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Anmerkung zu:LArbG Stuttgart 12. Kammer, Urteil vom 12.12.2024 - 12 Sa 25/24
Autor:Dr. Rüdiger Linck, Vizepräsident BAG a.D.
Erscheinungsdatum:25.06.2025
Quelle:juris Logo
Norm:§ 626 BGB
Fundstelle:jurisPR-ArbR 25/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Linck, jurisPR-ArbR 25/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Anhörung des Arbeitnehmers bei längerer Urlaubsabwesenheit - Arbeitgeberseitige Pflicht zur Kontaktaufnahme noch während des laufenden Urlaubs



Leitsätze

1.Soll der Kündigungsgegner vor dem Ausspruch einer beabsichtigten außerordentlichen Arbeitgeberkündigung angehört werden, muss dies innerhalb einer kurzen Frist erfolgen. Sie darf im Allgemeinen nicht mehr als eine Woche betragen und nur bei Vorliegen besonderer Umstände überschritten werden.
2. Sofern sich der Arbeitgeber die Möglichkeit zur außerordentlichen Kündigung offenhalten will, darf der Arbeitgeber auch in den Fällen einer längeren urlaubsbedingten Abwesenheit des Arbeitnehmers von mehr als drei Wochen nicht beliebig lang zuwarten, bis er versucht, mit dem Arbeitnehmer auch während des Urlaubs die erforderliche Sachverhaltsaufklärung durchzuführen. Dies wäre mit dem Normzweck des § 626 Abs. 2 BGB nicht zu vereinbaren. Der Arbeitgeber ist daher in den genannten Fällen nach Kenntnis der Kündigungsvorwürfe gehalten, den Arbeitnehmer zur Wahrung der Kündigungserklärungsfrist nach § 626 Abs. 2 BGB noch im laufenden Urlaub zu kontaktieren, um ihm Gelegenheit zu geben, hinreichend zeitnah zum Kündigungssachverhalt Stellung zu nehmen. Andernfalls versäumt der Arbeitgeber die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB mit der Folge der Rechtsunwirksamkeit der ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung.



A.
Problemstellung
Eine außerordentliche Kündigung hat nach § 626 Abs. 2 BGB innerhalb von zwei Wochen zu erfolgen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Beabsichtigt der Arbeitgeber eine Verdachtskündigung auszusprechen, hat er dem Arbeitnehmer vor der Kündigung unter Beachtung der Zwei-Wochen-Frist Gelegenheit zur Stellungnahme zu den verdachtsbegründenden Umständen zu geben. Die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers ist in diesem Fall notwendige Voraussetzung einer wirksamen Kündigung. Schwierigkeiten ergeben sich für den Arbeitgeber, wenn der Arbeitnehmer zum Anhörungszeitpunkt arbeitsunfähig ist oder Urlaub hat. Hier stellt sich die Frage, ob der Arbeitgeber während der Abwesenheit des Arbeitnehmers zu ihm Kontakt aufnehmen kann/muss oder ob er warten kann/muss, bis der Arbeitnehmer wieder zur Arbeit im Betrieb erscheint.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger war bei der Beklagten als Zugchef und Fachvermittler für Auszubildende beschäftigt. Nach dem auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbaren Tarifvertrag war der Kläger aufgrund seines Alters und seiner Betriebszugehörigkeit nicht mehr ordentlich kündbar. Mit Schreiben vom 19.07.2018 hatte die Beklagte den Kläger wegen des Versuchs der Installation eines Porno-Players auf seinem Diensthandy abgemahnt. Am 24.04.2023 war der Kläger als Zugchef gemeinsam mit dem Zugbegleiter, Herrn W., auf einer ICE-Fahrt im Dienst. Am 27.04.2023 erlangte die Beklagte in einem Gespräch mit Herrn W. Kenntnis von den seitens Herrn W. gegen den Kläger erhobenen Vorwürfen einer sexuellen Belästigung, die am 24.04.2023 erfolgt sein soll.
