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Anmerkung zu:BAG 7. Senat, Beschluss vom 22.05.2025 - 7 ABR 10/24
Autor:Prof. Dr. Burkhard Boemke, Universitätsprofessor, Academic counsel
Erscheinungsdatum:26.11.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 188 BGB, § 6 WO, § 1 BetrVG, § 11 BetrVG, § 9 BetrVG, § 9 WO
Fundstelle:jurisPR-ArbR 47/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Boemke, jurisPR-ArbR 47/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Nachfrist für Wahlvorschläge - Nicht genügend kandidierende Personen bei Betriebsratswahl



Orientierungssatz zur Anmerkung

Kandidieren innerhalb der Zweiwochenfrist nach § 6 Abs. 1 Satz 2 WO weniger Personen als nach § 9 BetrVG Betriebsratssitze zu besetzen sind, darf der Wahlvorstand keine Nachfrist gemäß § 9 Abs. 1 WO (analog) zur Einreichung weiterer Wahlvorschläge setzen.



A.
Problemstellung
Nach § 11 BetrVG ist ein Betriebsrat mit einer niedrigeren Betriebsgröße als gesetzlich in § 9 BetrVG vorgesehen zu wählen, wenn es im Betrieb nicht ausreichend wählbare Personen gibt. Diese Regelung findet nach der zutreffenden Rechtsprechung des BAG sinngemäß Anwendung, wenn nicht genug wählbare Personen zur Betriebsratswahl kandidieren (BAG, Beschl. v. 24.04.2024 - 7 ABR 26/23). In dieser Konstellation stellt sich die Frage, ob entsprechend § 9 Abs. 1 WO der Wahlvorstand zunächst einen Nachfrist zu setzen hat, um der Belegschaft die Möglichkeit zu geben, einen Betriebsrat in der gesetzlich vorgesehenen Größe zu wählen.
Der Siebte Senat des BAG bestätigt seine aktuelle Rechtsprechung (BAG, Beschl. v. 24.04.2024 - 7 ABR 26/23), wonach eine entsprechende Anwendung nicht in Betracht kommt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Betriebsratswahl. Unter Berücksichtigung der Zahl der beschäftigten Personen war ein Betriebsrat aus neun Personen zu wählen. Da bis zum maßgeblichen Termin nur eine Vorschlagsliste mit sechs Personen eingereicht worden war, setzte der Wahlvorstand am 23.12.2022 durch Aushang eine „Nachfrist zur Einreichung von Wahlvorschlagskandidaten BR-Wahl … gemäß § 9 Abs. 1 WO … von einer Woche (Ende 29.12.2022)“. Bis zum Ablauf der Frist wurden keine weiteren Personen vorgeschlagen. Die Betriebsratswahl wurde durchgeführt und ein Betriebsrat aus fünf Personen gebildet.
Die Arbeitgeberin hat die Wahl angefochten, unter anderem mit der Begründung, die Nachfrist zur Einreichung von Wahlvorschlägen sei zu kurz gewesen. Die Vorinstanzen gaben dem Wahlanfechtungsantrag statt. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats hatte Erfolg und führte zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.
II. 1. Mit dem Aushang am 23.12.2022 hätte die Nachfrist von einer Woche am 30.12.2022 (§ 188 Abs. 2 Alt. 1 (Woche) BGB geendet, zur Fristberechnung ausführlich Boemke in: BeckOGK, 01.10.2025, § 41 WO Rn. 10 ff.). Bei einer zu kurzen Frist für die Einreichung von Wahlvorschlägen kann grundsätzlich nie ausgeschlossen werden, dass bei zutreffender Frist Wahlvorschläge noch fristgerecht eingereicht worden wären (Boemke/Bendix in: BeckOGK, § 9 WO Rn. 37). Eine Wahlanfechtung ist daher bei einem derartigen Fehler grundsätzlich erfolgreich. Voraussetzung ist allerdings, dass die Setzung einer Nachfrist nach § 9 Abs. 1 WO erforderlich war. Eine unmittelbare Anwendung der Bestimmung scheidet vorliegend aus, weil Wahlvorschläge eingegangen waren.
2. Der Siebte Senat lehnt in Anknüpfung an seine Entscheidung vom 24.04.2024 (7 ABR 26/23 Rn. 55) eine entsprechende Anwendung dieser Bestimmung ab. § 9 Abs. 1 WO wolle vermeiden, „dass angesichts keiner einzigen fristgerecht eingereichten gültigen Vorschlagsliste eine Betriebsratswahl nicht stattfindet, worauf der Wahlvorstand hinzuweisen hat (§ 9 Abs. 1 Satz 2 WO). Die Annahme dieser Rechtsfolge bei erfolgloser Nachfristsetzung zur bloßen Gewinnung einer ‚ausreichenden‘ Zahl an Wahlbewerbern wäre inkonsistent“ (Rn. 18). Überdies fehle es an einem normativen Anknüpfungspunkt, in welchen Fällen eine Nachfristsetzung zu erfolgen habe. Es sei wenig einsichtig, dass bei einem Verstoß gegen die Sollvorschrift des § 6 Abs. 2 WO keine Nachfrist gesetzt werden müsse, während im ungeregelten Fall, in dem insgesamt weniger Personen kandidieren als dies für die gesetzliche Besetzung des Betriebsrats erforderlich ist, eine Nachfrist gesetzt werden soll.
Damit hat der Wahlvorstand zwar durch die Setzung der Nachfrist gegen wesentliche Wahlvorschriften verstoßen, weil damit die Zweiwochenfrist aus § 6 Abs. 1 Satz 2 WO, die nicht zur Disposition des Wahlvorstands steht, verlängert worden ist. Der Fehler hat aber das Wahlergebnis nicht beeinflusst, weil keine weitere Vorschlagsliste während dieser Zeit eingereicht und die Vorschlagsliste auch nicht erweitert worden ist.
Da das Landesarbeitsgericht von seinem Standpunkt aus zutreffend nicht auf weitere gegen die Wirksamkeit der Betriebsratswahl geltend gemachte Mängel eingegangen ist, wurde der Beschluss aufgehoben und die Sache zur neuen Anhörung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.


