juris PraxisReporte

Anmerkung zu:LArbG Frankfurt 17. Kammer, Urteil vom 26.05.2025 - 17 SLa 1203/24
Autor:Dr. Jochen Sievers, Vors. RiLArbG
Erscheinungsdatum:10.12.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 4 TzBfG, Art 3 GG, EGRL 81/97
Fundstelle:jurisPR-ArbR 49/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Sievers, jurisPR-ArbR 49/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Überstundenzuschläge bei Teilzeitbeschäftigung



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Der Manteltarifvertrag Nr. 5b für das Cockpitpersonal, gültig vom 01.07.2010 bis zum 31.12.2017, ist dahin gehend auszulegen, dass Teilzeitbeschäftigte Mehrflugstundenzuschläge ab der ersten Stunde, in der die regelmäßige Arbeitszeit überschritten wird, beanspruchen können.
2. Hierfür ist u.a. maßgeblich, dass Tarifverträge so auszulegen sind, dass sie nicht in Widerspruch zu höherrangigen Recht stehen.
3. Eine tarifvertragliche Regelung, die für das Verdienen von Überstundenzuschlägen auch bei Teilzeitarbeit das Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit eines in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmers vorsieht, verstößt gegen das Verbot der Diskriminierung von in Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmern nach § 4 Abs. 1 TzBfG, wenn es an sachlichen Gründen für die Ungleichbehandlung fehlt.
4. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG vom 11.12.2024 (1 BvR 1109/21). Die dort zu Art. 3 Abs. 1 GG aufgestellten Grundsätze sind auf das vorliegende Verfahren nicht übertragbar.



