juris PraxisReporte

Anmerkung zu:OLG Schleswig 5. Senat für Familiensachen, Beschluss vom 14.06.2024 - 15 UF 8/24
Autor:Frank Götsche, RiOLG
Erscheinungsdatum:24.06.2025
Quelle:juris Logo
Norm:§ 1696 BGB
Fundstelle:jurisPR-FamR 13/2025 Anm. 1
Herausgeber:Andrea Volpp, RA'in und FA'in für Familienrecht
Franz Linnartz, RA und FA für Erbrecht und Steuerrecht
Zitiervorschlag:Götsche, jurisPR-FamR 13/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Abänderung einer Sorgerechtsentscheidung wegen verändertem Kindeswillen



Leitsätze

1. Die Regelung des § 1696 Abs. 1 Satz 1 BGB stellt im Interesse des Kindes aus Kontinuitätsgründen sicher, dass eine einmal getroffene Sorgerechtsentscheidung, obgleich sie nicht in materielle Rechtskraft erwächst, nicht beliebig und jederzeit, sondern erst nach Erreichen der genannten Änderungsschwelle modifizierbar ist (BVerfG, Beschl. v. 22.09.2014 - 1 BvR 2102/14 - FamRZ 2015, 208).
2. Gegen die Änderung einer einmal getroffenen Sorgerechtsentscheidung gemäß § 1696 Abs. 1 Satz 1 BGB sprechen regelmäßig das Kontinuitätsbedürfnis des Kindes sowie sein Interesse an einer Stabilität der Lebensverhältnisse. Jedoch können im Einzelfall die Gründe für eine Änderung so schwerwiegend sein, dass das Kontinuitäts- und Stabilitätsbedürfnis dahinter zurücktreten muss (OLG Frankfurt, Beschl. v. 16.10.2018 - 1 UF 263/17, zitiert nach juris).
3. Während der vom Kind geäußerte Wille bei kleinen Kindern vornehmlich Erkenntniswert hinsichtlich seiner persönlichen Bindungen hat, ist er mit zunehmendem Alter auch als Ausdruck der Entwicklung des Kindes zu einer eigenständigen Persönlichkeit bedeutsam (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.06.2008 - 1 BvR 311/08 - FamRZ 2008, 1737). Mit der Kundgabe seines Willens macht das Kind von seinem Recht zur Selbstbestimmung Gebrauch (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.05.2009 - 1 BvR 142/09 - FamRZ 2009, 1389) und mit zunehmendem Alter kommt dem Willen des Kindes vermehrt Bedeutung zu (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.09.2006 - 1 BvR 1827/06 - FamRZ 2007, 105; BVerfG, Beschl. v. 23.03.2007 - 1 BvR 156/07 - FamRZ 2007, 1078).



A.
Problemstellung
Unter welchen Voraussetzungen darf eine rechtskräftige Entscheidung über das elterliche Sorgerecht abgeändert werden?


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die geschiedenen Kindeseltern haben zwei Kinder. In 2014 übertrug das Familiengericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder auf die Kindesmutter, bei welcher die Kinder lebten. In 2017 änderte das Familiengericht dies ab und übertrug die gesamte elterliche Sorge für beide Kinder auf den Kindesvater. Die Kinder wechselten daraufhin in den väterlichen Haushalt.
In 2023 teilte der (mittlerweile 15jährige) Sohn S. dem Kindesvater mit, dass er nunmehr bei der Kindesmutter leben wolle und wechselte in den Haushalt der Kindesmutter. Die Kindesmutter beantragte daraufhin mit dem hiesigen Verfahren, ihr die elterliche Sorge für S. allein zu übertragen. Bei seiner Anhörung vor dem Amtsgericht und dem Oberlandesgericht sprach sich S. (der mittlerweile acht Monate bei der Mutter wohnt) jeweils zugunsten des Verbleibs bei seiner Mutter aus und äußerte zudem, dass sorgerechtliche Entscheidungen für ihn künftig von der Kindesmutter getroffen werden sollen.
Das OLG Schleswig hat den letzten familiengerichtlichen Beschluss abgeändert und die elterliche Sorge für S. der Kindesmutter zur alleinigen Ausübung übertragen.
Die Voraussetzungen des § 1696 Abs. 1 BGB für eine abändernde Entscheidung, insbesondere der triftige Grund, seien angesichts des von S. verfestigten, nachhaltig geäußerten und nachvollziehbar begründeten Wunsch, in den Haushalt der Kindesmutter zu wechseln, gegeben. Ein vom Kind bereits früher geäußerter, jedoch nachdrücklich wiederholter Änderungswunsch könne einen neuen, im Rahmen der nach § 1696 BGB zu treffenden Abwägung zu beachtenden neuen Umstand darstellen. Dies gelte insbesondere aufgrund des fortgeschrittenen Alters des S., dessen Willen damit erhöhte Bedeutung zukomme. Zudem sei der Senat nach der persönlichen Anhörung von S. und der Kindeseltern davon überzeugt, dass in der jetzigen Alters- und Lebensphase von S. der Erziehungsstil der Kindesmutter besser den Bedürfnissen von S. entspreche … (wird ausgeführt).