Der Kläger befand sich im Zeitraum vom 25.04.2023 bis einschließlich 01.05.2023 in Ruhezeit sowie unmittelbar im Anschluss hieran in der Zeit vom 02.05.2023 bis einschließlich 21.05.2023 im genehmigten Erholungsurlaub. Unmittelbar nach Rückkehr des Klägers aus dem Urlaub konfrontierte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 22.05.2023 mit dem Vorwurf der sexuellen Belästigung und der Möglichkeit einer Verdachtskündigung. In diesem Schreiben lud die Beklagte den Kläger für den 23.05.2023 zu einem verbindlichen Personalgespräch am Arbeitsplatz ein. An diesem Gespräch nahm sodann neben dem Kläger und seinem Vorgesetzten auch ein Betriebsratsmitglied teil. Nachdem sich der Kläger nur schriftlich zu den Vorwürfen äußern wollte, verlängerte die Beklagte die hierfür maßgebliche Äußerungsfrist auf Wunsch des Klägers bis zum 30.05.2023. Mit Schreiben vom 30.05.2023 wies der Kläger die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurück.
Nach Anhörung des Betriebsrats kündigte die Beklagte das zwischen ihr und dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 06.06.2023, zugegangen am selben Tag, außerordentlich fristlos sowie hilfsweise außerordentlich mit sozialer Auslauffrist zum 31.12.2023.
Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben, das LArbG Stuttgart hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Zur Begründung hat das Landesarbeitsgericht ausgeführt, die Kündigungen der Beklagten seien rechtsunwirksam, weil die Beklagte die Kündigungserklärungsfrist nach § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten habe. Sie habe bereits am 27.04.2023 Kenntnis von den seitens Herrn W. gegen den Kläger erhobenen Vorwürfen einer sexuellen Belästigung am 24.04.2023 erlangt. Der Lauf der Zwei-Wochen-Frist sei nicht durch die Ruhezeit und den sich hieran anschließenden Urlaub des Klägers bis zum 22.05.2023 gehemmt worden. Im Anschluss an die Rechtsprechung des BAG (Urt. v. 11.06.2020 - 2 AZR 442/19 Rn. 40) weist das Landesarbeitsgericht zunächst darauf hin, dass der Kündigungsberechtigte nach pflichtgemäßem Ermessen weitere Ermittlungen anstellen und den Betroffenen anhören könne, ohne dass die Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB zu laufen beginne, wenn er bislang nur Anhaltspunkte für einen Sachverhalt habe, der zur außerordentlichen Kündigung berechtigen könnte. Dies gelte allerdings nur so lange, wie er aus verständigen Gründen mit der gebotenen Eile Ermittlungen durchführe, die ihm eine umfassende und zuverlässige Kenntnis des Kündigungssachverhalts und der Beweismittel verschaffen sollen. Solle der Kündigungsgegner angehört werden, müsse dies innerhalb einer kurzen Frist erfolgen. Diese dürfe grundsätzlich nicht mehr als eine Woche betragen und könne nur bei Vorliegen besonderer Umstände überschritten werden.
