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Anmerkung zu:EuGH 2. Kammer, Urteil vom 20.06.2024 - C-367/23
Autor:Prof. Dr. Wolfhard Kohte
Erscheinungsdatum:09.10.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 11 ArbSchG, § 3 ArbSchG, § 81 BetrVG, § 5 ArbMedVV, § 618 BGB, § 87 BetrVG, § 95 BetrVG, § 99 BetrVG, § 6 ArbZG, EGRL 88/2003
Fundstelle:jurisPR-ArbR 40/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Kohte, jurisPR-ArbR 40/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Pflicht zum Angebot von Gesundheitsuntersuchungen vor der Durchführung von Nachtarbeit



Orientierungssatz zur Anmerkung

Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der RL 2003/88/EG verpflichtet zum Angebot von Gesundheitsuntersuchungen. Bei Pflichtverstößen des Arbeitgebers hat das nationale Recht Schadensersatzansprüche zu gewährleisten.



A.
Problemstellung
Nachtarbeit ist typischerweise ungesund. Daher verlangt Art. 9 der RL 2003/88/EG entsprechende Schutzmaßnahmen. Als weitere Schutzmaßnahmen werden Rechte nach Art. 12 der Richtlinie verlangt. In der Praxis werden diese Schutzmaßnahmen nicht immer durchgeführt, daher hatte die Cour de cassation dem EuGH Fragen vorgelegt, wie die Sanktionen bei Verletzungen der Schutzvorschriften auszusehen haben. In Deutschland wurden die Antworten bereits erwartet (Gallner in: EuArbK, 5. Aufl. 2024, Art. 9 RL 2003/88 Rn. 1).


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
In der RL 2003/88/EG wird nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a verlangt, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit der Gesundheitszustand der Nachtarbeiter vor Aufnahme der Arbeit und danach regelmäßig unentgeltlich untersucht wird und dass Nachtarbeiter mit gesundheitlichen Schwierigkeiten soweit jeweils möglich auf eine Arbeitsstelle mit Tagarbeit versetzt werden, für die sie geeignet sind. Zu Sanktionen verhält sich die Richtlinie nicht.
Der Arbeitnehmer EA wurde vom Unternehmen Artemis am 01.04.2017 als Beschäftigter im Brandschutz- und Personenhilfedienst eingestellt. Wenige Zeit später wurde EA einseitig von Artemis auf einen Arbeitsplatz mit Nachtarbeit versetzt, ohne dass bei ihm eine medizinische Überwachung durchgeführt wurde. Mit Klageschrift zum 25.04.2019 verlangte er eine gerichtliche Auflösung des Arbeitsvertrages und eine Verurteilung von Artemis zur Zahlung von Schadensersatz. Mit diesen Anträgen war er in den ersten beiden Instanzen nicht erfolgreich. Das Berufungsgericht lehnte seinen Antrag ab, da er nicht nachgewiesen habe, dass und worin der Schaden bestehe, der ihm aufgrund der nicht erfolgten spezifischen medizinischen Überwachung entstanden sein sollte.
Im Revisionsverfahren vor der Cour de cassation berief sich EA darauf, dass als Rechtsfolge der Nichteinhaltung solcher Schutzbestimmungen ein Entschädigungsanspruch des Arbeitnehmers begründet sei, so dass die Klageabweisung gegen die Vorgaben der Richtlinie verstoße. Die Cour de cassation verlangte darauf mit zwei Fragen Aussagen des EuGH zur Reichweite von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und zu den Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs.
Die zweite Kammer des EuGH ging direkt auf die zweite Frage ein und wies darauf hin, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien Modalitäten festlegen müssten, die dem Äquivalenzgrundsatz entsprechen und dass die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert werden darf (Effektivitätsgrundsatz). Diese Rechte sind von den Mitgliedstaaten festzulegen, da die Richtlinie keine speziellen Regelungen zu Sanktionen bzw. zu Schadensersatz enthalte (EuGH, Urt. v. 25.11.2010 - C-429/09 - NZA 2011, 53 „Fuß II“).