A.
Problemstellung
In der Entscheidung geht es zunächst um die altbekannte Frage, ob tarifvertragliche Überstundenzuschläge bei Überschreitung der individuellen regelmäßigen Arbeitszeit oder auch für Teilzeitbeschäftigte erst ab Überschreitung der für Vollzeitbeschäftigte maßgeblichen regelmäßigen Arbeitszeit anfallen. Während diese Problematik durch die Rechtsprechung weitgehend geklärt ist, ist die Bestimmung der Rechtsfolgen seit der Entscheidung des BVerfG vom 11.12.2024 (1 BvR 1109/21) mit neuen Unsicherheiten verbunden.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin ist bei der beklagten Fluggesellschaft als Pilotin teilzeitbeschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand der Manteltarifvertrag Nr. 5b für das Cockpitpersonal, gültig in der Zeit vom 01.07.2010 bis zum 31.12.2017, aufgrund der beidseitigen Tarifbindung Anwendung. Die Beklagte zahlte der Klägerin in den Jahren 2016 und 2017 Mehrarbeitszuschläge erst ab Überschreitung der für vollzeitbeschäftigte Flugzeugführer maßgeblichen Regelarbeitszeit von 71 Stunden aus. Die Klägerin macht mit der Klage Zuschläge für 2016 und 2017 ab Überschreiten ihrer individuellen Arbeitszeit geltend. Die Klage war in den bisherigen Instanzen erfolgreich. Das Revisionsverfahren ist beim BAG unter dem Aktenzeichen 5 AZR 179/25 anhängig.
Das LArbG Frankfurt hat angenommen, der Anspruch ergebe sich aus tariflichen Bestimmungen, die im Sinne der Klägerin auszulegen seien. Dabei hat das Gericht u.a. auf den Grundsatz verwiesen, dass Tarifnormen so auszulegen seien, dass sie nicht in Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen. Eine Auslegung der tariflichen Bestimmungen dahin gehend, dass der „Pro-Rata-Temporis-Grundsatz“ keine Anwendung fände, würde gegen § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG und § 4 Nr. 1 RL 97/81/EG verstoßen, weil es sich um eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung wegen der Teilzeitbeschäftigung handle.
Dies gelte auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG vom 11.12.2024 (1 BvR 1109/21). Die dort zu Art. 3 Abs. 1 GG aufgestellten Grundsätze seien auf das vorliegende Verfahren nicht übertragbar. Denn im Streitfall sei – im Unterschied zum vom BVerfG entschiedenen Fall – ein unionsrechtlich determiniertes Diskriminierungsverbot und keine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG Gegenstand des Verfahrens.
Vor diesem Hintergrund hat das Gericht eine „Anpassung nach oben“ vorgenommen, weil es der Klägerin bei Überschreitung der für sie maßgeblichen regulären Arbeitszeit die tariflich vorgesehenen Zuschläge zugesprochen hat. Damit wird aus der Sicht des LArbG Frankfurt Gleichheit mit den vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern hergestellt, die ebenfalls bei Überschreitung der für sie maßgeblichen regulären Arbeitszeit Zuschläge beanspruchen können.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung stimmt bei der Behandlung des Themas „Überstundenzuschläge bei Teilzeitbeschäftigung“ mit der Rechtsprechung des BAG überein (BAG, Urt. v. 05.12.2024 - 8 AZR 370/20 mit Anm. Sievers, jurisPR-ArbR 18/2025 Anm. 1).
Der Achte Senat nimmt ebenfalls an, dass eine tarifvertragliche Regelung, die für das Verdienen von Überstundenzuschlägen auch bei Teilzeitarbeit das Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit eines in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmers voraussetze, in Teilzeit beschäftigte Arbeitnehmer wegen der Teilzeit schlechter als vergleichbare Vollzeitarbeitnehmer behandle. Sie verstoße gegen das Verbot der Diskriminierung von in Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmern nach § 4 Abs. 1 TzBfG, wenn es an sachlichen Gründen für die Ungleichbehandlung fehle.
Neu und von großer praktischer Bedeutung ist die vom LArbG Frankfurt kurz behandelte Frage, welche Folgen die Entscheidung des BVerfG vom 11.12.2024 (1 BvR 1109/21) für arbeitsgerichtliche Verfahren hat. Insbesondere die Ausführungen des BVerfG zum Grundsatz der „Anpassung nach oben“ haben für viel Diskussionsstoff gesorgt. Danach haben die Tarifparteien die „primäre Korrekturkompetenz“, wenn Gerichte eine tarifliche Regelung wegen eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz für unwirksam halten. Zur Sicherung dieser Primärkompetenz müssten die Gerichte die Verfahren ggf. aussetzen, um den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit zur – ggf. auch rückwirkenden – Korrektur des Tarifvertrages zu geben. Die Aussagen des BVerfG zu diesem Thema werden zu Recht als „lebensfremd“ kritisiert (Ulber, NZA 2025, 449, 453). Es ist kaum zu erwarten, dass die Tarifvertragsparteien eine Verständigung darüber erzielen, dass die Mitglieder der bevorzugten Gruppe die erhaltene Leistung an den Arbeitgeber zurückgeben müssen. Dies ist praktisch nur für die Zukunft möglich. An der Kompetenz der Tarifvertragsparteien, für die Zukunft rechtmäßige Regelungen zu vereinbaren, bestand auch zuvor kein Zweifel.
Das BAG hat dem BVerfG für die „europarechtlich überformten Diskriminierungsverbote“ ebenso wie zuvor schon mehrere Landesarbeitsgerichte und nunmehr auch das LArbG Frankfurt die Gefolgschaft verweigert. Es wird angenommen, dass der Grundsatz der „Anpassung nach oben“, von dessen Geltung der EuGH in seiner Rechtsprechung zum vorrangigen Europarecht ausgehe, für europarechtlich überformte Diskriminierungsverbote weiterhin maßgeblich sei (BAG, Urt. v. 13.11.2025 - 6 AZR 131/25; LArbG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 16.05.2025 - 12 Sa 1016/24 Rn. 82 ff.; LArbG Düsseldorf, Urt. v. 16.04.2025 - 9 SLa 431/24 Rn. 148; die jeweilige Revision ist beim BAG anhängig). Dies wird mit der Erwägung begründet, dass das BVerfG „nur“ zu dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG entschieden habe, der im Unterschied zu den europarechtlich überformten Diskriminierungsverboten keine Abschreckungsfunktion entfalte. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass der allgemeine Gleichheitssatz nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH zu „den tragenden Grundsätzen des Unionsrechts“ gehört (EuGH, Urt. v. 19.11.2024 - C-808/21 Rn. 97). Dies legt es nahe, dass auch bei einem Verstoß eines Tarifvertrages gegen den allgemeinen Gleichheitssatz europarechtlich regelmäßig eine Anpassung nach oben angezeigt ist. Abzuwarten bleibt, ob sich daraus ein Kompetenzkonflikt zwischen dem BAG, dem BVerfG und dem EuGH entwickelt.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung bestätigt die Rechtsprechung des BAG zu Überstundenzuschlägen bei Teilzeitbeschäftigten. Danach können Teilzeitbeschäftigte Überstundenzuschläge beanspruchen, sobald sie mehr als vereinbart arbeiten.
Noch nicht absehbar ist die endgültige Entwicklung der Rechtsprechung zu dem Thema „Anpassung nach oben“. Bisherige Entscheidungen aus der Arbeitsgerichtsbarkeit, die nach dem Beschluss des BVerfG ergangen sind, lassen allerdings schon jetzt die klare Tendenz erkennen, weitgehend an diesem Grundsatz, der im Übrigen auch schon vor der Entscheidung des BVerfG nicht schrankenlos galt (vgl. Sievers in: jurisPK-BGB, § 7 AGG Rn. 33 ff.), festzuhalten. Dies gilt auch bei einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG. Zumeist lässt sich die Gleichbehandlung für die Vergangenheit gar nicht anders herstellen.



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