C.
Kontext der Entscheidung
I. Der Senat spricht sich, wie schon in seiner Entscheidung aus dem April 2024 und daher wenig überraschend, gegen eine analoge Anwendung von § 9 Abs. 1 WO in Fallgestaltungen aus, in denen zwar Wahlvorschläge eingereicht worden sind, sich aber im Hinblick auf die gesetzliche Größe des Betriebsrats nicht genügend wählbare Personen zur Kandidatur bereit erklärt haben. Ich habe mich sowohl in der Besprechung der Entscheidung aus dem April 2024 (Boemke, jurisPR-ArbR 38/2024 Anm. 1, unter C II) als auch an anderen Stellen (z.B. Boemke in: BeckOGK, § 11 BetrVG Rn. 36; Boemke/Bendix in: BeckOGK, § 9 WO Rn. 22) für eine analoge Anwendung unter ausführlicher Darstellung des Meinungstandes ausgesprochen. Hierauf soll verwiesen werden.
II. Soweit der Siebte Senat es für „inkonsistent“ hält, wenn ein Verstoß gegen § 6 Abs. 2 WO – zu Recht (Boemke in: BeckOGK, § 6 WO Rn. 68 f.) – ohne Folgen bleibt, aber ohne ausdrückliche Regelung in der Wahlordnung eine fehlende Nachfristsetzung, wenn nicht genügend Personen auf Vorschlagslisten kandidiert haben, zur Wahlanfechtung führen kann, betrachte ich dies etwas anders. Ein Verstoß gegen § 6 Abs. 2 WO muss ohne Folgen bleiben, weil andernfalls über die Wahlordnung in Abweichung von den Bestimmungen des BetrVG zusätzliche Voraussetzungen für die Ausübung des passiven Wahlrechts geschaffen würden. Wie das BAG, wenn auch in anderem Zusammenhang, zutreffend ausgeführt hat, können „ohne gesetzliche Verordnungsermächtigung … die Bestimmungen der WO als niederrangige Rechtsnormen gegenüber dem Gesetz weder zusätzliche materielle Voraussetzungen aufstellen noch von den gesetzlichen Anforderungen Ausnahmen zulassen.“ (BAG, Beschl. v. 02.08.2017 - 7 ABR 42/15 Rn. 22). Die WO darf daher keine zusätzlichen Erfordernisse für die Gültigkeit einer Vorschlagsliste aufstellen (BAG, Beschl. v. 29.06.1965 - 1 ABR 2/65, unter 2; Boemke in: BeckOGK, § 6 WO Rn. 67). Eine Abweichung von § 6 Abs. 2 WO kann wegen des Vorrangs des Gesetzes nicht zur Ungültigkeit von Vorschlagslisten führen, die weniger Bewerber aufweisen (LArbG Hannover, Beschl. v. 07.02.2024 - 8 TaBV 49/23 Rn. 28; Boemke in: BeckOGK, § 6 WO Rn. 67).
Die analoge Anwendung von § 9 Abs. 1 WO ist demgegenüber an der gesetzlichen Regelung über die Größe des Betriebsrats in Abhängigkeit von der Zahl der in der Regel beschäftigten (wahlberechtigten) Personen orientiert. In seiner Entscheidung vom April 2024 hat der Siebte Senat, wenn auch in anderem Zusammenhang, ausdrücklich und zutreffend formuliert: „Im Hinblick auf das der Betriebsverfassung zugrundeliegende Prinzip der Errichtung von Betriebsräten in betriebsratsfähigen Betrieben besteht eine planwidrige Regelungslücke, wenn weniger Arbeitnehmer für das Betriebsratsmandat kandidieren als es der gesetzlichen Zahl der Betriebsratsmitglieder entspricht.