Da die Vorlageentscheidung keine weiteren Informationen zur Einhaltung des Äquivalenzgrundsatzes enthielt, konzentrierte sich die Kammer auf den Effektivitätsgrundsatz. Im Ausgangspunkt hob sie hervor, dass die Verpflichtungen der jeweiligen Arbeitgeber bei Nachtarbeit in das nationale Recht umgesetzt werden müssen, so dass Beschäftigte die Erfüllung dieser Verpflichtungen verlangen können, indem sie sich ggf. auch an die nationale Behörde wenden, die für die Überwachung der Erfüllung dieser Verpflichtungen zuständig ist. Im Streitfall müsse ihnen der Rechtsweg offenstehen; die Ausübung des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtschutz trage zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Anspruchs eines Nachtarbeiters auf Schutzmaßnahmen bei. Zur Gewährleistung dieser Wirksamkeit trage es weiter bei, dass ein Nachtarbeitnehmer einen Ersatz erhält, durch den der durch diese Verstöße des Arbeitgebers tatsächlich entstandene Schaden in vollem Umfang ausgeglichen wird. Dieser Anspruch erhöhe insbesondere die Durchsetzungskraft der Schutzvorschriften und sei geeignet, von der Wiederholung rechtswidriger Verhaltensweisen abzuschrecken.
In Anbetracht der Ausgleichsfunktion des Schadensersatzanspruchs ist der vollständige Ersatz des tatsächlich entstandenen Schadens erforderlich, aber auch ausreichend. Strafschadensersatz in Form einer Entschädigung kann vom Mitgliedstaat normiert werden, wird jedoch von der Richtlinie nicht verlangt. Bei Überschreitung der Höchstarbeitszeiten, durch die den Beschäftigten eine Ruhezeit vorenthalten wird, ist von einem auszugleichenden Nachteil auszugehen (EuGH, Urt. v. 25.11.2010 - C-429/09 „Fuß II“, dazu Grüneberg/Kohte, AiB 2011, 625). Eine solche Typisierung des Nachteils könne jedoch nicht bei dem Unterlassen einer ärztlichen Überwachung angenommen werden. Das Fehlen einer Untersuchung allein führt noch nicht zu einem Schaden. Im individuellen Einzelfall könne jedoch eine Verschlechterung des Gesundheitszustands eintreten, die zu einem Schadensersatzanspruch führen kann. Die Kammer nutzte die Gelegenheit, auf eine in Deutschland bisher wenig beachtete Entscheidung zu Art. 12 der RL 2003/88/EG hinzuweisen, dass durch Nachtarbeit auch Stress mit spezifischen Belastungen auftreten kann (EuGH, Urt. v. 24.02.2022 - C-262/20, dazu Kohte, jurisPR-ArbR 48/2022 Anm. 1). Hier kann vom Mitgliedstaat auch die Verkürzung von Nachtarbeit als Schutzmaßnahme nach Art. 12 der RL normiert werden.


C.
Kontext der Entscheidung
Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der RL 2003/88/EG ist durch § 6 Abs. 3 ArbZG umgesetzt worden. Danach haben Arbeitnehmer einen Anspruch auf arbeitsmedizinische Untersuchungen; dieser Anspruch steht im Zusammenhang mit der von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b verlangten Umsetzung nach § 6 Abs. 4 ArbZG auf einen anderen Arbeitsplatz. Neben diesem Anspruch haben Beschäftigte nicht nur bei Nachtarbeit, sondern auch bei Schichtarbeit den allgemeinen Anspruch auf arbeitsmedizinische Wunschvorsorge nach § 11 ArbSchG. Aus dem Text des § 6 Abs. 3 ArbZG wird abgeleitet, dass Arbeitgeber die Kosten der Untersuchung nur dann zu tragen haben, wenn dem Arbeitnehmer keine Untersuchung durch einen Betriebsarzt angeboten wird. Mittelbar wird durch diese Regelung das Recht auf freie Arztwahl eingeschränkt, da es dem Arbeitnehmer unbenommen bleibt, einen Arzt seiner Wahl in Anspruch zu nehmen. Eine solche Einschränkung der Kostentragung ist Art. 9 Abs. 1 der RL 2003/88/EG nicht zu entnehmen. Sie kollidiert auch mit § 3 Abs. 3 ArbSchG, wonach die Kosten der Arbeitsschutzmaßnahmen nicht auf den Arbeitnehmer umgelegt werden dürfen (Habich in: HaKo-ArbSchR, 3. Aufl. 2023, § 6 Rn. 37 und Bücker, § 11 ArbSchG Rn. 21).