Solche besonderen Umstände lägen nicht schon deshalb vor, weil sich der Kläger im Zeitraum vom 25.04.2023 bis einschließlich 21.05.2023 in Ruhezeit und Erholungsurlaub befunden habe. Die Beklagte sei zur Wahrung der Kündigungserklärungsfrist nach § 626 Abs. 2 BGB gehalten gewesen, den Kläger noch im laufenden Urlaub zu kontaktieren, um ihm Gelegenheit zu geben, hinreichend zeitnah zu den Vorwürfen der sexuellen Belästigung Stellung zu nehmen und aus seiner Sicht relevante Entlastungstatsachen vorzutragen. Sie hätte nicht bis zur Urlaubsrückkehr des Klägers am 22.05.2023 zuwarten dürfen, um ihn für den Folgetag zu einem Personalgespräch zu bitten. Auf eine rein schriftliche Anhörungsmöglichkeit des Klägers habe sich die Beklagte nicht verweisen lassen müssen. Sie habe vielmehr eine Anhörung des Klägers im Rahmen eines Personalgesprächs gegenüber einer rein schriftlichen Anhörung im Lichte der Umstände für die gebotene Sachverhaltsaufklärung als erfolgversprechender und damit als zweckmäßiger und vorzugswürdig halten dürfen. Die schlichte Untätigkeit der Beklagten habe den Beginn des Laufs der Kündigungserklärungsfrist bis zum Ablauf des Urlaubszeitraums nicht gehemmt. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die urlaubsbedingte Abwesenheit des Arbeitnehmers – wie im vorliegenden Fall – im Zeitpunkt der Kenntniserlangung des Arbeitgebers von den maßgeblichen Kündigungsgründen noch einen im rechtlichen Sinne erheblich langen Zeitraum fortdauere.
Anknüpfend an die Rechtsprechung des BAG zur Kontaktaufnahme mit einer arbeitsunfähig erkrankten Zeugin wegen der Entbindung von einer Vertraulichkeitsvereinbarung (BAG, Beschl. v. 27.06.2019 - 2 ABR 2/19 Rn. 34) und die Rechtsprechung zu den Fällen einer krankheitsbedingten Abwesenheit, in der ein Zeitraum von drei Wochen als noch ausreichend angesehen und nicht beanstandet worden ist (BAG, Urt. v. 11.06.2020 - 2 AZR 442/19 Rn. 51), geht das Landesarbeitsgericht davon aus, dass der Arbeitgeber auch in den Fällen einer längeren urlaubsbedingten Abwesenheit des Arbeitnehmers von mehr als drei Wochen gehalten ist, nach Kenntnis der Kündigungsvorwürfe bereits innerhalb des laufenden Urlaubs an den Arbeitnehmer heranzutreten, um zu klären, ob dieser willens und in der Lage ist, ungeachtet seiner urlaubsbedingten Abwesenheit an der gebotenen Sachaufklärung mitzuwirken. Andernfalls – wie im Streitfall – versäume der Arbeitgeber die Frist des § 626 Abs. 2 BGB mit der Folge der Rechtsunwirksamkeit der ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung.


C.
Kontext der Entscheidung
Das LArbG Stuttgart führt die Rechtsprechung des BAG zur Hemmung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB bei krankheitsbedingter Abwesenheit des Arbeitnehmers und dem Erfordernis einer Anhörung des Arbeitnehmers vor Ausspruch der Kündigung fort. Diese Rechtsprechung ist sehr einzelfallbezogen. Sie ist ersichtlich von dem anerkennenswerten Bemühen getragen, einen sachgerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Arbeitnehmers an einer ungestörten Genesung und einem nicht durch unangenehme Nachrichten beeinträchtigten Erholungsurlaub einerseits und dem Interesse des Arbeitgebers an einer klaren Linie zur Einhaltung formaler Kündigungsanforderungen andererseits zu entwickeln (zur Anhörung im Rahmen der Aufklärungsobliegenheit vor einer Verdachtskündigung Henssler in: MünchKomm BGB, 9. Aufl. 2023, § 626 Rn. 282; Linck in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 20. Aufl. 2023, § 127 Rn. 139, jeweils m.w.N.). Dieser Ausgleich gelingt allerdings nicht zufriedenstellend, weil auch die vom Landesarbeitsgericht im Anschluss an die Rechtsprechung des BAG angenommenen Grenze von drei Wochen keineswegs als „Regelfrist“ angesehen werden kann und nicht klar ist, welche Umstände des Einzelfalls zu einer Verkürzung oder Verlängerung dieser Frist führen können.
