte die Einzelrichterin des Beschwerdegerichts mit einer Vorlageverfügung der Zivilkammer die Sache zur Übernahme vor. Die Zivilkammer hat das Verfahren übernommen und die Rechtsbeschwerde zugelassen. Auf die Rechtsbeschwerde des Schuldners hin hat der BGH die Entscheidung des Beschwerdegerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht, konkret den Einzelrichter, zurückverwiesen. Der BGH sieht zum einen einen Verfahrensverstoß, indem die Einzelrichterin selbst hätte entscheiden müssen, ob das Verfahren auf die Kammer übertragen wird und nicht lediglich im Verfügungswege die Sache zur Prüfung der Übernahme der Kammer hätte vorlegen dürfen. Zum anderen sieht der BGH die Aufhebung der Verfahrenskostenstundung als nicht gerechtfertigt an, da die Erheblichkeitsschwelle des § 290 Abs. 1 Nr. 1 InsO nicht vorgelegen habe. Der BGH folgt nicht der Ansicht des Beschwerdegerichts bzw. im Schrifttum, dass das Insolvenzgericht hinsichtlich der einbezogenen oder einzubeziehenden Insolvenzstraftaten eine fiktive Gesamtstrafe zu bilden habe. Vielmehr sei allein auf die tatsächlich verhängten Einzelstrafen abzustellen. Der BGH begründet neben dem Wortlaut des § 290 Abs. 1 Nr. 1 InsO diese Rechtsansicht im Wesentlichen mit den Gesetzesmaterialien, wonach das Insolvenzgericht nicht selbst mit der Aufgabe belastet werden sollte, die Voraussetzungen einer Straftat nachzuprüfen, und mit dem Aspekt der Rechtssicherheit. Für den Schuldner würde es eine erhebliche Rechtsunsicherheit darstellen, wenn er bei Abgabe des Kostenstundungsantrags nicht sicher wisse, wie das Insolvenzgericht die fiktive Gesamtstrafe bemesse.
- C.
Kontext der Entscheidung Die Entscheidung des BGH befasst sich mit zwei Aspekten: Der eine betrifft vom Kern her nicht das Insolvenzrecht, sondern die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Spruchkörpers beim Beschwerdegericht. Die Rechtsbeschwerdevorlage an den BGH ist nicht vom gesetzlichen zuständigen Richter erfolgt. Die Einzelrichterin hätte selbst im Beschlusswege das Verfahren an die Kammer übertragen müssen, da die angefochtene Entscheidung vom Rechtspfleger getroffen wurde, § 568 Satz 2 ZPO. Die Kammer war daher nicht entscheidungsbefugt mangels wirksamer Übertragung, so dass die Entscheidung unter Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erging und daher wegen des Verfahrensfehlers schon keinen Bestand haben konnte. Der andere Aspekt betrifft die Frage, wie das Insolvenzgericht die Erheblichkeitsschwelle i.S.d. § 290 Abs. 1 Nr. 1 InsO bei Verurteilung zu mehreren tatmehrheitlichen begangenen Straftaten zu beurteilen hat.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Für den Schuldner bedeutet die Entscheidung des BGH Rechtssicherheit. Er kann sich darauf verlassen, dass die ausgeworfenen Einzelstrafen nicht nachträglich im Wege einer fiktiven Gesamtstrafe neu vom Insolvenzgericht bewertet werden. Auch führt die Entscheidung des BGH zu einer Arbeitserleichterung für die Insolvenzgerichte. Das Insolvenzgericht kann 1:1 die Einzelstrafen zugrunde legen und muss nicht selbst zum Strafrichter werden und die Strafzumessung nicht neu insolvenzrechtsbezogen vornehmen. Eine fiktive Gesamtstrafe würde die Rechtskraft erheblich wackelig erscheinen lassen und auch das Vertrauen in die Rechtspflege untergraben. Ein Schuldner, der vorausschauend denkt, wird daher versuchen, bei der strafgerichtlichen Verurteilung seine Verteidigung dahin gehend auszurichten, dass zumindest die Einzelstrafen für die Katalogtaten des § 290 Abs. 1 Nr. 1 StGB unter 90 Tagessätzen bzw. drei Monaten Freiheitsstrafe bleiben.
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