Die systematische Einordnung des Rechts auf eine Untersuchung nach § 6 Abs. 3 ArbZG bereitet in der deutschen Literatur beachtliche Schwierigkeiten. Einfach ist der Ausgangspunkt, dass es sich nach dem Vorbild von Art. 4 des ILO Übereinkommens 171 um ein Recht und nicht um eine Pflicht handelt (dazu nur Gallner in: EuArbK, Art. 9 RL 2003/88/EG Rn. 3; Anzinger/Koberski, ArbZG, 5. Aufl. 2020, § 6 Rn. 39). Schwieriger ist die Einordnung möglicher Pflichten des Arbeitgebers. In der Literatur wird teilweise die Parallele zur Wunschvorsorge gezogen und eine Pflicht zum Angebot solcher Untersuchungen abgelehnt (Lorenz in: HK-ArbZR, 2. Aufl. 2018, § 6 Rn. 53). Konsequent werden in einem Teil der Literatur jegliche Rechtsfolgen bei einer Untätigkeit des Arbeitgebers verneint (so z.B. Baeck/Deutsch/Winzer, ArbZG, 4. Aufl. 2020, § 6 Rn. 42). Das dürfte mit diesem EuGH-Urteil nicht vereinbar sein, in dem in Rn. 32 ein Schadensersatzanspruch verlangt wird, wenn der Arbeitgeber seinen Pflichten aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie nicht nachgekommen ist.
Umgekehrt wird in einem anderen Teil der Literatur ein Beschäftigungsverbot bis zum Vorliegen einer Untersuchung verlangt (Preis/Sagan/Ulber, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2019, Kap. 7.203; vgl. Schliemann, ArbZG, 4. Aufl. 2020, § 6 Rn. 46). Da es keine Untersuchungspflicht gibt, kann ein Beschäftigungsverbot zunächst nur bestehen, bis eine Untersuchung durch den Arbeitgeber angeboten worden ist. Dieses Verbot bleibt allerdings bestehen, wenn der Beschäftigte vom Untersuchungsrecht Gebrauch macht (Linnenkohl, ArbZG, § 6 Rn. 18). Dann besteht es bis zur Durchführung einer Untersuchung. Ob das Ergebnis dem Arbeitgeber mitgeteilt und eine Umsetzung auf einen Tagesarbeitsplatz verlangt wird, hängt von dem Verhalten des Beschäftigten ab. Dies spricht dafür, dass – ähnlich wie im französischen Recht – im Vorfeld eine Information über das Recht auf eine Untersuchung in unionsrechtskonformer Auslegung von § 81 BetrVG erfolgt (vgl. Buschmann/Ulber, ArbZR, 8. Aufl., § 6 ArbZG Rn. 35).
Die systematische Anlehnung an die Angebotsvorsorge nach § 5 ArbMedVV ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von § 6 Abs. 3 Satz 3 ArbZG (dazu Habich in: HaKo-ArbSchR, § 6 ArbZG Rn. 37). Sie entspricht auch dem Äquivalenzgrundsatz, weil auf diese Weise eine größere Klarheit und Transparenz für alle Beteiligten geschaffen wird. Damit ist bereits nach dem geltenden Recht § 6 Abs. 3 ArbZG als ein spezifischer Fall der Angebotsvorsorge einzuordnen. Die erforderliche Transparenz könnte durch eine Klarstellung in § 5 ArbMedVV erreicht werden.