Berücksichtigt man, dass § 626 Abs. 2 BGB ein gesetzlich konkretisierter Verwirkungstatbestand ist, der auf der Erwägung beruht, dass bei noch längerem Hinauszögern der Kündigung eine Unzumutbarkeit, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, nicht angenommen werden kann, und zudem der andere Teil in angemessener Zeit Klarheit darüber erhalten soll, ob von der Kündigungsmöglichkeit Gebrauch gemacht wird (BAG, Urt. v. 26.09.2013 - 2 AZR 741/12 Rn. 23), darf die Kündigungserklärungsfrist nicht ohne Not verlängert werden. Dies könnte dafürsprechen, dem Arbeitgeber generell aufzugeben, den Arbeitnehmer auch während des Urlaubs oder während der Arbeitsunfähigkeit zu kontaktieren und zu einer Stellungnahme zu den Vorwürfen aufzufordern. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass das BAG bereits entschieden hat, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auch während einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit anweisen kann, zu einem Personalgespräch in den Betrieb zu kommen, wenn hierfür ein dringender betrieblicher Anlass besteht, der einen Aufschub der Weisung auf einen Zeitpunkt nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit nicht gestattet, und die persönliche Anwesenheit des Arbeitnehmers im Betrieb dringend erforderlich ist und ihm zugemutet werden kann (BAG, Urt. v. 02.11.2016 - 10 AZR 596/15 Rn. 33 f.).
Legt man dies zugrunde, spricht alles dafür, dass der Arbeitgeber im Falle einer ernsthaft in Betracht gezogenen außerordentlichen Kündigung den Arbeitnehmer auch während der Arbeitsunfähigkeit und des Urlaubs zu den Kündigungsvorwürfen anhören kann und muss. Hierfür besteht ein dringender Anlass, weil § 626 Abs. 2 BGB ein klares Fristenregime vorgibt. Das Interesse des Arbeitnehmers, in dieser Zeit nicht vom Arbeitgeber behelligt zu werden, hat hinter dem Zweck des § 626 Abs. 2 BGB, innerhalb der Zwei-Wochen-Frist Klarheit darüber erhalten, ob von der Kündigungsmöglichkeit Gebrauch gemacht wird, zurückzutreten. Der Arbeitgeber hat daher innerhalb dieser Frist den Arbeitnehmer zu einer unverzüglichen mündlichen oder schriftlichen Stellungnahme aufzufordern. Dieser Zeitraum darf im Allgemeinen nicht mehr als eine Woche betragen (BAG, Urt. v. 25.04.2018 - 2 AZR 611/17 Rn. 51). Nur bei Vorliegen besonderer Umstände darf er überschritten werden. Dies verlangt ausgehend vom Zweck des § 626 Abs. 2 BGB eine restriktive Handhabung.
Besondere Umstände können vorliegen, wenn der Arbeitnehmer objektiv nicht in der Lage ist, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Das ist keineswegs bei jeder Erkrankung der Fall. Während des Urlaubs kann sich der Arbeitnehmer äußern. Lässt er die Gelegenheit verstreichen, kann und muss der Arbeitgeber kündigen. Nur wenn der Arbeitgeber weiß, dass der Arbeitnehmer objektiv nicht in der Lage ist, sich zu äußern, und eine Anhörung – wie bei der Verdachtskündigung – notwendige Kündigungsvoraussetzung ist, kommt eine weiter gehende Hemmung der Zwei-Wochen-Frist in Betracht. Aus Gründen der Rechtsklarheit und um dem Zweck des § 626 Abs. 2 BGB Rechnung zu tragen, dürfte in diesem Fall die Frist maximal noch einmal um zwei Wochen verlängert werden. Dann kann und muss der Arbeitgeber kündigen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts hat weitreichende Folgen für die Kündigungspraxis. Das Landesarbeitsgericht hat die entscheidenden Rechtsfragen klar herausgearbeitet und zu Recht die Revision zugelassen (Az. des BAG: 2 AZR 55/25). Man darf gespannt sein, ob der Zweite Senat die Gelegenheit ergreift, seine Rechtsprechung weiterzuentwickeln.



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