C.
Kontext der Entscheidung
Gemäß § 1696 Abs. 1 BGB ist eine Entscheidung zum Sorgerecht (erst dann) zu ändern, wenn dies aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt ist. Die Regelung stellt im Interesse des Kindes aus Kontinuitätsgründen (zwecks Stabilität der Lebensverhältnisse) sicher, dass eine einmal getroffene Sorgerechtsentscheidung, obgleich sie nicht in materielle Rechtskraft erwächst, nicht beliebig und jederzeit, sondern erst nach Erreichen der genannten Änderungsschwelle modifizierbar ist (BVerfG, Beschl. v. 22.09.2014 - 1 BvR 2108/14 - FamRZ 2015, 208). Bei der Änderungsfrage gewinnt somit der Stabilitätsaspekt besonderes Gewicht. Jedoch können im Einzelfall die Gründe für eine Änderung so schwerwiegend sein, dass das Kontinuitäts- und Stabilitätsbedürfnis dahinter zurücktreten muss (OLG Frankfurt, Beschl. v. 16.10.2018 - 1 UF 263/17).
Ein wesentliches Kriterium kann der von älteren Kindern geäußerte Wille sein. Entspricht der vom Kind geäußerte Wille unter Einbeziehung der übrigen Kindeswohlkriterien (insb. Erziehungsgeeignetheit der Eltern) dem Kindeswohl, ist der Wille zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschl. v. 27.11.2019 - XII ZB 511/18 - FamRZ 2020, 252; BGH, Beschl. v. 28.04.2010 - XII ZB 81/09 - FamRZ 2010, 1060; BVerfG, Beschl. v. 05.11.1980 - 1 BvR 349/80 - FamRZ 1981, 124; BVerfG, Beschl. v. 27.06.2008 - 1 BvR 311/08 - FamRZ 2008, 1737). Ein vom Kind bereits früher geäußerter, jedoch nachdrücklich wiederholter Änderungswunsch kann also einen neuen, im Rahmen der nach § 1696 BGB zu treffenden Abwägung zu beachtenden „triftigen Grund“ darstellen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Der im Sorgerechtsstreit (vermeintlich) „unterlegene“ Elternteil versucht zunehmend, schnellstmöglich eine Änderungsentscheidung „zu seinen Gunsten“ herbeizuführen. Wegen der damit verbundenen Belastungen für das Kind wendet die Rechtsprechung die Änderungsmöglichkeit des § 1696 BGB eher restriktiv an. Wünscht das Kind aber mittlerweile selbst eine Änderung, wird ein „triftiger Grund“ oftmals anzunehmen sein. Dies gilt jedenfalls bei älteren Kindern. Während der vom Kind geäußerte Wille bei kleinen Kindern vornehmlich Erkenntniswert hinsichtlich seiner persönlichen Bindungen hat, ist der geäußerte Wille mit zunehmendem Alter auch als Ausdruck der Entwicklung des Kindes zu einer eigenständigen Persönlichkeit bedeutsam (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.06.2008 - 1 BvR 311/08 - FamRZ 2008, 1737). Mit der Kundgabe seines Willens macht das Kind von seinem Recht zur Selbstbestimmung Gebrauch (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.05.2009 - 1 BvR 142/09 - FamRZ 2009, 1389) und mit zunehmendem Alter kommt dem Willen des Kindes vermehrt Bedeutung zu (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.09.2006 - 1 BvR 1827/06 - FamRZ 2007, 105; BVerfG, Beschl. v. 23.03.2007 - 1 BvR 156/07 - FamRZ 2007, 1078).
Eine feste Altersgrenze, ab der dem kindlichen Willen jedenfalls im Regelfall nachzukommen ist, existiert zwar nicht; dies ist kindesindividuell zu bestimmen (OLG Brandenburg, Beschl. v. 21.04.2022 - 9 UF 209/21 - NZFam 2022, 699). Jedoch wird mit Vollendung des 12. Lebensjahres der Kindeswille im Hinblick auf die Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf einen Elternteil oftmals eine relativ zuverlässige Entscheidungsgrundlage bilden (vgl. auch OLG Brandenburg, Beschl. v. 12.05.2015 - 10 UF 3/15 - MDR 2015, 1305).



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