Der EuGH verlangt hier zumindest Sanktionen, die einer Ausgleichsfunktion entsprechen; dies ist im deutschen Recht ein Schadensersatzanspruch. Die maßgebliche Norm dazu ist im deutschen Recht § 618 BGB, denn die Rechte auf arbeitsmedizinische Vorsorge gehören zu den Arbeitsschutzmaßnahmen i.S.d. § 618 BGB, so dass insoweit ein Schadensersatzanspruch nach § 618 Abs. 3 BGB in Betracht kommt. Die oft genannte Sperre des § 104 SGB VII dürfte hier in aller Regel nicht in Betracht kommen, weil die typischen Krankheiten und gesundheitlichen Beschwerden bei Nachtarbeit nicht mit dem Katalog der Berufskrankheiten übereinstimmen. In der Rechtsprechung zu § 618 BGB ist das Problem der Kausalität bereits früh beachtet worden. Das BAG hat hier entschieden, dass bei einem ordnungswidrigen Zustand der Arbeitgeber sich zu entlasten und darzulegen hat, dass hier keine Kausalität bei einer entsprechenden Krankheit vorliegt (BAG, Urt. v. 08.05.1996 - 5 AZR 315/95 - NZA 1997, 86; Nebe in: HaKo-ArbSchR, § 618 BGB Rn. 55). Dies ist in der Praxis z.B. bei Asbestfällen bereits konkretisiert worden, kann aber auch bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die durch Nachtarbeit eingetreten sind (dazu ASUmed 2006, 390), ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.
In der Rechtsprechung des BAG ist § 618 BGB auch als zentrale Norm zur Rechtsdurchsetzung bei Arbeitszeitproblemen anerkannt worden. So hat der Neunte Senat bereits im Jahr 2004 entschieden, dass eine Angestellte Unterlassung rechtswidriger Nachtarbeitsanordnungen mithilfe von § 618 BGB verlangen kann (BAG, Urt. v. 16.03.2004 - 9 AZR 93/03 - NZA 2004, 927, dazu Kohte, jurisPR-ArbR 36/2004 Anm. 1). Genauso wird auch § 618 BGB herangezogen, um den Anspruch gegen den Arbeitgeber auf die Realisierung arbeitsmedizinischer Vorsorge sicherzustellen (LArbG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 21.07.2016 - 21 Sa 51/16 Rn. 41). Es entspricht dem Effektivitätsgrundsatz, dass Beschäftigte den Anspruch auf Vorsorgeuntersuchungen vor und während der Nachtarbeit durchsetzen können. Ebenso kann sich der unionsrechtlich erforderliche Schadensersatzanspruch aus § 618 BGB ergeben, für den die schutzzweckbezogene Auslegung der Kausalität aus der Rechtsprechung des BAG herangezogen werden kann. Insoweit setzt das Urteil „Artemis Security“ die Rechtsprechung des EuGH zum Effektivitätsgrundsatz im Arbeitszeitrecht (dazu bereits Preis/Ulber, ZESAR 2011, 147, 154 ff.) fort.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Für die Praxis ist in Deutschland vor allem die Betriebsverfassung ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung dieser Ansprüche. Das Angebot der arbeitsmedizinischen Vorsorge muss rechtzeitig erfolgen. Die Ausgestaltung dieses Angebotes ist nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG regelbar, so dass auf diese Weise eine effektive Nutzung möglich ist (ausführlich Kohte, Die Gestaltung der arbeitsmedizinischen Vorsorge durch betriebliche Mitbestimmung, hbs-study 341, 2016; vgl. Bücker in: HaKo-ArbSchR, ArbMedVV Rn. 24).
In einem Fall, wie er dem EuGH vorgelegt wurde, wäre in Deutschland auch § 99 BetrVG zu beachten, denn die Versetzung von einer Arbeit in der Tagschicht in eine Schicht- und Nachtschichtarbeit ist, auch wenn sie vom Direktionsrecht erfasst wird, eine Versetzung i.S.d. § 95 Abs. 3 BetrVG, denn damit ist eine erhebliche Änderung der äußeren Arbeitsbedingungen verbunden (BAG, Beschl. v. 29.09.2020 - 1 ABR 21/19 Rn. 25), so dass der Betriebsrat zu beteiligen ist. Die Versetzung darf erst durchgeführt werden, wenn die erforderliche Untersuchung angeboten worden ist. Ist dies nicht der Fall, kann der Betriebsrat dieser Versetzung nach § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG widersprechen. Schließlich gilt auch in Deutschland das Recht der Beschäftigten, die Aufsicht einzuschalten. Darauf ist vom EuGH ausdrücklich hingewiesen worden. Dies hat auch zur Konsequenz, dass bei betrieblichen Revisionen durch die Aufsicht auch die Einhaltung von § 6 ArbZG zu kontrollieren ist und Beschäftigte und Betriebsrat sich an die Aufsicht wenden können.



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