“ (BAG, Beschl. v. 24.04.2024 - 7 ABR 26/23 Rn. 37). Und weiter heißt es: „Mit der in § 9 BetrVG festgelegten Staffelung der Größe des Betriebsrats soll sichergestellt werden, dass die Zahl der Betriebsratsmitglieder in einem angemessenen Verhältnis zur Zahl der betriebsangehörigen Arbeitnehmer steht, deren Interessen und Rechte der Betriebsrat zu wahren hat. Die in der Organisationsvorgabe geregelte Abhängigkeit der Betriebsratsgröße von der Anzahl der in der Regel im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer trägt dem Umstand Rechnung, dass hiervon der Tätigkeitsaufwand des Betriebsrats maßgeblich bestimmt wird. Im Hinblick auf eine angemessene Interessenvertretung soll der Betriebsrat, je mehr Arbeit für ihn anfällt, desto mehr Mitglieder haben.“ (BAG, Beschl. v. 24.04.2024 - 7 ABR 26/23 Rn. 40). Auch dem stimme ich vollumfänglich zu. „Jegliche die Wahl regelnde Vorschriften sind daher so auszulegen, dass der Gesetzeszweck, Betriebsräte zu bilden, möglichst erreicht wird“ (BAG, Beschl. v. 24.04.2024 - 7 ABR 26/23 Rn. 38), und zwar möglichst so, dass er in der gesetzeskonformen Größe gewählt wird.
Dies bedeutet: Ehe der Versuch aufgegeben wird, einen Betriebsrat (in der gesetzlichen Größe) zu wählen, soll die Belegschaft eine zweite Chance bekommen. In den Fällen, in denen sich niemand zur Wahl bereit erklärt, hat sich der Verordnungsgeber für diese Lösung entschieden. Dies ist im Hinblick auf § 1 BetrVG, wonach „Betriebsräte gewählt“ werden, sachgerecht. Der Siebte Senat hat dies für die Bildung eines Betriebsrats nach dem Regelungsgehalt von § 11 BetrVG überzeugend begründet (BAG, Beschl. v. 24.04.2024 - 7 ABR 26/23 Rn. 30 ff.). Dies lässt sich m.E. auch darauf übertragen, dass ein Betriebsrat in der gesetzmäßigen Größe gewählt werden soll.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Rechtsfrage, wie zu verfahren ist, wenn innerhalb der Frist zur Einreichung von Wahlvorschlägen zwar Wahlvorschläge eingereicht werden, nicht aber genug Personen kandidieren, um die gesetzlich vorgesehene Zahl von Betriebsratssitzen (§ 9 BetrVG) zu besetzen, wird nochmals eindeutig vom BAG beantwortet. Es ist keine Nachfrist nach § 9 WO zur Einreichung weiterer Vorschlagslisten zu setzen. Das schafft für die bevorstehenden Betriebsratswahlen Rechtssicherheit.



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